Bei der Datierung der Evangelien gibt es mehrere Probleme, die meist nicht adressiert werden.
Es ist richtig, dass von der historisch-kritischen Methode der Theologie, die Evangelien auf die Zeit nach der Tempelzerstörung datiert werden. Der Grund ist nicht, wie oft fälschlich angenommen wird, dass hier per se eine Prophezeiung ausgeschlossen wird. Sondern der Umstand, dass ein Leser der damaligen Zeit die Textstelle nicht hätte verstehen können, wenn man nicht die Kenntnis über die Tempelzerstörung voraussetzt. D. h., damit für irgendeinen Leser der Text einen Sinn ergibt, muss der Leser wissen, dass der jüdische Tempel zerstört worden ist.
Damit kann man einen Eckpfeiler setzen: Die Evangelien können erst nach dem Jahr 72 geschrieben worden seien.
Die theologische Agenda setzt dann die Abfassung des Markusevangeliums auf die Zeit kurz nach dem Jahr 72. Das ist jedoch ein Fehler, denn man muss den zweiten Eckpfeiler betrachten, und das ist die Rezeptionsgeschichte der Evangelien. Die Evangelien wurden erst ab dem Jahr 150 bekannt, zunächst durch neun Zitate von Justin dem Märtyrer, die aus dem Markusevangelium zu stammen scheinen. Leider gibt Justin keine Quelle für die Zitate an. Wir wissen aber, dass Marcion etwa zu der Zeit eine Urfassung des Lukasevangeliums besessen haben muss. Damit ist der zweite Eckpfeiler die Mitte des 2. Jahrhunderts.
Ein Umstand, der nie erwähnt wird: Woher kommt es, dass ca. 80 Jahre lang niemand die Evangelien zur Kenntnis nahm? Nach dem Jahr 150 überschlagen sich die Christen mit Erwähnungen der Evangelien, davor kennt sie niemand. Justin der Märtyrer schreibt in seiner Biographie, die nach 150 erschien, dass er sich dem Christentum aus „philosophischen Gründen“ angeschlossen hat. Er bestreitet, dass er zu der Zeit bereits gewusst habe, dass es im Christentum um einen „gestorbenen und wieder auferstandenen Menschen“ ging. D. h., dass Justin vor dem Jahr 150 nichts von Jesus Christus und seiner Auferstehung gewusst hat. Quelle: Doherty, Earl. 2003. Das Jesus-Puzzle: basiert das Christentum auf einer Legende? Neustadt am Rübenberge: Lenz.
Es erinnert alles an ein Beispiel aus einer Physikvorlesung. Der Professor bittet einen Studenten, die Temperatur einer Flüssigkeit, in der ein Thermometer steht, abzulesen. Der Student antwortet mit „26 Grad“. Falsch, sagt der Professor. Die Temperatur der Flüssigkeit beträgt 26 Grad plus/minus Ablesefehler plus/minus Messfehler. Wenn wir annehmen, dass der Ablesefehler etwa ein Viertelgrad beträgt, und die Messgenauigkeit auch ein Viertelgrad, dann lautet die richtige Antwort: Die Flüssigkeit hat eine Temperatur zwischen 25,5 und 26,5 Grad.
Den gleichen Fehler finden wir bei der Datierung des berühmten Papyrus P52, der eine Textstelle aus dem Johannesevangelium enthält, und das Fragment ist etwa so groß wie ein Daumennagel. Das Alter wird nicht durch die Radiokarbonmethode bestimmt, sondern anhand der Schriftart. Dann bestimmt man das Alter auf 110. Aber auch da haben wir einen Messfehler, denn keineswegs wurde diese Schrift nur im Jahr 110 verwendet. Solche Methoden haben eine Genauigkeit von mindestens plus/minus 50 Jahren, also kann man nur datieren auf 60-160. Da das Johannesevangelium nach den synoptischen Evangelien entstanden ist, kann man 60-70 ausschließen.
Man kann also sagen, dass die Evangelien zwischen 70 und 150 entstanden sind, wenn man die Theologen beim Wort nimmt. Aber es gibt noch mehr Probleme:
Wie inzwischen nachgewiesen wurde, verstößt der Prozess gegen Jesus drastisch und mehrfach sowohl gegen römisches Recht als auch gegen jüdisches Recht. Zudem wurde der ganze Prozess von Josephus Flavius abgeschrieben, wie hier gezeigt wird: Cohn, Haim. The Trial and Death of Jesus . Old Saybrook, CT: Konecky & Konecky. Cohn, ehemaliger Verfassungsrichter von Israel, und Experte auf dem Gebiet der alten jüdischen Rechtsprechung, weist dies akribisch nach. Josephus beschreibt einen Prozess gegen einen Jesus ben Ananias, der die Zerstörung des jüdischen Tempels vorhergesagt (!) hat. Er wurde von den Juden verhaftet, die aber nichts fanden, was sie ihm vorwerfen konnten, er wiederholte immer nur „Wehe dem Tempel von Jerusalem!“. Schließlich überstellte der Sanhedrin Jesus ben Ananias den Römern, die ihn geißelten, um herauszufinden, was da vorging. Sie ließen ihn dann wieder laufen, da sie ihn für geisteskrank hielten. Jesus ben Ananias starb dann bei der Zerstörung des jüdischen Tempels, so berichtet Flavius, durch das Geschoß eines römischen Katapultes. Diese Geschichte wird bis in die Details von den Evangelisten kopiert.
Das Buch von Josephus Flavius erschien aber erst im Jahr 94. Wenn man die Zeit berücksichtigt, die damals die Verbreitung eines solchen Werkes dauert, kann man mit ziemlich großer Sicherheit sagen, dass die Evangelien erst im 2. Jahrhundert entstanden.
Es gibt noch einen Umstand, das verhindert, dass die Evangelien vor der Zerstörung des Tempels entstanden sein können. In den Evangelien wird erwähnt, dass Jesus in einigen Synagogen in Galiläa sich mit den Pharisäern stritt. Es gab vor der Zerstörung des Tempels in Galiläa aber keine Synagogen, die entstanden erst nach und nach, nachdem der Tempel zerstört wurde. Synagogen gab es nur nahe Jerusalem und in der Diaspora, weit vom Tempel entfernt. Als er noch existierte, gab es nur einen Ort, an dem Juden ihrem Gott huldigten – den Tempel in Jerusalem. Erst nach der Zerstörung bauten dann die Pharisäer auch im restlichen Israel Synagogen, und zwar nach einem deutlichen Muster. Alle Synagogen weltweit haben einen charakteristischen Aufbau, das Verhältnis von Länge und Breite, und die Ausrichtung hin zum (ehemaligen) Tempel, sowie eine innere Struktur. Ein Archäologe kann also bereits anhand eines Grundrisses entscheiden, ob ein Bau eine Synagoge ist oder nicht, denn es gibt keine Ausnahmen davon. Im ersten Jahrhundert gab es in Galiläa nur ein einziges Bauwerk, von dem man vermutet, dass es sich um eine Synagoge gehandelt haben könnte (was inzwischen aber wieder bestritten wird).
Als die Evangelien geschrieben wurden, muss es bereits massenhaft Synagogen im ganzen Land gegeben haben, und das war erst im 2. Jahrhundert der Fall.
Damit nicht genug: Radikalkritiker demonstrierten, dass sich die Worte von Jesus nicht auf die Zerstörung des Tempels bezogen, sondern auf den Bar-Kochba-Aufstand von 133-136 und der nachfolgenden Zerstreuung der Juden durch die Römer.
Damit können wir die Evangelien recht genau datieren, auf etwa 136-150, was erheblich mehr Sinn macht als ein 80 Jahre dauerndes Schweigen. Siehe dazu auch: Price, Robert M. 2000. Deconstructing Jesus . Amherst, N.Y.: Prometheus Books.
Auf Seite der meist kirchengebundenen Theologen will man die Evangelien so nahe wie möglich an die Zeit, in der Jesus gelebt haben soll, heranrücken – koste es, was es wolle. Nur dann kann man behaupten, dass da eine Tradition getreu wiedergegeben wurde. Aber inzwischen wurden so viele der Quellen der Evangelien gefunden, dass man sagen kann, dass die Evangelien noch ganz andere Geschichten nacherzählen. Beim Markusevangelium handelt es sich eindeutig um Midrash, siehe Miller, Dale, und Patricia Jayne Miller. 1990. The Gospel of Mark as Midrash on earlier Jewish and New Testament literature . Studies in the Bible and early Christianity, v. 21. Lewiston [N.Y.]: E. Mellen Press. Midrash ist ein damals gängiges Verfahren, mit dem man ältere Texte nahm und daraus neue formte. So geschehen bei dem Prozess gegen Jesus, in dem in den Evangelien nichts einen Sinn ergibt – bis man die Parallelen zu Josephus Flavius nimmt.
Leider haben wir die Originale der Evangelien nicht mehr. Die ältesten Evangelien stammen von Anfang des 4. Jahrhunderts (Codex Vaticanus) und der Mitte des 4. Jahrhunderts (Codex Sinaiticus). Was wir als Evangelien kennen basiert zumeist auf noch viel neueren Abschriften. Der Kanon, also die akzeptierten Schriften, wurde erst im 4. Jahrhundert festgelegt, daher haben bestehen die beiden erwähnten Codices auch aus unterschiedlichen Büchern. Einiges was wir aus der Bibel kennen findet sich weder im Codex Sinaiticus noch im Codex Vaticanus, etwa die bekannte Perikope mit der Ehebrecherin, die sich erst ab dem 7. Jahrhundert auffinden lässt. Auch das lange Ende des Markusevangeliums findet sich nicht in den älteren Schriften und wurde mit Sicherheit sehr viel später von einem anderen Autoren verfasst und hinzugefügt. Die Form der Bibel, die wir kennen, entstand erst im 15/16. Jahrhundert.
Daraus die Evangelien auf ein bestimmtes Jahr zu datieren ist mehr als nur abenteuerlich, es ist eine Irreführung der Gläubigen.
Ähnliche Probleme haben wir übrigens auch bei der Datierung der Paulusbriefe, die zum Teil Worte enthalten, die man erstmalig im 2. Jahrhundert überhaupt verwendet hat (etwa Bischof und Diakon). Daraus wurde geschlossen, dass alle Paulusbriefe Fälschungen von Marcion oder einen seiner Schüler waren: Detering, Hermann. 1995. Der gefälschte Paulus: das Urchristentum im Zwielicht . 1. Aufl. Düsseldorf: Patmos. Entdeckt wurden die Paulusbriefe übrigens erst im Jahr 150 durch Marcion, hier haben wir 100 Jahre, in denen niemand sonst diese kannte oder erwähnte.
Dass die Paulusbriefe massiv überarbeitet wurden, ist offensichtlich, siehe Price, Robert M. 2012. The amazing colossal apostle: the search for the historical Paul . Salt Lake City: Signature Books. In den Briefen wechseln sich zwei Autoren ab. Price vermutet, dass die Paulusbriefe teilweise tatsächlich aus älteren Quellen stammen, also aus dem ersten Jahrhundert, aber später von einem „katholischen Redakteur“ überarbeitet wurden. Man kann in fast allen als echt geltenden Paulusbriefe (sieben von 13, beim Rest handelt es sich um Fälschungen) zwei Autoren finden, die sich abwechseln, und die sich sowohl inhaltlich als auch stilistisch deutlich voneinander unterscheiden. Eines ist jedenfalls deutlich, der Ur-Paulus war Gnostiker, der von einem katholischen Redakteur (der vermutlich auch der Verfasser der Apostelgeschichte war) auf „katholisch“ getrimmt wurde. Schon Marcion beschwerte sich darüber, dass veränderte Fassungen der Paulusbriefe in Umlauf gekommen sind. Jedenfalls sieht es so aus, dass sowohl der Ur-Lukas, den Marcion noch hatte, von gnostisch auf katholisch „umfrisiert“ wurde, wie auch die Paulusbriefe, und Price hat Polykarb in Verdacht. In jedem Fall sind die Paulusbriefe teilweise Produkte des 2. Jahrhunderts.
Die Geschichte der Bibel, wie sie uns so oft erzählt wurde, muss neu geschrieben werden. Das hat Price schon gemacht:
Price, Robert M. 2017a. Holy Fable: The Epistles and the Apocalypse Undistorted by Faith .
———. 2017b. Holy Fable: The Gospels and Acts Undistorted by Faith .
———. 2017c. Holy Fable: The Old Testament Undistorted by Faith .