Könnte das helfen? Ein Artikel aus der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.
Nicht struktieriert und deshalb vielleicht ein bisschen schwer zu lesen. Aber es müsste gehen. HEAVENS ABOVE hilft auch weiter
Im Zwielicht
Der Tag geht, die Nacht kommt. Dazwischen liegt die Dämmerung: ein Wechsel ohne Schärfe, ein fliessender Übergang, eine Zeit der Unsicherheit.
Von Daniel B. Peterlunger
ALS SVEN MIT SEINEM SEXTANTEN kurz vor sieben endlich bereit war zum «Sterneschiessen», war es bereits zu spät. Es war dunkel geworden über dem Nordatlantik. Die Mitte der Sonne lag schon tief unter dem Horizont, am scheinbaren Meeresende. Die Zeit für Astronavigation, für präzise Sternmessungen, war vorbei.
Sven segelte allein auf seinem kleinen Schiff die lange Passage von Amerika zurück nach Europa. Er befand sich irgendwo westlich der Azoren, und gerne hätte er, einen Tag vor dem geplanten Zwischenhalt auf der Insel São Miguel, eine genaue Positionsbestimmung vorgenommen. Er wollte mit dem Sextanten den Winkel zwischen einem Stern und dem Horizont messen. Mit mehreren solchen «Schüssen» auf verschiedene Sterne hätte er seine genaue Position berechnen können. Aber damit das Ergebnis verlässlich war, musste die Winkelmessung stimmen. Und das ist nur möglich, wenn der Horizont in der Dämmerung noch deutlich sichtbar ist - in der Nacht ist er das nicht.
Doch wann dämmert es eigentlich?
Da gibt es die bürgerliche Dämmerung, wenn die Sonnenmitte zwischen 0 und 6 Grad unter dem Horizont liegt; es gibt die nautische Dämmerung, wenn die Sonne zwischen 6 und 12 Grad unter dem Horizont liegt; und schliesslich die astronomische Dämmerung bei einem Sonnenstand von 12 bis 18 Grad unter dem Horizont.
Sven blickte auf. Blass und doch gut sichtbar hingen die Sterne am Himmel. Aber die wichtigste Bezugsmarke des Navigators zerfloss gerade am Ende der Weltenplatte: der Horizont wurde unscharf und trügerisch. Das Ende der bürgerlichen Dämmerung war weit überschritten. «Scheinwerfer-Dämmerung» wird sie von den Astronomen spöttisch genannt, weil sie in vielen Ländern die gesetzliche Grenze für das Einschalten von Autoscheinwerfern und Strassenlampen markiert.
Kurz darauf passierte die Sonne die unsichtbare 12-Grad-Linie unter dem Horizont, auch die nautische Dämmerung war vorbei. Sven schaute nach Westen. Er hatte den Beginn des Sonnenuntergangs und damit die Chance verpasst, endlich einmal den seltenen, grünen Blitz zu sehen, der aufleuchtet, wenn sich die Sonne mit dem Meer vereinigt. Er hatte ihn noch nie gesehen. Die Luftfeuchtigkeit müsse stimmen, der Temperaturverlauf in der Atmosphäre, der Standort des Betrachters und noch vieles mehr, sagt man, so dass Sven sich fragte, ob es den grünen Lustschrei wirklich gab. Oder ob der Green Flash nur im Kopf des Betrachters existierte, der in der uneingestandenen Angst vor der Nacht Grün sah, die Farbe der Hoffnung und des Lebens.
Grün ist die beruhigendste Farbe für das menschliche Auge. Gleichzeitig reagieren wir sehr empfindlich auf genau diese Wellenlänge. Würde in einer schwarzen Kammer, die mit verschiedenfarbigen Lampen ausgestattet wäre, aus der totalen Nacht heraus langsam die Lichtintensität der Lampen erhöht, so sähen wir die grüne Lampe als erste. Solchen Gedanken hing Sven nach, und es kam ihm in den Sinn, dass Grün auch die Farbe des Islams war.
Stetig sank die Sonne. Unsichtbar für Sven. Minuten später überquerte sie auf ihrem Weg die 18-Grad-Linie, die astronomische Dämmerung war vorbei. Blauschwarz legte sich die Nacht über das Schiff. Die Grenze der Nacht war überschritten. Sven stand vor dem Mast. Hinter ihm tropfte der Mond ab. Fahles Licht kroch über die Wellenberge. Nachdem sich seine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, konnte er den Horizont unter der runzligen Sichel ausmachen. Ein paar Sterne hingen über dem Rand der Welt. Doch sein Sextant blieb in der Kiste. Dieser Horizont war «falsch». Er war viel zu nahe, rückte durch den Schimmer des Mondlichts näher als der «wahre» Horizont, der während der nautischen Dämmerung noch sichtbar gewesen wäre. Würde er den Winkel zwischen dem für ihn jetzt sichtbaren Horizont und einem Stern messen und mit diesem rechnen, wäre das Ergebnis unbrauchbar. Denn die Sterndaten im Nautischen Jahrbuch, die Berechnungsgrundlage für seine Standortbestimmung, waren auf den Horizont vor der Grenze der Nacht ausgerichtet. Sorgfältig verstaute Sven die solide Kiste mit dem unbenutzten Sextanten. Mit den traditionellen Mitteln der Astronavigation - Sextant, sekundengenaue Uhr und nautische Tabellen - konnte er heute nichts mehr ausrichten. Sven steuerte sein Schiff weiter Richtung Osten. Er wusste zwar nicht, wo genau er sich befand, aber navigieren im Wortsinn konnte er trotzdem: Das lateinische navis bedeutet Schiff, und agere steht für bewegen.
ETWA VIERTAUSEND SEEMEILEN südöstlich von Sven blähten sich die gelblichen Segel der arabischen Dau, die Jussuf zusammen mit seiner Mannschaft und viel Fracht von Maskat nach Bombay steuerte. Der Muslim Jussuf hatte mit der Dämmerung vor Tagesanbruch ganz andere Probleme als Sven. Es war die Zeit des morgendlichen Gebetes - an der Grenze der Nacht. An Land wäre er einfach dem Ruf des Muezzins aus der nahen Moschee gefolgt. Doch die Dau segelte weit ab von der Küste.
Zu welchem Zeitpunkt er zu beten hatte, war eine schwierige Frage, obwohl unter allen Muslimen Einigkeit darüber herrscht, dass das Subh-Gebet in der wahren Dämmerung (al-fajr as-sadiq) auszuführen ist und nicht etwa in der falschen Dämmerung (al-fajr al-kadhib). Ayatollah Sayyid Muhammad Kazim al-Yazdi beschrieb den Unterschied mit poetischer Unschärfe: «Beim Beginn der Dämmerung erscheint am Horizont ein Licht, steigt in den Himmel und ähnelt dem Schwanz eines Fuchses. Das ist die falsche Dämmerung. Dann fliesst das Licht über den Horizont, wie der Fluss Sura und wie weisse Baumwolle. Wann immer du hinschaust, wird dich das Licht in seiner ständig wachsenden Schönheit verzaubern. Mit anderen Worten, die wahre Dämmerung ist gekennzeichnet durch die Ausbreitung des Lichtes über den Horizont, nachdem es in den Himmel aufgestiegen ist.»
Die Muslime, die sich mit der Ausarbeitung von Gebetszeittafeln befasst hatten, waren sich deshalb nicht ganz einig. Ihre Bestimmung der wahren Dämmerung schwankte in der Bandbreite des Sonnenstandes von 16 bis 21 Grad unter dem Horizont. Deshalb wird von vielen Muslimen die Definition der astronomischen Dämmerung (18 Grad) als wahre Dämmerung akzeptiert. Doch wie soll der einfache Mann fernab der Moschee berechnen können, wann es soweit ist? Gemäss dem Nautischen Almanach herrscht sowohl für den Bürger wie auch für den Navigator während der astronomischen Dämmerung Nacht. Es gibt kaum Licht, das den Himmel erhellt. Weil der Horizont nicht genau bestimmt werden kann, enthält der Almanach keine Sterndaten für die Zeit, wenn die Sonne tiefer als 12 Grad unter dem Horizont steht.
Der Koran bietet anschauliche Hilfe an. Im 187. Vers der 2. Sure über den Beginn des Fastens steht geschrieben: «Esst und trinkt des Nachts, bis ihr im Morgenstrahl einen weissen Faden von einem schwarzen unterscheiden könnt.» Umrisse von Objekten können während der nautischen Dämmerung erkannt werden. Zudem ist der Horizont scharf und klar. Damit werden die koranischen Fäden über dem Horizont sichtbar. Für islamische Gelehrte sind jetzt genügend Indizien dafür vorhanden, dass die wahre Dämmerung im Sinne der Scharia mit der nautischen Dämmerung begonnen hat.
Aber wann genau zwischen astronomischer und nautischer Dämmerung hat die islamische wahre Dämmerung begonnen? Die neueste, vorsichtige Empfehlung der Gelehrten lautet: Beginnt mit Fasten zum Zeitpunkt der astronomischen Dämmerung, und leistet zur nautischen Dämmerung das Subh-Gebet. An Bord der Dau gab es jedoch nur schmutzige Fäden. Irgendwann kurz vor Sonnenaufgang, begann Jussuf zu beten. Er wusste, das er mit seinen beschränkten Bordmitteln die wahre Dämmerung nicht genau bestimmen konnte. Er war froh, dass die Nacht hinter ihm lag. Kurz nach seinem Gebet erschien im Osten die Sonne.
DAS ALLES KÜMMERTE ARI im Moment noch nicht. Denn es war erst Mittwoch. Er stand auf der Brücke eines kleinen Stückgutfrachters, der unter israelischer Flagge lief, und schaute in die Dämmerung hinaus. Sein Kurs führte von Tel Aviv nach Piräus. Seine Position auf dem Wasserball lag etwa in der Mitte zwischen Sven und Jussuf. Wenn alles gut ging, würde das Schiff rechtzeitig vor Beginn des Sabbats den Hafen erreichen. Die Weiterfahrt durch den Kanal von Korinth wollte er gleich nach dem Ende des Sabbats beginnen. Der Rabbi vor Ort würde ihm den genauen Zeitpunkt des Sabbat-Endes bekanntgeben, und Ari war die Sorgen los, die viele Juden an der Grenze der Nacht hatten.
Je nach Jahreszeit verändert sich die Dauer der Dämmerung, und sie ist abhängig von der geographischen Breite, auf der man sich befindet. Im hohen Norden bleibt während des Sommers die Sonne den ganzen Tag über dem Horizont. Dann gibt es keine Grenze der Nacht, und die Nächte werden weiss.
Die Sache war für die Juden nicht einfach. Abgesehen davon, dass die Dämmerung sich nach Jahreszeit und Standort verändert, gibt es verschiedene Weisungen der Halacha, des Religionsgesetzes. Sie besagt, dass der Sabbat am Freitagabend vor Sonnenuntergang beginnt und am Samstagabend mit dem Nachtbeginn endet. Um ganz sicher zu gehen, verlangt die Halacha, den Sabbat am Freitag etwas früher zu beginnen und am Samstag etwas später als beim Anbruch der Nacht zu beenden.
Das Sabbat-Ende wurde definiert: Die Sonne steht mit sieben Grad und fünf Bogenminuten unter dem Horizont. Dazu addiere man sicherheitshalber drei Minuten auf der Armbanduhr, und sämtliche Ungenauigkeiten sind ausgeglichen. Die Juden in Sydney sehen das anders: Sonnenstand achteinhalb Grad unter dem Horizont und keine Zeitkorrektur. So verläuft die Grenze der Nacht in der jüdischen Welt je nach Standort verschieden. Einigkeit herrscht nur in der Frage des Bezugsortes der Tabelle für die verschiedenen Orte und Daten: Jerusalem.
Während des Sabbats ist es den Gläubigen nicht erlaubt, ein Feuer zu entfachen. Da es aber der Freude und dem Frieden des Sabbats abträglich sein könnte, wenn die Menschen lichtlos durch Dämmerung und Nacht gingen, wurde schon vor langer Zeit eine einfache Lösung gefunden und zur religiösen Pflicht erhoben: das Ritual des Kerzenanzündens vor der Dämmerung.
Über den korrekten Zeitpunkt für das Anzünden der Kerzen ist man sich in der jüdischen Welt einig: 18 Minuten vor dem vorausberechneten Sonnenuntergang. Eine klare Sache, wenn man die Korrekturen für arithmetische Rundungsfehler, atmosphärische Brechungseffekte, lokale meteorologische Bedingungen und eventuelle Gangfehler der Hausuhr vernachlässigt.
Doch in der Regel brennen die Kerzen rechtzeitig und tragen ihr warmes Licht über die Grenze der Nacht.
Daniel B. Peterlunger, freier Journalist, lebt in Murten.