Depressionen / Istanbul-Türkische Gesellschaft

Hi,

ich habe eine türkische Bekannte, die in Istanbul lebt. Obwohl sie erst 18 Jahre alt ist, zur oberen Mittelschicht gehört, erzählt sie mir regelmäßig, sie sei depressiv wie viele Menschen in der Türkei.

Es ist mir klar, dass sicherlich einige Leute in eher zurückgebliebenen Teilen der Türkei mit ihrem Leben nicht allzu zufrieden sein werden und deshalb zu Depressionen neigen.

Was aber könnte ein Grund für Depressionen sein, wenn man in einer Familie aufwächst, die einer deutschen in nichts nachsteht?

Damit ihr nicht in Richtung strenger Islam argumentieren müsst, möchte ich die Lebensumstände ein wenig näher umschreiben: Ihr Vater ist im Vorstand eines Mittelständigen Unternehmens, die Mutter Hausfrau, ein deutlich jüngerer Bruder. Sie selbst geht auf eine Privatuni in Istanbul. Die Familie feiert religiöse Feste, die Frauen aber kein Kopftuch. Sie ist vom Aussehen her mit unseren „Türkinnen“ nicht zu vergleichen, von einem deutschen Mädchen nicht zu unterscheiden.

Kennt jemand die türkische Gesellschaft dort und kann mir erklären, was es Menschen so schwer macht, dort zu leben? Ich kenne die Situation nur aus der Ferne, war noch niemals dort.

Vielen Dank!

Gruß

Marcus

Was aber könnte ein Grund für Depressionen sein, wenn man in
einer Familie aufwächst, die einer deutschen in nichts
nachsteht?

Es ist etwas naiv, wie Du die Ursachen von Depressionen beurteilst. Depressionen sind eine psychische Krankheit, die bei Menschen durch Veranlagung
oder Umweltbedingungen ausgelöst wird. Das heißt jedoch nicht, dass die Lebensqualität einen unmittelbaren Einfluss auf depressives Verhalten hat. Das spielt meist nur eine Rolle, wenn der Betroffene durch Medien oder vor dem sozialen Abstieg bessere Bedingungen sehr bewusst erlebt hat.

Damit ihr nicht in Richtung strenger Islam argumentieren
müsst, möchte ich die Lebensumstände ein wenig näher
umschreiben: Ihr Vater ist im Vorstand eines Mittelständigen
Unternehmens, die Mutter Hausfrau, ein deutlich jüngerer
Bruder. Sie selbst geht auf eine Privatuni in Istanbul. Die
Familie feiert religiöse Feste, die Frauen aber kein Kopftuch.
Sie ist vom Aussehen her mit unseren „Türkinnen“ nicht zu
vergleichen, von einem deutschen Mädchen nicht zu
unterscheiden.

Die Probleme dieses Mädchens liegen in ihrer individuellen Selbs- und Weltsicht.
Nebenbei möchte ich erwähnen, dass Depressionen in Industrieländern mit steigendem Wohlstand zunehmen. Es ist die Natur der Depressionen, dass sie von scheinbar vernünftigen Argumenten des Wohlbefindens entkoppelt sind.

Dadurch, dass Du es als Möglichkeit ausräumst unterstellst Du auch, dass strenge islamische Erziehung Ursache für Unzufriedenheit ist. Dieses Bild ist weit verbreitet, es stimmt auch zum Teil, trifft die Situation aber nicht zureichend. Man kann davon ausgehen, dass der Großteil türkischer Frauen in Deutschland das Kopftuch freiwillig trägt und es als festen Bestandteil ihrer Selbsrepräsentation betrachtet. Konflikte treten meist erst dann auf, wenn ein Mädchen soviel nicht-türkischen Bezug hat, dass sie einen liberaleren Umgang zumindest einmal ausprobieren möchte.

Kennt jemand die türkische Gesellschaft dort und kann mir
erklären, was es Menschen so schwer macht, dort zu leben? Ich
kenne die Situation nur aus der Ferne, war noch niemals dort.

Ich kenne die Türkei nur von einigen Dienstreisen und habe ein entsprechend oberflächliches Bild. Ich kann aber ausschließen, dass es den Menschen allgemein dort schwerer fällt zu leben, als anderswo.
Mein Eindruck speziell von Istanbul: Ich hatte da primär mit der von Dir beschriebenen Schicht zu tun und stellte fest, dass der menschliche Umgang in Geschäftsfragen aus meiner Sicht große Defizite hat. Istanbul blieb mir als Haifischbecken in Erinnerung. Jeden, dem man auch nur die Hand schüttelt, muss man genauerstens durchleuchten, wenn man vermeiden will, über den Tisch gezogen zu werden. Das ist aber in anderen Metropolen etwa genauso.

Was die Lebensbedingungen angeht: Die Türkei ist ja sehr stolz auf ihren gut entwickelten Westen, aber mich hat er nicht überzeugt. Er ist eine Fassade, der hinter glänzenden Hochhäusern die Slums versteckt. Diese sind zwar mit wirklichen Entwicklungsländern nicht vergleichbar, wenn man aber durch endlose Plattenbausiedlungen fährt, hat man das Gefühl, dass der Aufschwung nicht so recht funktioniert. Zumindest nicht ohne Opfer.

Aber wie gesagt, das sind subjektive Einschätzungen, die mit einem Depressionsrisiko nichts zu tun haben.

Depression gibt es auch in Deutschland!!
Hallo!

Dein Posting hat mich sehr befremdet. Man geht davon aus, dass circa 10% aller Deutschen im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an behandlungsbedürftiger Depression leiden. Deshalb finde ich es sehr fraglich anzunehmen die Ursachen ihre Depression müssten in den kulturellen Unterschieden zwischen Deutschland und der Türkei liegen.
Auch hängt die seelische Gessundheit nicht nur von den feststellbaren äußeren Gegebenheiten ab. Wichtiger als diese ist, wie sie erlebt werden. Materieller Wohlstand schützt also nicht vor psychischen Erkrankungen. Depressionen können vielmehr sowohl genetische, organische, psycho-soziale und psychologische Ursachen haben.
Weitere Informationen über Depression findest Du u. a. hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Depression und hier: http://www.verhaltenswissenschaft.de/Psychologie/Psy….

Viele Grüße
Falk

Hallo!

Ich bitte um Entschuldigung. Natürlich weiß ich, dass es Depressionen auch in Deutschland gibt und natürlich sind Depressionen nicht nur Gesellschaftlich bezogen. An der Postinguhrzeit könnt ihr sehen, dass ich das Thema während meiner Mittagspause geschrieben habe und die war um halb 1 aus.

Es war mir aber zu wichtig, um noch bis heute Abend abzuwarten. Um meine Frage noch einmal zu präzisieren: Könnte es in der Türkei besondere gesellschaftliche Faktoren geben, die bei jungen Frauen zu depressiven Verstimmungen führen könnten?

Vielen Dank noch einmal!

Marcus

Rollenkonflikte – Ein spezifischer Faktor
Hi Marcus!

Ich kann mir durchaus für die Türkei spezifische psychische Belastungen vorstellen. Bei Deiner Beschreibung fällt mir auf, dass ihr Leben ebenso wie ihr Umfeld, sowohl von muslimimischer Tradition als auch von westlichen Werten beeinflusst ist.
So geht es sicherlich vielen – und insbesondere den jungen – Menschen in der Türkei. Insbesondere junge Frauen –wie sie– leben in einem Spannungsfeld aus den muslimischen Werten und den Idealen von Emanzipation, Selbstverwirklichung und Freiheit. Auch wenn ihre Familie bereits relativ westlich ist, wirken die muslimischen Traditionen und Rollenbilder noch. Einerseits bestimmen sie die Erwartungen, die ein Teil der Gesellschaft an Frauen stellt, aber auch bei Menschen mit westlichen Werten können sie wie Vorurteile wirken. Diese unvereinbaren Rollenbilderm, die von außen an junge muslimische Frauen heran getragen werden, können zu einem Rollenkonflikt führen, der als starke psychische Belastung empfunden werden kann. Somit könnte der kulturelle Wandel, bzw. Dualismus, in der Türkei in der Tat ein Faktor sein, der Depressionen fördert. Allerdings sind die Ursachen von Depression vielfältig und das gilt mit Sicherheit auch für Betroffene in der Türkei.

Meine Vermutung beruht übrigens auf einem Artikel über die psychische Gesundheit von Migranten. Türkische Frauen, die nach Deutschland emigrieren berichten oft von dem oben beschriebenen Rollenkonflikt, und weisen gleichzeitig sehr häufig depressive Verstimmungen auf.

Viele Grüße
Falk