Was aber könnte ein Grund für Depressionen sein, wenn man in
einer Familie aufwächst, die einer deutschen in nichts
nachsteht?
Es ist etwas naiv, wie Du die Ursachen von Depressionen beurteilst. Depressionen sind eine psychische Krankheit, die bei Menschen durch Veranlagung
oder Umweltbedingungen ausgelöst wird. Das heißt jedoch nicht, dass die Lebensqualität einen unmittelbaren Einfluss auf depressives Verhalten hat. Das spielt meist nur eine Rolle, wenn der Betroffene durch Medien oder vor dem sozialen Abstieg bessere Bedingungen sehr bewusst erlebt hat.
Damit ihr nicht in Richtung strenger Islam argumentieren
müsst, möchte ich die Lebensumstände ein wenig näher
umschreiben: Ihr Vater ist im Vorstand eines Mittelständigen
Unternehmens, die Mutter Hausfrau, ein deutlich jüngerer
Bruder. Sie selbst geht auf eine Privatuni in Istanbul. Die
Familie feiert religiöse Feste, die Frauen aber kein Kopftuch.
Sie ist vom Aussehen her mit unseren „Türkinnen“ nicht zu
vergleichen, von einem deutschen Mädchen nicht zu
unterscheiden.
Die Probleme dieses Mädchens liegen in ihrer individuellen Selbs- und Weltsicht.
Nebenbei möchte ich erwähnen, dass Depressionen in Industrieländern mit steigendem Wohlstand zunehmen. Es ist die Natur der Depressionen, dass sie von scheinbar vernünftigen Argumenten des Wohlbefindens entkoppelt sind.
Dadurch, dass Du es als Möglichkeit ausräumst unterstellst Du auch, dass strenge islamische Erziehung Ursache für Unzufriedenheit ist. Dieses Bild ist weit verbreitet, es stimmt auch zum Teil, trifft die Situation aber nicht zureichend. Man kann davon ausgehen, dass der Großteil türkischer Frauen in Deutschland das Kopftuch freiwillig trägt und es als festen Bestandteil ihrer Selbsrepräsentation betrachtet. Konflikte treten meist erst dann auf, wenn ein Mädchen soviel nicht-türkischen Bezug hat, dass sie einen liberaleren Umgang zumindest einmal ausprobieren möchte.
Kennt jemand die türkische Gesellschaft dort und kann mir
erklären, was es Menschen so schwer macht, dort zu leben? Ich
kenne die Situation nur aus der Ferne, war noch niemals dort.
Ich kenne die Türkei nur von einigen Dienstreisen und habe ein entsprechend oberflächliches Bild. Ich kann aber ausschließen, dass es den Menschen allgemein dort schwerer fällt zu leben, als anderswo.
Mein Eindruck speziell von Istanbul: Ich hatte da primär mit der von Dir beschriebenen Schicht zu tun und stellte fest, dass der menschliche Umgang in Geschäftsfragen aus meiner Sicht große Defizite hat. Istanbul blieb mir als Haifischbecken in Erinnerung. Jeden, dem man auch nur die Hand schüttelt, muss man genauerstens durchleuchten, wenn man vermeiden will, über den Tisch gezogen zu werden. Das ist aber in anderen Metropolen etwa genauso.
Was die Lebensbedingungen angeht: Die Türkei ist ja sehr stolz auf ihren gut entwickelten Westen, aber mich hat er nicht überzeugt. Er ist eine Fassade, der hinter glänzenden Hochhäusern die Slums versteckt. Diese sind zwar mit wirklichen Entwicklungsländern nicht vergleichbar, wenn man aber durch endlose Plattenbausiedlungen fährt, hat man das Gefühl, dass der Aufschwung nicht so recht funktioniert. Zumindest nicht ohne Opfer.
Aber wie gesagt, das sind subjektive Einschätzungen, die mit einem Depressionsrisiko nichts zu tun haben.