Hallöle.
Meine Antwort hat leider gedauert. Achtung: viel.
Die Frage, ob es einen Kanon braucht oder nicht, entzweit ja nicht
nur die akademische Welt […] und den kleinen Mann von der Straße.
Ist das so?
Ich denke, in den östlich gelegenen Bundesländern ist die Antwort eindeutig.
Mein Dachdecker-Freund […]
Nimm es mir nicht übel, aber das ist nun wirklich blöd.
Was soll denn dieses irrelevante Einzelbeispiel?
Umgekehrt könnte man genauso argumentieren: Dein Freund hätte vom Faust keinen Schaden genommen.
Was mich stört: Warum schwingt laufend mit, daß gewisse gesellschaftliche Millieus - Arbeiter, Handwerker usf. - grundsätzlich bildungsfern seien?
Daß in Deutschland die gesellschaftliche Herkunft sehr stark mit dem Bildungsgrad der Familie verknüpft ist, wird vom gegliederten Schulsystem verursacht und ist keineswegs zwangsläufig eine Eigenschaft der Schichten.
Der Dachdecker braucht keinen Faust, aber der Arzt oder wie?
Ich hoffe, Du merkst, daß wir uns auf diese Weise mit unglaublicher Geschwindigkeit einem verflachten Materialismus nähern…
Die erste Frage, die also beantwortet werden müsste, ist, was das
Ziel des Deutschunterrichts ist.
Richtig.
Und ich denke, Du entwirfst eine völlig entgrätete, saft- und kraftlose Vorstellung vom Deutschunterricht, eine Vorstellung, die Opfer des schief in der Luft baumelnden Schulsystems ist.
Die Frage lautet: Weswegen sollte der Pflichtunterricht weitläufig frei sein und differenzieren?
Mit diesem Ansatz sind fundamentale Anforderungen, die dem Bildungssystem gestellt werden (müßten), definitiv nicht zu erreichen.
Das, was Du beschreibst, gehört in die Nachmittagsbetreuung einer Tagesschule, gehört in fakultative literarische Interessenszirkel.
Reichte es Dir nicht zu, wenn der Lehrplan Dir für bestimmte Themen mehrere Werk zur Auswahl lassen würde?
[Nathan]
ein „aktuelleres“ Stück mit der gleichen Botschaft würde aber die
Schüler in diesem Alter sicher mehr ansprechen und v.a. zu
zukünftigem Lesen animieren.
Zum Beispiel?
Welche vermeintlich „modernen“ Bücher möchtest Du besprechen, wenn Du die Zusammenstellung für Deinen Unterricht selbständig bestimmen könnest?
Mich beschleicht zunehmend das Gefühl, daß seit dem 2. Weltkrieg zu den großen Fragen einfach so gut wie keine bedeutsamen Stoffe mehr geschrieben wurden.
Heutzutage werden viele Bücher in den Himmel gelobt, verschwinden binnen weniger Tage wieder und von Wert bleibt so gut wie nichts zurück.
Sollte der Deutschunterricht sich solchen Mechanismen fügen?
Lieber nicht!
In meinem Berufsleben bin ich auf der Weltkugel viel herumgekommen, eine Weile habe ich in Japan gearbeitet. In Japan trifft das Moderne viel härter und gewaltiger auf die Tradition. Trotzdem käme dort niemand auf die Idee, das kulturelle Erbe zu zerrütten und z.B. Fächer wie Altjapanisch, japanische Geschichte oder japanische Literatur vom Stundenplan zu streichen bzw. in die Beliebigkeit und Nichtigkeit totzudifferenzieren. Jedoch ist Japan, wie früher die DDR, ein großes Leseland, was auf die BRD definitiv nicht zutrifft.
Weiterhin ist es sehr zweifelhaft, daß ältere Schüler von einigen modernen Büchern auf einmal zum Lesen begeistert werden.
Leselust ist eine Sache, die im Kindesalter entwickelt wird, d.h. im Kindergarten, in der Unterstufe (1.-4. Klasse) und in den niederen Klassen der Oberstufe (5.-7. Klasse).
In diesen Klassen herrschte damals besonders die Epik und Lyrik vor, bspw. viele Werke der deutschen Volksdichtung sowie Kinderbücher, Jugendbücher und auch Volksdichtungen und Literatur der Völker, z.B. japanische Märchen, Geschichten aus China, Afrika usf.
Von Edgar Allan Poe („Der entwendete Brief“, „Der Rabe“), Daniel Defoe („Robinson Crusoe“), Robert Stevenson („Die Schatzinsel“), Mark Twain („Die Abenteuer des Tom Sawyer“), Jules Verne („Die Drangsale eines Chinesen in China“), Arthur Conan Doyle („Die Abenteuer des Sherlock Holmes“) bis Lyman Baum („Der Zauberer von Oz“) und Auszügen des arabischen „Tausendundeine Nacht“ war die Weltliteratur sehr gut gewürdigt.
Zeitgenössische Werke wurden vom Lehrplan ebenfalls vorgesehen, oft bezeichnet als „sozialistische Literatur“, weil die Auswahl sich auf DDR-Schriftsteller konzentrierte.
Ich gebe zu, daß ich insofern von einem schönen Sockel argumentieren kann, denn der Lehrplan versuchte, moderne Werke wertzuschätzen und ließ hierfür für den Lehrer Stunden offen.
Die Lehrpläne der höheren Klassen umzubauen und wie in der DDR teilweise auf moderne Literatur zu orientieren, würde das Problem nicht beheben:
Die Lust auf das Lesen und das Schöngeistige muß frühzeitig geprägt werden.
Und somit landen wir bei den Eltern.
Wenn die Eltern keinen Sinn für die Literatur vorleben bzw. die Kinder dumm herumsitzen lassen, und wenn dann die Schule der deutschen Sprache viel zu geringe Wertschätzung entgegenbringt (siehe Stundenzahlen im deutschen Schulsystem!), kannst Dich in den höheren Klassen der Oberstufe und in den Abiturklassen mit moderner Literatur herumtoben, wie Du willst. Du wirst nichts erreichen.
Wahrscheinlich würde die Chose eher ein Schuß in den Ofen werden, da einerseits die Klassiker so gut wie komplett entfallen, während die Schüler andererseits irgendwelche modernen Bücher lesen, die mindestens ein Drittel der Klasse ebenfalls lahm findet.
Gleiches Problem wie vorher plus Allgemeinbildung über Bord geschmissen.
Allerdings schaue ich mir dann unsere Jugend an - und ich finde
diese Jugend toll, sie weiß, was sie will, sie ist selbstbewusst
und neugierig
Wie bitte? Realitätsverlust?
Viele Jugendliche wissen überhaupt nicht was sie wollen. Viele nichtmal gegen Ende der 12. Klasse.
Und Neugier? Worauf?
Auf Kultur und Sprache? Ich bitte Dich…
Egal was Du nimmst, Du mußt weniger nehmen.
Dann sind die zwei Schuljahre vorbei und das war’s.
Wenn die Zeitvolumina so knapp sind, frage ich mich:
- Wieviele Stunden bekommt die Literatur gegenwärtig in Sachsen?
Auf dem sächsischen Bildungsserver finde ich nichts Aktuelleres als die „Verwaltungsvorschrift Stundentafeln 2004“.
Meine Stundenzahlen 1954-1966:
POS EOS
math.-natw.
Klassen
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Deutsche Sprache
und Literatur 8 12 14 16 8 6 6 5 5 4 4 4
davon
**Literatur 1 3 3 3 3 2 2 2 2 2 3 3**
demgegenüber
Pflicht-Wstd. 17 21 26 30 33 33 34 34 36 37 37 37
- Wie läuft der Unterricht ab?
Die Literatur mußten wir größtenteils zuhause lesen. Deswegen hatten wir in Deutsch eigentlich immer Hausaufgaben auf. Lesen.
Im Unterricht erfolgte die Analyse und Interpretation, gelesen wurden nur kleine Passagen, die Besprechung folgte auf dem Fuße. Der Lehrer führte auf diese Weise von einer wichtigen Textstelle zur nächsten.
Bei epischer Literatur zeigte der Lehrer am literarischen Stoff epochentypische und abweichende Motive auf. Den Schluß der Lektion bildete eine Wiederholung und Systematisierung. Die Konzentration lag primär auf dem Werk.
-> induktive Methode
Bei lyrischer und dramatischer Literatur erfolgte in den ersten Stunden eine Reihe philosophischer Studien und wir erarbeiteten uns die literaturästhetischen Schriften zur Epoche und die sprachlich-stilistischen Besonderheiten. Auf diese Weise bildeten die folgenden literarischen Stoffe nur Übungsbeispiele zur Festigung der Epoche. Das ermöglichte das zügige Besprechen vieler Gedichte und Dramen zogen wir ebenfalls relativ schnell durch. Die Konzentration lag primär auf der Epoche, nicht auf dem Werk.
-> deduktive Methode
Da in jeder polytechnischen und erweiterten Oberschule eine üppige Schulbibliothek und so gut wie in allen Dörfern öffentliche Bibliotheken existierten, konnten die Schüler auf Sekundärliteratur verwiesen werden. Unser Deutschlehrer versuchte kontinuierlich über die 4 Abiturjahre hinweg, das Hilfsmittel Sekundärliteratur zu etablieren.
Die erste Einführungsstunde eines literarischen Stoffs schloß er prinzipiell mit einer Liste von Empfehlungen, die uns bei der selbständigen Beschäftigung mit dem Werk helfen könnten.
Die Liste zerfiel in 4 Teile:
I: einfache Sekundärliteratur für die [Zitat] „Unbeeindruckten“ (Gelangweilten), die gerne eine leicht zugängliche Einführung zur Hand haben, konzentriert auf das Wesentliche und zum Wiederholen und Nachholen geeignet
II: Sekundärliteratur für die [Zitat] „Fans“, die tiefer einsteigen wollten, die eine größere Anzahl von Interpretationen und mehr Zusammenhänge wollten, wobei der Bogen nicht zu komplex werden sollte
III: anspruchsvolle Sekundärliteratur für die [Zitat] „Freunde der deutschen Sprache“
IV: reine Fachliteratur für die [Zitat] „Kaputten“
- Weshalb betreibt ihr keinen Literaturzirkel?
Eine fakultative Nachmittagsveranstaltung, die aller zwei oder drei Wochen zusammenfindet und in der Du besprichst, was Du möchtest und was der Unterricht Deiner Meinung nach nicht hergibt.
Heute haben sie mir erklärt, das Wintermärchen von Heine gehe ihnen
völlig ab, da sie einfach nicht das historische Hintergrundwissen hätten
Und wieder drängen sich Fragen auf:
-
Warum fehlt das historische Hintergrundwissen?
-
Warum erklärst Du es ihnen nicht, während ihr die Werksstruktur systematisch erarbeitet?
-
Warum läßt Du kein Referat halten?
-
Wenn den Schülern bewußt ist, daß sie historisch nicht auf der Höhe sind, warum schaffen sie im Selbststudium keine Abhilfe dagegen?
Es muß nicht noch der letzte Seitenhieb auf einen unbekannten Lokalpolitiker besprochen werden, um das Wintermärchen sehr gut zu erschließen…
einen Interpretationsaufsatz zu verfassen, das braucht man nie wieder im Leben
Unwichtig.
Die Interpretation spielt für die Sprachschulung eine große Rolle, weil unterschiedliche Bereiche der Sprache verknüpft werden müssen:
Rhetorische Mittel, Literaturästhetik, literaturgeschichtliche Bildung, rezeptive Sprachbeherrschung, produktive schriftliche Sprachbeherrschung (Aufsatzschreiben).
Die Interpretation ist eine anspruchsvolle Mischung, die viel Geist erfordert, und bei der ein Schüler sein wahres sprachlich-literarisches Können zeigen muß.
Die Interpretation abschätzig zu behandeln ist vergleichbar damit, in der Mathematik das rein innermathematische Problemlösen abschätzig zu behandeln. Der helle Wahnsinn!
Schule dient nicht nur dem Glattschleifen und Zurechtbiegen des Schülers, so daß dieser als Homo oeconomicus funktioniert. Auf diese schiefe Bahn ist nichtmal die DDR gekommenn, und deren Staatsdoktrin hieß bekanntlich dialektischer Materialismus.
Bestimmte Bildungsinhalte entziehen sich dem „Was bringt es später? Braucht man das?“ und das ist sehr wichtig. Dort findet das abstrahierte, reine Denken statt und dort findet sich der Raum zum intellektuellen Spielen.
Wenn ich z.B. einen Interpretationsaufstatz schreibe, ist das auch das abstrakte Üben des Aufsatzschreibens. Einleitung, Mittelteil, Abschluß, Beachten der geschlossenen Aufsatzform, Ausdruck, Grammatik, Textfluß, Orthographie, leserliche Handschrift.
Eine Interpretation ist gedanklich allderings anders aufgebaut, je nachdem, welchen Schreibstil man für die Deutung der rhetorischen Mittel verwendet. Auf diese Weise muß der Schüler auch zeigen, daß er die Sprache tätsächlich produktiv beherrscht, denn er muß die innere Logik seines Aufsatzes den Erfordernissen der Interpretation anpassen und kann nicht stur den gleichen Stiefel herunterschreiben wie z.B. im Erörterungsaufsatz.
Praxisbezug hin oder her, die Interpretation erfordert abstrakte, schwierige Verknüpfungs- und Synthetisierungsleistungen vom Gehirn, andere als die Erörtertung. Das schult die Sprache und das Denken.
Olle Schinken.
Das Schlimme bei diesen ollen Schinken: Manche bleiben erschreckend aktuell.
Und die NS-Zeit?
Tja, ich bin 1948 geboren und ich weiß, wie es hier nach dem Krieg aussah, wie lange der Wiederaufbau dauerte.
Daß einem das Thema ehrlich gesagt zum Halse heraushängt, ist dem mangelhaften Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit geschuldet.
Statt die faschistische Diktatur einmal richtig aufzuarbeiten und den Schlußstrich zu ziehen (ohne die Sache selbstverständlich zu verdrängen), kommt Hitlerdeutschland wie eine Gebetsmühle wieder und wieder. Laufend neue SS- und KZ-Enthüllungen, heute dies, morgen das. Es kocht, es schwappt über, es ist vergessen bis zur nächsten Enthüllung.
Bei der DDR ist es noch schlimmer. Die ostdeutsche Seite und die Lebensgeschichten der Menschen werden vollständig ausgeblendet, Opfergeschichten werden unglaublich einseitig überzeichnet, es ist immer Stasi, Partei und Mauer, die SED war ein gleichgeschaltetet, monolither Block bestehend aus schlimmsten Schergen und Leuten mit Gulag-Aufseher-Persönlichkeit usw. und dann die altbekannte gesellschaftstheoretische Analyse des Westens: Nazideutschland sei kein Faschismus gewesen sondern Totalitarismus, und deswegen stehe der Stalinismus, der ebenfalls ein totalitaristisches System war, in politischer Kontinuität zum Dritten Reich, die DDR war ein rotes Drittes Reich. Eine herrliche Reinterpretation, die der Geschichtsverbiegung des Staatsbürgerkundeunterrichts auf Augenhöhe begegnet. Und wie bei Nazideutschland: Die DDR-Aufarbeitung schleppt sich von einem auflageversprechenden kleinen Skandal zum nächsten.
Empfohlen sei Dir übrigens der Bühnenkünstler Serdar Somuncu.
Ich werde mir den auf Empfehlung unserer Tochter bei Gelegenheit einmal live anschauen.
Der hat z.B. auf der Bühne aus „Mein Kampf“ vorgelesen oder Goebbels’ Rede im Sportpalast 1943 thematisiert, um Parallelen und aktuelle Bezüge zur gegenwärtigen politischen Rhetorik aufzuzeigen.
Das könnte doch ein frischer Ansatz für Deinen NS-verdrossenen Deutschkurs sein.
reinerlein