Deutschunterricht Pflichtliteratur @sonne

Sei gegrüßt, sonne.

Mich würde in bezug auf Deine Frage im Plauderbrett interessieren, was Du in der gymnasialen Oberstufe verpflichtend behandeln sollst, und warum Du Dich von den Festlegungen eingeengt fühlst?

Welche Literatur würdest Du denn in den Abiturklassen besprechen, wenn Du wirklich frei entscheiden könntest?
Weswegen würdest Du das Zeitvolumen der unserer nationalen Literatur verringern?

Die Antworten, die Du im Plauderbrett bekommen hast, auch meine Antwort, lagen teilweise diametral zueinander. Findest Du solch ein Chaos erstrebenswert?
Wäre es nicht sinnvoller, die literarischen Stoffe nachmittags differenziert zu untersuchen und vormittags während des Unterrichts die einheitliche Bildung der Schüler zu sichern?

reinerlein

Hallo!

Zufällig entdeckte ich eben deine Rückfrage in diesem Brett.

Die Frage, ob es einen Kanon braucht oder nicht, entzweit ja nicht nur die akademische Welt, sondern auch Medien und den kleinen Mann von der Straße. Mein Dachdecker-Freund vermisst nicht, dass er den Faust nie gelesen hat, er ist ein feiner, toleranter Familienvater, ich kann mir nicht vorstellen, dass sein Leben mit Faust anders verlaufen wäre. Auf der anderen Seite ist in Sachsen der Nathan Pflichtlektüre für die mittlere Reife, wobei ich nicht glaube, dass das schadet - ein „aktuelleres“ Stück mit der gleichen Botschaft würde aber die Schüler in diesem Alter sicher mehr ansprechen und v.a. zu zukünftigem Lesen animieren.

Ich habe nichts dagegen, das kulturelle Erbe unserer Dichter und Denker aufrecht zu erhalten. Ich sehe nur einen Konflikt zwischen diesem Bedürfnis, das m.M. nach v.a. richtige Leseratten haben, und der jugendlichen Wirklichkeit. Die erste Frage, die also beantwortet werden müsste, ist, was das Ziel des Deutschunterrichts ist. M.M. nach ist das neben dem Erwerb und der Fähigkeit, die deutsche Sprache sicher anwenden zu können, auch, ein kulturelles Verständnis zu entwickeln, wobei gewisse Werte im Sinne unserer Kultur und unserer Verfassung im Vordergrund stehen, wie eben Freundschaft, Toleranz, Demokratieverständnis, Verantwortungsbereitschaft usw. Das steht für mich außer Frage. Allerdings schaue ich mir dann unsere Jugend an - und ich finde diese Jugend toll, sie weiß, was sie will, sie ist selbstbewusst und neugierig, aber sie wird eben anders sozialisiert als die Jugend vor 20, 30 Jahren. Und dann schaue ich in unsere Lektürelisten, deren neuestes Werk 1960 ist, wobei ich unserer Liste zuguten halten muss, dass mit dem Krebsgang ein Werk von nach der Jahrtausendwende dabei ist, was sich aber wieder mit der Vergangenheit beschäftigt. Ich habe den Krebsgang ausführlich behandelt, bin aber zu dem Schluss gekommen, dass er sehr moralisch und belehrend ist, und genau das hat auch die Schüler genervt, die zum wiederholten Male etwas zum Thema Nationalsozialismus lesen mussten. Heute haben sie mir erklärt, das Wintermärchen von Heine gehen ihnen völlig ab, da sie einfach nicht das historische Hintergrundwissen hätten, das es braucht, um alles zu verstehen, aber andererseits eben weder Zeit noch Möglichkeit, alles aufzuarbeiten. Ich hätte den Heine in Schulzeiten sicher nach drei Seiten beiseite gelegt, heute lese ich ihn mit viel größeren Vergnügen und bin dankbar, dass mein Lehrer nie versuchen musste, mir das schmackhaft zu machen.

Ich sagte ja schon, ich habe nichts dagegen, auch sog. Klassiker in der Schule zu behandeln. Und es gibt wirklich tolle Methoden, mit denen man alte Schinken spannend gestalten kann. Aber wurde denn nach 1945 tatsächlich nichts mehr geschrieben, was ein anderes Thema hat als die NS-Zeit? Soweit ich weiß, gab es da tolle Sachen. Was mich einfach ärgert, ist, dass hier die Auswahl nicht nur eingeschränkt ist, sondern quasi diktiert wird. Die aktuelle Pflichtlektüre findest du hier (http://www.sachsen-macht-schule.de/apps/lehrplandb/d… - die zweite Seite ist interessant). Zeit für mehr ist nicht. Dann sind die zwei Schuljahre vorbei und das war’s. Der Steppenwolf teilt die Jugend in zwei Lager, bei Kafka haben ich noch niemanden jubeln hören, und der Jakob hat wieder das „alte“ Thema. Ansonsten: Olle Schinken. Und dazu haben die Kinderchen schon in der 10 Faust und „Kabale und Liebe“ gelesen.

Für mich ist ein Ziel des Deutschunterrichts eben auch, Lesefreude zu fördern. Ganz ehrlich, einen Interpretationsaufsatz zu verfassen, das braucht man nie wieder im Leben, das brauchte ich nicht mal fürs Germanistikstudium (außer fürs Examen). Mir fehlt die Freude! Mir fehlt die Möglichkeit, dass die Schüler sagen, uns interessiert dieses oder jenes Werk oder Thema.

Für mich muss niemand den Faust gelesen haben, um ein anständiger Mensch zu sein.

Grüße!

P.S:: Und ich denke an mich als Lehrer: Ich möchte nicht zehn Jahre lang immer wieder über dieselben Werke sprechen müssen. Klar ist das Arbeitserleichterung :wink:, aber das langweilt mich doch zu Tode. Ich will doch auch was lernen!

Hallo!

Scheint ueberall das selbe zu sein… Wir hatten in Bayern zum Glueck nur eine einzige vorgeschriebene Lektuere(Faust I fuer Grundkurs, Faust I und Faust II (in Auszuegen) fuer den Leistungskurs. Den Besuch der alten Dame haben wir schon in der 10. Klasse gelesen (waer aber wahrscheinlich 2 Jahre spaeter auch nicht besser gewesen :wink:). Die Schachnovelle von Zweig fand ich ganz gut, aber irgendwie war auch unser Lehrer prima, der hat uns einfach immer gefragt, was wir denken und wir durften alles dazu sagen, was wir wollten. Aber trotzdem: Haette es uns denn geschadet, was vollkommen neues, verruecktes zu lesen (Elfriede Jellinek haette mich interessiert), oder den Herrn Woyzeck Woyzeck sein lassen koennen? Es ist doch immer wieder aehnlich, auch wenn wir wenigstens ein bisschen Entscheidungsmoeglichkeit bekommen haben. der Lehrplan laesst halt doch nur bestimmte Epochen zu… Aber immer das gleiche, jedes Jahr, das muss einen ja fertig machen…
LG, Sarah

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Hallo,

Ich denke zwar nicht, dass man dieses oder jenes Werk unbedingt gelesen haben muss, aber doch, dass man manches gelesen haben sollte.
Warum? Es wird derart einfach ein gewisses „gesellschaftliches“ Gemeinwissen begründet, welches die Teilhabe eher ermöglicht.
Nehmen wir als Beispiel einfach einmal die letzte amerikanische Präsdentenwahl. Warum wohl wurde Obama auf so vielen Bildern so oft in Verbindung mit einem Vorhang dargestellt? Na klar, es wird so ein Bezug zum „Wizard of Oz“ hergestellt: „Pay no attention to the man behind the curtain!“
Weiteres Beispiel, man gehe zu einem Amerikaner und sage: „Lions, and tigers, and bears …“ und er wird mit höchster Wahrscheinlichkeit antworten „… oh my“.

Gleiches funktioniert natürlich eben auch im deutschsprachigen Raum; schauen wir nur mal darauf, woher die „Gretchenfrage“ stammt.

Nach meinem Dafürhalten ergeben sich Probleme bei der Wahrnehmung von Literatur eher nicht so sehr aus dem Literaturkanon selbst, als vielmehr aus desen Vermittlung. Viel zu häufig wird eben nach Schema F unterrichtet, statt den Aktualitätswert zu berücksichtigen.
Wieso nicht einmal die Woyzeck-Version von Tom Waits unterrichten, statt an der Textvorlage zu verhaften.
Warum nicht einmal die wirklich schrille (und affenstarke) Aufführung der „Physiker“ im Nationaltheater Mannheim thematisieren?
Warum nicht einmal vergleichen, ob sich Parallelen zwischen „Schachnovelle“ und „Tommy“ finden lassen?
Wieso nicht einmal untersuchen, welche Werke Shakespeare sich in „Star Trek“ finden lassen?

Statt dessen wird immer wieder aufs Neue

MFG
Cleaner

Für mich muss niemand den Faust gelesen haben, um ein
anständiger Mensch zu sein.

Natürlich nicht.
Aber - sorry! - hierher passt ganz gut „Neulich in der Schule“ vom Witzebrett.
Gruß!
H.

Hallo Cleaner,

genau das meine ich ja. Das ist nicht möglich, da die Vorgaben so restriktiv und knapp in den Lehrplan „hineinstrickt“ sind, dass da wirklich keine Zeit für Exkurse oder ähnliches bleibt. Denn der Lehrplan schreibt ja nicht nur vor, welche Bücher gelesen werden müssen, sondern auch, welche Aspekte zu behandeln sind. Dann hast du laut Plan 15 Ustd. Zeit für ein Werk, inklusive Bewertung (Klausur/LK o.ä.). Neulich brauchte ich 4 Stunden länger, weil eine Internetrecherche zum Thema Rechtsextremismus so interessant war für die Schüler, dass sie sich näher damit befassen wollten und es sogar fruchtbar für die Arbeit am literarischen Werk war. Du kannst dir nicht vorstellen, wie skeptisch da die Kollegen werden und wie man beginnt, diese blöden 4 Stunden in seinem Jahresplan zu suchen.

Alles gute Ideen, keine Frage, aber so momentan nicht umsetzbar. Jeder Deutschlehrer würde sicher zu dem ein oder anderen „klassischen“ Stück greifen, auch wenn er keine direkten Vorgaben hätte. Soviel Verstand traue ich meinen Kollegen insgesamt doch schon zu. :wink:

Grüße!

Hallo,

zunächst einmal lag und liegt es nicht in meiner Absicht, irgend jemandem den Verstand absprechen zu wollen (zumindest nicht in diesem Zusammenhang hier). Kann ich eigentlich auch gar nicht, da ich mich mit Lehrplan/Bildungsstandards für die Oberstufe eigentlich nicht auskenne und von unten nach oben „transferiere“

Ich wollte lediglich eine Art „Brandrede“ dahingehend halten, dass m.E. die Abscheu vor dem Literaturkanon nicht aus dem Kanon selbst resultiert, sondern aus dessen Vermittlung. Weil der LP recht eng gesteckt ist, greift der Lehrer auf Schema F zurück ( Lesen - literaturgeschichtliche Einordnung - Kernfragen - fertig) und gut ist.
Damit verselbständigt sich aber eben auch gerade diese Vorgehensweise die du ja auch bezüglich der anderen Kollegen beschreibst, die so skeptisch waren (hammer schon immer so gemacht - hammer noch nie annerschd gemacht - wo käme mer dann do hin). Das ist natürlich einfacher, aber den Schülern vergeht eben einfach die Lust aufs Lesen - das ist ja selbst bei mir so.

Ich will nur sagen, dass andere Herangehensweisen in gleicher Zeit gleiche Ergebnisse mit mehr Spaß nach sich ziehen können. Beispielsweise, mit Schülern exzerptweise „Babylon 5“ schauen (by the way - die beste Serie, die je gedreht wurde). Warum? Die Schiffe der „Erdstreitkräfte“ heißen „Prometheus“ „Achilles“ „Agamemnon“, „Apollo“, „Heracles“ usw.
Und Rubbeldiekatz hat man die griechische Mythologie für den Bereich Sagen abgedeckt, der aus den Klassen 5-7 zu wiederholen ist. Mit Referaten hat man dann den Bereich „Sprechen und Zuhören“.
Effekt: Die Schüler verstehen, dass man mit Literaturkenntnis sogar besser Fernsehen schauen kann.

MFG Cleaner

Hallöle.

Meine Antwort hat leider gedauert. Achtung: viel. :smile:

Die Frage, ob es einen Kanon braucht oder nicht, entzweit ja nicht
nur die akademische Welt […] und den kleinen Mann von der Straße.

Ist das so?

Ich denke, in den östlich gelegenen Bundesländern ist die Antwort eindeutig.

Mein Dachdecker-Freund […]

Nimm es mir nicht übel, aber das ist nun wirklich blöd.
Was soll denn dieses irrelevante Einzelbeispiel?
Umgekehrt könnte man genauso argumentieren: Dein Freund hätte vom Faust keinen Schaden genommen. :smile:

Was mich stört: Warum schwingt laufend mit, daß gewisse gesellschaftliche Millieus - Arbeiter, Handwerker usf. - grundsätzlich bildungsfern seien?

Daß in Deutschland die gesellschaftliche Herkunft sehr stark mit dem Bildungsgrad der Familie verknüpft ist, wird vom gegliederten Schulsystem verursacht und ist keineswegs zwangsläufig eine Eigenschaft der Schichten.

Der Dachdecker braucht keinen Faust, aber der Arzt oder wie?

Ich hoffe, Du merkst, daß wir uns auf diese Weise mit unglaublicher Geschwindigkeit einem verflachten Materialismus nähern…

Die erste Frage, die also beantwortet werden müsste, ist, was das
Ziel des Deutschunterrichts ist.

Richtig.

Und ich denke, Du entwirfst eine völlig entgrätete, saft- und kraftlose Vorstellung vom Deutschunterricht, eine Vorstellung, die Opfer des schief in der Luft baumelnden Schulsystems ist.

Die Frage lautet: Weswegen sollte der Pflichtunterricht weitläufig frei sein und differenzieren?
Mit diesem Ansatz sind fundamentale Anforderungen, die dem Bildungssystem gestellt werden (müßten), definitiv nicht zu erreichen.

Das, was Du beschreibst, gehört in die Nachmittagsbetreuung einer Tagesschule, gehört in fakultative literarische Interessenszirkel.

Reichte es Dir nicht zu, wenn der Lehrplan Dir für bestimmte Themen mehrere Werk zur Auswahl lassen würde?

[Nathan]

ein „aktuelleres“ Stück mit der gleichen Botschaft würde aber die
Schüler in diesem Alter sicher mehr ansprechen und v.a. zu
zukünftigem Lesen animieren.

Zum Beispiel?

Welche vermeintlich „modernen“ Bücher möchtest Du besprechen, wenn Du die Zusammenstellung für Deinen Unterricht selbständig bestimmen könnest?

Mich beschleicht zunehmend das Gefühl, daß seit dem 2. Weltkrieg zu den großen Fragen einfach so gut wie keine bedeutsamen Stoffe mehr geschrieben wurden.

Heutzutage werden viele Bücher in den Himmel gelobt, verschwinden binnen weniger Tage wieder und von Wert bleibt so gut wie nichts zurück.

Sollte der Deutschunterricht sich solchen Mechanismen fügen?
Lieber nicht!

In meinem Berufsleben bin ich auf der Weltkugel viel herumgekommen, eine Weile habe ich in Japan gearbeitet. In Japan trifft das Moderne viel härter und gewaltiger auf die Tradition. Trotzdem käme dort niemand auf die Idee, das kulturelle Erbe zu zerrütten und z.B. Fächer wie Altjapanisch, japanische Geschichte oder japanische Literatur vom Stundenplan zu streichen bzw. in die Beliebigkeit und Nichtigkeit totzudifferenzieren. Jedoch ist Japan, wie früher die DDR, ein großes Leseland, was auf die BRD definitiv nicht zutrifft.

Weiterhin ist es sehr zweifelhaft, daß ältere Schüler von einigen modernen Büchern auf einmal zum Lesen begeistert werden.

Leselust ist eine Sache, die im Kindesalter entwickelt wird, d.h. im Kindergarten, in der Unterstufe (1.-4. Klasse) und in den niederen Klassen der Oberstufe (5.-7. Klasse).

In diesen Klassen herrschte damals besonders die Epik und Lyrik vor, bspw. viele Werke der deutschen Volksdichtung sowie Kinderbücher, Jugendbücher und auch Volksdichtungen und Literatur der Völker, z.B. japanische Märchen, Geschichten aus China, Afrika usf.

Von Edgar Allan Poe („Der entwendete Brief“, „Der Rabe“), Daniel Defoe („Robinson Crusoe“), Robert Stevenson („Die Schatzinsel“), Mark Twain („Die Abenteuer des Tom Sawyer“), Jules Verne („Die Drangsale eines Chinesen in China“), Arthur Conan Doyle („Die Abenteuer des Sherlock Holmes“) bis Lyman Baum („Der Zauberer von Oz“) und Auszügen des arabischen „Tausendundeine Nacht“ war die Weltliteratur sehr gut gewürdigt.

Zeitgenössische Werke wurden vom Lehrplan ebenfalls vorgesehen, oft bezeichnet als „sozialistische Literatur“, weil die Auswahl sich auf DDR-Schriftsteller konzentrierte.

Ich gebe zu, daß ich insofern von einem schönen Sockel argumentieren kann, denn der Lehrplan versuchte, moderne Werke wertzuschätzen und ließ hierfür für den Lehrer Stunden offen.

Die Lehrpläne der höheren Klassen umzubauen und wie in der DDR teilweise auf moderne Literatur zu orientieren, würde das Problem nicht beheben:
Die Lust auf das Lesen und das Schöngeistige muß frühzeitig geprägt werden.

Und somit landen wir bei den Eltern.

Wenn die Eltern keinen Sinn für die Literatur vorleben bzw. die Kinder dumm herumsitzen lassen, und wenn dann die Schule der deutschen Sprache viel zu geringe Wertschätzung entgegenbringt (siehe Stundenzahlen im deutschen Schulsystem!), kannst Dich in den höheren Klassen der Oberstufe und in den Abiturklassen mit moderner Literatur herumtoben, wie Du willst. Du wirst nichts erreichen.

Wahrscheinlich würde die Chose eher ein Schuß in den Ofen werden, da einerseits die Klassiker so gut wie komplett entfallen, während die Schüler andererseits irgendwelche modernen Bücher lesen, die mindestens ein Drittel der Klasse ebenfalls lahm findet.

Gleiches Problem wie vorher plus Allgemeinbildung über Bord geschmissen.

Allerdings schaue ich mir dann unsere Jugend an - und ich finde
diese Jugend toll, sie weiß, was sie will, sie ist selbstbewusst
und neugierig

Wie bitte? Realitätsverlust?

Viele Jugendliche wissen überhaupt nicht was sie wollen. Viele nichtmal gegen Ende der 12. Klasse.

Und Neugier? Worauf?
Auf Kultur und Sprache? Ich bitte Dich…

Egal was Du nimmst, Du mußt weniger nehmen. :smile:

Dann sind die zwei Schuljahre vorbei und das war’s.

Wenn die Zeitvolumina so knapp sind, frage ich mich:

  1. Wieviele Stunden bekommt die Literatur gegenwärtig in Sachsen?


Auf dem sächsischen Bildungsserver finde ich nichts Aktuelleres als die „Verwaltungsvorschrift Stundentafeln 2004“.

Meine Stundenzahlen 1954-1966:

 POS EOS
 math.-natw.
 Klassen
 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12


Deutsche Sprache
und Literatur 8 12 14 16 8 6 6 5 5 4 4 4

davon
**Literatur 1 3 3 3 3 2 2 2 2 2 3 3**

demgegenüber
Pflicht-Wstd. 17 21 26 30 33 33 34 34 36 37 37 37
  1. Wie läuft der Unterricht ab?

Die Literatur mußten wir größtenteils zuhause lesen. Deswegen hatten wir in Deutsch eigentlich immer Hausaufgaben auf. Lesen.

Im Unterricht erfolgte die Analyse und Interpretation, gelesen wurden nur kleine Passagen, die Besprechung folgte auf dem Fuße. Der Lehrer führte auf diese Weise von einer wichtigen Textstelle zur nächsten.

Bei epischer Literatur zeigte der Lehrer am literarischen Stoff epochentypische und abweichende Motive auf. Den Schluß der Lektion bildete eine Wiederholung und Systematisierung. Die Konzentration lag primär auf dem Werk.
-> induktive Methode

Bei lyrischer und dramatischer Literatur erfolgte in den ersten Stunden eine Reihe philosophischer Studien und wir erarbeiteten uns die literaturästhetischen Schriften zur Epoche und die sprachlich-stilistischen Besonderheiten. Auf diese Weise bildeten die folgenden literarischen Stoffe nur Übungsbeispiele zur Festigung der Epoche. Das ermöglichte das zügige Besprechen vieler Gedichte und Dramen zogen wir ebenfalls relativ schnell durch. Die Konzentration lag primär auf der Epoche, nicht auf dem Werk.
-> deduktive Methode

Da in jeder polytechnischen und erweiterten Oberschule eine üppige Schulbibliothek und so gut wie in allen Dörfern öffentliche Bibliotheken existierten, konnten die Schüler auf Sekundärliteratur verwiesen werden. Unser Deutschlehrer versuchte kontinuierlich über die 4 Abiturjahre hinweg, das Hilfsmittel Sekundärliteratur zu etablieren.

Die erste Einführungsstunde eines literarischen Stoffs schloß er prinzipiell mit einer Liste von Empfehlungen, die uns bei der selbständigen Beschäftigung mit dem Werk helfen könnten.
Die Liste zerfiel in 4 Teile:

I: einfache Sekundärliteratur für die [Zitat] „Unbeeindruckten“ (Gelangweilten), die gerne eine leicht zugängliche Einführung zur Hand haben, konzentriert auf das Wesentliche und zum Wiederholen und Nachholen geeignet

II: Sekundärliteratur für die [Zitat] „Fans“, die tiefer einsteigen wollten, die eine größere Anzahl von Interpretationen und mehr Zusammenhänge wollten, wobei der Bogen nicht zu komplex werden sollte

III: anspruchsvolle Sekundärliteratur für die [Zitat] „Freunde der deutschen Sprache“

IV: reine Fachliteratur für die [Zitat] „Kaputten“

  1. Weshalb betreibt ihr keinen Literaturzirkel?

Eine fakultative Nachmittagsveranstaltung, die aller zwei oder drei Wochen zusammenfindet und in der Du besprichst, was Du möchtest und was der Unterricht Deiner Meinung nach nicht hergibt.

Heute haben sie mir erklärt, das Wintermärchen von Heine gehe ihnen
völlig ab, da sie einfach nicht das historische Hintergrundwissen hätten

Und wieder drängen sich Fragen auf:

  1. Warum fehlt das historische Hintergrundwissen?

  2. Warum erklärst Du es ihnen nicht, während ihr die Werksstruktur systematisch erarbeitet?

  3. Warum läßt Du kein Referat halten?

  4. Wenn den Schülern bewußt ist, daß sie historisch nicht auf der Höhe sind, warum schaffen sie im Selbststudium keine Abhilfe dagegen?

Es muß nicht noch der letzte Seitenhieb auf einen unbekannten Lokalpolitiker besprochen werden, um das Wintermärchen sehr gut zu erschließen…

einen Interpretationsaufsatz zu verfassen, das braucht man nie wieder im Leben

Unwichtig.

Die Interpretation spielt für die Sprachschulung eine große Rolle, weil unterschiedliche Bereiche der Sprache verknüpft werden müssen:

Rhetorische Mittel, Literaturästhetik, literaturgeschichtliche Bildung, rezeptive Sprachbeherrschung, produktive schriftliche Sprachbeherrschung (Aufsatzschreiben).

Die Interpretation ist eine anspruchsvolle Mischung, die viel Geist erfordert, und bei der ein Schüler sein wahres sprachlich-literarisches Können zeigen muß.

Die Interpretation abschätzig zu behandeln ist vergleichbar damit, in der Mathematik das rein innermathematische Problemlösen abschätzig zu behandeln. Der helle Wahnsinn!

Schule dient nicht nur dem Glattschleifen und Zurechtbiegen des Schülers, so daß dieser als Homo oeconomicus funktioniert. Auf diese schiefe Bahn ist nichtmal die DDR gekommenn, und deren Staatsdoktrin hieß bekanntlich dialektischer Materialismus.

Bestimmte Bildungsinhalte entziehen sich dem „Was bringt es später? Braucht man das?“ und das ist sehr wichtig. Dort findet das abstrahierte, reine Denken statt und dort findet sich der Raum zum intellektuellen Spielen.

Wenn ich z.B. einen Interpretationsaufstatz schreibe, ist das auch das abstrakte Üben des Aufsatzschreibens. Einleitung, Mittelteil, Abschluß, Beachten der geschlossenen Aufsatzform, Ausdruck, Grammatik, Textfluß, Orthographie, leserliche Handschrift.
Eine Interpretation ist gedanklich allderings anders aufgebaut, je nachdem, welchen Schreibstil man für die Deutung der rhetorischen Mittel verwendet. Auf diese Weise muß der Schüler auch zeigen, daß er die Sprache tätsächlich produktiv beherrscht, denn er muß die innere Logik seines Aufsatzes den Erfordernissen der Interpretation anpassen und kann nicht stur den gleichen Stiefel herunterschreiben wie z.B. im Erörterungsaufsatz.
Praxisbezug hin oder her, die Interpretation erfordert abstrakte, schwierige Verknüpfungs- und Synthetisierungsleistungen vom Gehirn, andere als die Erörtertung. Das schult die Sprache und das Denken.

Olle Schinken.

Das Schlimme bei diesen ollen Schinken: Manche bleiben erschreckend aktuell.

Und die NS-Zeit?

Tja, ich bin 1948 geboren und ich weiß, wie es hier nach dem Krieg aussah, wie lange der Wiederaufbau dauerte.

Daß einem das Thema ehrlich gesagt zum Halse heraushängt, ist dem mangelhaften Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit geschuldet.
Statt die faschistische Diktatur einmal richtig aufzuarbeiten und den Schlußstrich zu ziehen (ohne die Sache selbstverständlich zu verdrängen), kommt Hitlerdeutschland wie eine Gebetsmühle wieder und wieder. Laufend neue SS- und KZ-Enthüllungen, heute dies, morgen das. Es kocht, es schwappt über, es ist vergessen bis zur nächsten Enthüllung.

Bei der DDR ist es noch schlimmer. Die ostdeutsche Seite und die Lebensgeschichten der Menschen werden vollständig ausgeblendet, Opfergeschichten werden unglaublich einseitig überzeichnet, es ist immer Stasi, Partei und Mauer, die SED war ein gleichgeschaltetet, monolither Block bestehend aus schlimmsten Schergen und Leuten mit Gulag-Aufseher-Persönlichkeit usw. und dann die altbekannte gesellschaftstheoretische Analyse des Westens: Nazideutschland sei kein Faschismus gewesen sondern Totalitarismus, und deswegen stehe der Stalinismus, der ebenfalls ein totalitaristisches System war, in politischer Kontinuität zum Dritten Reich, die DDR war ein rotes Drittes Reich. Eine herrliche Reinterpretation, die der Geschichtsverbiegung des Staatsbürgerkundeunterrichts auf Augenhöhe begegnet. Und wie bei Nazideutschland: Die DDR-Aufarbeitung schleppt sich von einem auflageversprechenden kleinen Skandal zum nächsten.

Empfohlen sei Dir übrigens der Bühnenkünstler Serdar Somuncu.
Ich werde mir den auf Empfehlung unserer Tochter bei Gelegenheit einmal live anschauen.

Der hat z.B. auf der Bühne aus „Mein Kampf“ vorgelesen oder Goebbels’ Rede im Sportpalast 1943 thematisiert, um Parallelen und aktuelle Bezüge zur gegenwärtigen politischen Rhetorik aufzuzeigen.

Das könnte doch ein frischer Ansatz für Deinen NS-verdrossenen Deutschkurs sein. :wink:

reinerlein