Hallo Hans-Jürgen!
Die Fehlleistung des FAZ-Artikels beginnt schon mit der Überschrift - einfach nur daneben – und setzt sich mit der weitgehenden Unterschlagung des historischen Kontextes fort. Das Deutsche Reich bis zum Ende des ersten Weltkriegs war eine militaristische Monarchie, war Kolonialmacht mit Großmachtansprüchen und Rassismus als Normalzustand. Der Adel als Stand mit Vorrechten war in Militär und staatlichen Schlüsselstellungen präsent.
Mit dem Ende des Weltkriegs kollabierte die alte Ordnung. Von bis dahin als verdächtig geltenden Leuten wurde die Republik ausgerufen und die Verfassung eines demokratischen Gemeinwesens in Kraft gesetzt. Der Krieg hinterließ Versorgungsmängel, ruinierte Staatsfinanzen und harte Reparationsauflagen. Noch schlimmer: Im als Demokratie verfassten Staatswesen gab es kaum Demokraten, dafür aber große Gruppen, die ihre alten Futternäpfe zurück haben wollten. Das Spektrum reichte von Industriellen, für die der Militarismus des Kaiserreichs wie eine Gelddruckmaschine funktionierte, über Offiziere, die früher hoch geachtet nicht mehr gefragt waren (und die Dolchstoßlegende pflegten), bis zum Adel, dessen Angehörige nach Jahrhunderten mit Privilegien plötzlich gewöhnliche Bürger sein sollten. Not in weiten Bevölkerungsteilen (die „goldenen Zwanziger“ gab es allenfalls für eine homöopathisch dünne Schicht, sind ansonsten eine verlogene Legende), Hyperinflation, Weltwirtschaftskrise, mit Straßenschlachten und Toten einher gehende Wahlen und starke gesellschaftliche Kräfte, die mit Republik und Demokratie nichts am Hut hatten, lieferten den Nährboden für die Nationalsozialisten. Pöstchen, eine Uniform und Macht selbst für das kleinste Licht, endlich wieder international die Muskeln spielen lassen, Soldatentum galt wieder was, mit Kriegszeugs ließ sich wieder Geld verdienen, Adelskreise sahen ihre Chance gekommen, die Herren von und zu kamen wieder zu Einfluss und Lametta und mit den Juden gab es das schon vom Kaiser gepflegte Feinbild.
Auch unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg hatte sich am Dissens über die zukünftige staatliche und gesellschaftliche Ausrichtung Deutschlands wenig geändert. Wie auch, es waren ja noch die gleichen Menschen wie zuvor. Dass sich daraus kein ähnliches Szenario wie in der Weimarer Republik entwickelte, ist insbesondere der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung der ersten Nachkriegsjahrzehnte zu verdanken. Dass NSDAP-Größen die Parlamente, Verwaltungen und Justiz bevölkerten und das Führungspersonal der Bundeswehr aus vorher auf den Führer eingeschworenen Reichswehr-Offizieren bestand, störte lange Zeit kaum jemanden. Die Anschaffung eines Lloyd oder Käfers und der erste Fernseher mit Irene Koss und Familie Schölermann ließen Leidensdruck gar nicht erst aufkommen. Leidensdruck und Sorgen ausreichend breiter Schichten sind aber die Voraussetzung für die erfolgreiche Gründung einer politischen Partei.
Von etablierten Parteien ignorierte Sorgen vieler Bürger über Rüstungsorgien, wider besseres Wissen bestrittene Risiken der Kernenergienutzung und weitgehende Ignoranz von Belangen des Natur- und Umweltschutzes schufen die Voraussetzungen für die Etablierung der Grünen.
Die als undurchschaubarer Moloch erscheinende EU mit bis heute dilettantischer Öffentlichkeitsarbeit, zusammen mit etlichen tatsächlichen Unzulänglichkeiten, befeuert durch Missbrauch der Freizügigkeit innerhalb der EU und schließlich die offenkundige Überforderung staatlicher Stellen bei der Bewältigung des Zuwanderungsdrucks, bereiteten den Boden für die AfD. Jahrelang wurde der Zuspruch für die neue Partei durch erkennbar fragwürdige Hofberichterstattung etlicher Medien und hartnäckige Leugnung von Problemen durch staatliche Stellen befördert.
Während der kurzen Zeit zwischen Monarchie und diktatorischem Unrechtsstaat gab es zwar eine Verfassung, aber es fehlte am gesellschaftlichen Konsens über Staats- und Gesellschaftsform. Das ist heute anders. Von unbedeutenden Wirrköpfen abgesehen gibt es keine Gruppen mehr, die ein demokratisches Gemeinwesen als einzig zukunftsfähig ablehnen. Der Stand von Wissenschaft und Technik hätte schon zu Zeiten des Gröfaz zur Einsicht führen müssen, dass mit Versenken von Vermögen der Volkswirtschaft im Militär, mit Krieg und Unterdrückung kein Blumentopf zu gewinnen sein konnte, sondern nur mit freien Köpfen und prosperierenden Nachbarn. Aber so weit dachten damals zu wenig Menschen. Fast alles erschien besser für die eigene Situation als die ungeliebte Weimarer Demokratie.
Eine Parteigründung setzt Probleme voraus, die von der bestehenden Parteienlandschaft nicht ausreichend vertreten werden, aber vielen Menschen ernste Sorgen bereiten. Außerdem braucht `s möglichst medientaugliche, im Idealfall charismatische Leute mit ausreichend Freizeit. Aber Vergleiche mit der NSDAP braucht keiner.
Gruß
Wolfgang