Aus dem Handgelenk ein Beispiel ohne Quellenangabe: Bei der
Initiation der ägyptischen Pharaonen werden diese mit dem
mythischen ersten Pharao identifiziert. Und dadurch bekommen
sie ihre Legitimation. Ähnliches bei der Initiation des
Schamanen in sibirischen Stämmen.
Gut, danke, dann habe ich jetzt also das von mir gewünschte Beispiel. Was jetzt noch fehlt, ist eine leicht verständliche Erklärung, was das überhaupt bedeuten soll. Identifikation mit dem mythischen ersten Pharao? Er und der neue Pharao sind ein und dieselbe Person oder wie? Deine Links habe ich durchaus zu verstehen versucht. Beim Versuch ist es aber teilweise leider auch geblieben.
Das deutlichste Beispiel ist das sicherlich bekannte
christliche Transubstantiations-Ritual in der katholischen und
östlich orthodoxen Auffassung. Hier wird das aktuelle
Geschehen mit dem „Präzendezfall“ identifiziert (in der
Fachsprache: reaktualisiert) - und nicht nur symbolisch
aufgefaßt. Diese identifizierende Vergegenwärtigung ge4schieht
durch das Nachsprechen der entscheidenden Worte durch den
Priester („Dies ist mein Fleisch …“).
Dass das ein deutliches Beispiel ist, glaube ich gern. Leider hilft mir das insoweit nicht weiter, als ich ja nie verstanden habe, was die Katholiken damit überhaupt meinen. Ich habe nur mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, dass sie sich mit dem Protestanten über die Frage „Symbolisch oder nicht“ die Köpfe eingeschlagen haben.
Und überhaupt: Den Hang der Katholiken, ihren Glauben zu formalisieren und zu ritualisieren, habe ich ohnehin nie verstanden. Dieser berühmt-berüchtigte Bischof Williamson hat mal gesagt, man gefährde sein Seelenheil, wenn man die Messe nicht in genau dieser und jener Form gestalte. Ich habe mich da gefragt, warum Gott wohl auf dergleichen Wert legen sollte. Natürlich gehe ich davon aus, dass Williamson Gründe für seine Ansicht hat. Sie entziehen sich nur meiner Kenntnis und, wenn ich sie kennen würde, vermutlich auch meinem Verständnis.
Wie ich schon sagte (in der o.g. Publikation ist es das
Hauptthema): Diese mythische Zeit ist nicht irgendwann einmal
gewesen im Sinne unseres heutigen Begriffs historischer
„Realität“, die sich auf einer Zeitlinie anordnen läßt. Es
spielte sich nicht dann und dann ab, sondern „in illo
tempore“, „in jener Zeit“, die zunächst nur negativ präzisiert
wird: „Als noch nicht Himmel und Erde war und xyz noch nicht
war …“.
Wenn ich es richtig sehe, definierst du die mythische Zeit auch nur durch negative Abgrenzung. Du hast mir jetzt zwar gesagt, was das alles nicht ist, du hast aber nicht erklärt, was das ist.
Anders gesagt: Ich erwähnte ja die diesbezügliche
Analogie, die wir noch in Märchen überliefert finden. Wie
„real“ ist die Story von Jorinde und Joringel, und vor allem,
WANN spielt sie sich ab, das sie mit „Es war einmal“
eingeleitet wird. Wenn du es auch zum Schmunzeln findest, wenn
hier jemand fragen würde „Und wann genau war das nun?“, dann
hast du den Einstieg in das Verständnis mythisch-magischen
Denkens.
Ich finde diese Frage aber nicht zum Schmunzeln. Ich finde sie absolut berechtigt. Mit einer kleinen Einschränkung: Da ich davon ausgehe, dass Märchen rein fiktiv sind, kommt es nach meinem Dafürhalten letztlich nicht darauf an, wann genau sie spielen. Deswegen und nur deswegen müsste ich vielleicht ein wenig schmunzeln. Das Märchen hat für mich eine rein unterhaltende Funktion, es hängt nichts weiter daran. Ein Mythos dient aber nicht der Unterhaltung. Und er ist so gesehen ja auch nicht rein fiktiv, sondern bei richtigem Verständnis mit einer Aussage verbunden oder sogar mehreren, auf die es ankommt.
Letzteres mag ja sein, aber woraus schließt du, dass sie nicht
(irgendwann vor der Niederschrift) erfunden wurden? Irgendwo
muss doch jede Geschichte ihren Anfang nehmen, und wenn dabei
keine reale Begebenheit erzählt wird, dann handelt es sich
doch um eine Erfindung, oder?
Na gut, wenn du unbedingt willst, natürlich eine Erfindung,
was denn auch sonst? War ja bei dem erzählten Geschehen doch
keiner derjenigen dabei, die die Geschichte rezitieren.
Aber hier liegt doch eines meiner Verständnisprobleme: Ich finde, es macht schon einen gewaltigen Unterschied, ob eine Geschichte einfach nur erfunden ist, oder ob sie göttlich inspiriert wurde. Letzteres ist es aber doch, was in Bezug auf die Bibel behauptet wird. Wenn das stimmt, finde ich die Bibel ungemein wichtig. Wenn sie reines Menschenwerk ist, das mit Gott nichts zu tun hat, jedenfalls nicht mehr als etwa Goethes Faust, wo Gott auch eine Rolle spielt, finde ich sie allenfalls noch interessant. Ich verstehe die Ansicht von Christen gerade so, dass es sich bei den biblischen Geschichten eben nicht um eine Erfindung handelt, sondern um ein göttliches Diktat, ob nun wörtlich oder nur in groben Zügen.
Etwas ist dann „wahr“ bzw. in seiner
Existenz legitimiert, wenn es in eine Analogie mit dem
mythischen „ersten Mal“ gesetzt wurde. Ein Stammeshäuptling
ist dann als solcher legitimiert und ein wahrer Häuptling,
wenn er im Initiationsritual mit dem mythischen Stammesgründer
identifiziert wurde. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob man,
wie fast immer, von diesem überhaupt nichts weiß, und daß es
ihn sehr wahrscheinlich in diesem Sinne auch nie historisch
gegeben hat. Genau so, wie es Adam historisch nie gegeben hat.
Vielleicht gibt es hier User, die verstehen, was du meinst, und die versuchen, es mir mit noch anderen Worten zu erklären. Ich würde mich freuen, denn ich bin noch weit davon entfernt zu begreifen, was du sagst, und ich weiß aus Erfahrung, dass es oft hilft, mehrere Erklärungen zu bekommen, die voneinander unabhängig sind.
Das kommt, wie oeben gesagt, auf den Wahrheitsbegriff an, den
du hier in Anspruch nehmen willst. Es geht in der reliösen
Praxis des Umgangs mit Schöpfungsmythen auch nicht um die
„Wahrheit“ des Mythos, sondern um die „Wahrheit“ des
Geschehens, das im „hic et nunc“ mit ihm reaktualisiert werden
soll.
Wir aktualisieren die Schöpfung…?
In Kulturen, die einen zyklischen Zeitbegriff haben (und das
sind in der Antike vermutlich alle. Die israelitische war
vermutlich die erste, die einen linearen Zeit- bzw.
Geschichtsbegriff hatte), muß z.B. das Jahresende mit einem
Ritual versehen werden, durch das die zeitgleiche Initiation
eines neuen Jahres garantiert wird. In den vedischen
Religionen geschah das dadurch, daß man einen Altar aus 365
Lehmziegeln aufbaute und ein Feuer anzündete. Der Priester
spricht beim „Umgang“ um diesen Altar die Worte des
(Feuer-)Gottes Agni, der für die Schöpfung der Zeit
verantworlich war: „Ich mache die Zeit“.
Dieses Ritual muß durchgeführt werden, damit garantiert ist,
daß sich an das Ende des alten Jahres ein neues Jahr
anschließt.
Ich hoffe, du kannst nachvollziehen, dass ich nicht im Mindesten eine Ahnung habe, wie das gemeint ist. Ich habe von den zyklischen Zeitbegriffen schon gehört, aber verstanden habe ich das nicht. Wenn man den dargestellten Ritus nicht durchführt, was soll schon passieren? Fallen dann alle tot um oder wie?