Die Kirche von unten spielen

Hallo!

Was bedeutet „die Kirche“ von unten spielen.

Danke

Seit der Gemeinderat Oberammergau
ihn vor über 30 Jahren zum
ersten Mal zum Verantwortlichen für
die Passion wählte, spielt Christian
Stückl Kirche von unten.

Hallo @Nadja,
dein Text ist so kurz, dass mir der Zusammenhang nicht klar wird. Ich vermute, hier ist eine Veränderung in der katholischen Kirche gemeint. Die katholische Kirche ist sehr formal und hierarchisch organisiert. Veränderungen kommen oft als Beschlüsse von Bischöfen aus dem Hauptsitz des Erzbistums oder direkt vom Papst aus Rom. Diesen Weg nennt man von oben. Wenn die Mitglieder der Gemeinde oder rangniedere Geistliche etwas verändern, dann nennt man das eine Veränderung von unten.

Hier ist die sinnstiftende Bindung dann, dass Kirche von unten als feststehende Wendung gebraucht wird im Sinne von Veränderung der Kirche von unten. Und Christian Stückl setzt diesen Weg nach deinem Text offenbar um, indem er irgend etwas verändert. Das Verb spielen passt hier vielleicht nicht optimal, aber mir fällt gerade auch kein besseres ein.

Man sagt aber auf keinen Fall, er spiele die Kirche. Der Artikel kann nur bei Musikinstrumenten verwendet werden: Müller spielt das Klavier, Meier spielt die Orgel, Schulze spielt die Violine.

Spielen im Sinne von So-tun-als-ob verwendet man ohne Artikel: Wir spielen Doktor. Sie spielen Räuber und Gendarm. Die Kinder spielen Vater, Mutter und Kind.

Liebe Grüße
vom Namenlosen

Gleich neben Oberammergau liegt
Ettal, wo Internatsschüler der Benediktiner
jahrelang misshandelt oder
missbraucht worden sind. Manche
Opfer sind mit Oberammergauer Familien
verwandt. Dass nicht nur hier,
sondern auch in der Erzdiözese München
und Freising kaum ein Geistlicher
den Dienst quittieren musste,
obwohl Hunderte Mädchen und Jungen
im Münchner Gutachten als »Geschädigte
« bezeichnet werden, hat
nicht viel Überraschung ausgelöst.
Aber die Wut hat noch einmal zugenommen.
»Was mich fertigmacht, ist
das fehlende Unrechtsbewusstsein«,
sagt Stückl. »Selbst Leute, die ich gut
kenne, sagen: Ja, aber.« Ein hoher
Geistlicher habe ihm neulich erklärt,
den Tätern gehe es gar nicht gut. »Ich
habe oft getobt. Aber man trifft auf
eine Teflonschicht.«
Seit der Gemeinderat Oberammergau
ihn vor über 30 Jahren zum
ersten Mal zum Verantwortlichen für
die Passion wählte, spielt Christian
Stückl Kirche von unten. Der damalige
katholische Pfarrer, der Bürgermeister
und 1800 Dorfbewohner
hatten Unterschriften gegen ihn gesammelt.
Katholizismus und Oberammergau
waren Wörter für ein und
dieselbe Weltsicht – und Stückls
Wahl mit neun zu acht Stimmen der
Sieg einer jungen, verzweifelten Basis, die am alten Glauben zerren und gegen
das Geflecht aus Politik und Religion angehen
wollte.

Hallo Nadja,

zum Verständnis sind zwei Teile notwendig:

(1) „Kirche von unten“ war eine oppositionelle Bewegung in der DDR, in der evangelische Christen sich ab dem Kirchentag 1987 engagierten. Sie versuchten, die kirchliche Organisation zu mehr gesellschaftlichem und politischem Engagement zu drängen und nutzten gleichzeitig die relative Freiheit, die die evangelischen Kirchen in der DDR genossen, weil sie von der SED zwar immer kritisch, aber auch als staatstragende Organismen betrachtet wurden. „Kirche von unten“ hatte auf dem Weg über die Kirchengemeinden Zugang zu Räumen, die etwa zum unabhängigen „Nachzählen“ der Wählerstimmen bei der gefälschten Kommunalwahl 1989 benötigt wurden, und wurde auf diese Weise ein wichtiger Träger der Oppositionsberwegung 1989.

(2) „Etwas spielen“ ist ganz konkret das Rollenspielen von Kindern (Kosmonaut spielen, Polarforscher spielen, Hobbits gegen Orks spielen usw.), gerne übertragen verwendet, wenn sich jemand publikumswirksam in einer Rolle in Szene setzt, die vielleicht nicht so ganz zu ihm passt: „Sergej Lawrow spielt den Jedi-Ritter, der mit seinem Lichtschwert auf dem ganzen Europäischen Kontinent Gerechtigkeit und Freiheit wieder herstellt und die von den transatlantischen Mächten der Finsternis geknechteten Völker einer strahlenden Zukunft unter seiner Knute entgegenführt.“

Christian Stückl als Regisseur der Oberammergauer Passionsspiele hat diese dem Nimbus eines immer gleichen folkloristischen Spektakels der Volksfrömmigkeit entwunden und zeigt auf „seiner“ Passionsspiel-Bühne einen gegenwärtigen, präsenten Christus - interessanterweise ohne explizite Darstellung des auferstandenen Christus: Siehe, ein Mensch!

Hier ist eine Beschreibung, was bei den 2022er Passionsspielen an „Kirche von unten“ denken lässt:

Schöne Grüße

MM

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Chrisian Stückl ist Regiseur und Leiter der Oberammergauer Passionsspiele. Selbst ohne den Kotext zu kennen, würde ich sagen, dass „spielen“ hier sehr genau passt und sehr bewusst gewählt wurde, vielleicht sogar gerade wegen seiner Mehrdeutigkeit.

Gruß,
Max

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