Europa, und mehr noch die USA, Kanada und Australien sind für die meisten Menschen unserer Erde der Gegenwart Hoffnung, Ziel und Utopia für ein wahres Leben, sind Synonym für die eigentliche Welt.
Ein jugendlicher Berber erklärte mir oben im Atlasgebirge den Nachthimmel: Die langsamen Sterne, die Du siehst, schuf Gott, die schnelleren sind von den Russen und Amerikanern; und dort möchte ich hin, wenigstens nach Europa, in die richtige Welt.
Der Kampf gegen Amerika und gelegentlicher Verzehr von Coca-Cola sind nur das Mindeste und nur ein Minimum von Partizipation am wahren Leben, nur Integrationsersatz in die wahre Welt.
Nun tritt seit Menschengedenken die junge Generation in Opposition zur eigenen Tradition und überkommenen Lebensart, von der sich die Alten infrage gestellt sehen. Dies ist im „Westen“ nicht anders.
Der Sog in den Westen, aber auch das Selbstbewusstsein eines „Westlers“ ist dabei keineswegs allein bestimmt von der Sicht oder Aussicht auf Wohlstand und Reichtum, sondern von der Gültigkeit und dem Wert des Menschen im zivilisierten Miteinander.
Die vielen recht hilflosen und einander oft widersprechenden Versuche westlicher Philosophen und Soziologen, die Werte der westlichen Wertegemeinschaft zu beschreiben, veranlassten mich zu dieser kurzen Skizze in möglichst einfachen Worten und Gedankenbildern:
Was dem jungen Berber im Atlas wie auch dem Migranten als das Utopia des Westen vorschwebt und bewusst ist, sind natürlich kaum die essentiell wichtigen statischen Strukturen wie Gewaltenteilung, Grundgesetz, Menschenrechte wie minimaler und maximaler Bildungsstandart, Reisefreiheit usw…
Dies liegt zum Teil daran, dass der Westen und auch das neue Europa sich seit je eben nicht nach außen definiert, sondern ganz konservativ und menschlich das Außen am eigenen Standart misst: der Yuppie am eigenen Erfolg, der Kirchenchrist an der eigenen Kirche, der Evangelikale an der eigenen Gemeinde, der Moslem an irgendwelchen Islamthesen, der Kommunist an der eigenen Partei, der Globalisierungsgegner an Attac usw.
Zum Hauptteil liegt es aber daran, dass Europa, und mehr noch die USA ein dynamischer Prozess der Entwicklung und Auseinandersetzung ist, bei dem tausend der unterschiedlichsten Ideale, Forderungen, Kritiken und Bestrebungen technischer, politischer, kultureller und religiöser Art sowohl zentrifugal und kohäsiv die Medien wie die alltägliche Rede und Argumentation und auch Verhalten und Aktion bestimmen – und zwar als legale Normalität.
Was einst in vergangenen Jahrhunderten nur auf akademischer Ebene stattfand, erlebt man heute aufgrund der Medien, des Fernsehens und des Internets in allen Schichten und leider auf jedem Niveau.
Es ist ein ständiges Streben und Rangeln sowohl nach Selbstfindung wie nach Welteroberung oder Alleingültigkeit – und dabei leider ein sehr langsamer Prozess der Selbsterkenntnis.
Der Mensch kennt nur sich selbst,
insofern er die Welt kennt,
die er nur in sich und sich
nur in ihr gewahr wird.
Jeder neue Gegenstand,
wohl beschaut, schließt ein
neues Organ in uns auf.
J.W. v. Goethe
ganz herzlich
Friedhelm