Die Qual der Qual bei der Wahl

 
Unlängst fand ich eine Wahlbenachrichtigung in meinem Briefkasten vor. Doch nicht nur die liess mich in den letzten Tagen über die Bundestagswahl 2006 grübeln. Das ZDF-Politbarometer besagt, dass die CDU/CSU gen absoluter Mehrheit strebt und die SPD das „Projekt 18“ von oben angeht.
   Doch ich weiss nur den Kopf darüber zu schütteln, wenn ich mir dieses - Pardon, man kann es nicht anders nennen - blutleere und leidenschaftslose Gefasel unserer Politiker anhöre. Ich muss dann immer schnell wegschalten, damit der Würgereiz - nämlich die Person zur Besinnungslosigkeit zu würgen, damit sie anschliessend wenigstens einmal zu sich kommt - nicht zu gross wird.
   Das einzig Zählbare, das nach 16 Jahren CDU/CSU/FDP und 8 Jahren SPD/Grüne herauskommt, sind 24 Jahre Machenschaften von „denen da oben“, die uns als notwendig, als wichtig, als richtig oder verniedlichend als Reform statt Einschneidung, Kürzung, Wegnehmen und Streichung verkauft wird. Und jeder, der dies kritisiert, wird zum Besitzstandswahrer erklärt, weil echte Argumente fehlen.

Schon beginne ich zu ahnen, dass es mir das nächste Mal auf dem Weg zum Wahllokal entgegenplakatiert: „Diese Wahl wird Ihnen präsentiert von… Ich will so wählen, wie ich bin“, die Wahlkabinen sind mit Informationsbroschüren der Pharmaindustrie ausgelegt: „Ihre Stimme ist weg? - Was tun bei demokratischer Heiserkeit?“ und freundlich lächelnd - oder nicht doch hämisch grinsend? - nimmt der Wahlbüroleiter meine 10 Euro Stimmzettelentsorgungsgebühr entgegen.
   Kaum bin ich wieder auf der Strasse, nehme ich mir fürs nächste Mal wieder vor: Sich zu verwählen kann man sich nur noch beim Telefonieren leisten. 24 Jahre sind genug…!

Marco

hi marco,

na dann wähl doch einfach NICHT.

musst du ja nicht. es ist nicht PFLICHT.

find ich ehrlich gesagt nicht schlimm. eher auch 'n normal-entspannter potentieller-wähler-anteil (der nicht NUR mit versagen der regierungskräfte sondern auch mit zunehmendem SELBST-BEWUSSSEIN der souveränität der wähler steigt), und es ist legitime meinungsäusserung in demokratischer staatsform.
du verstehst? nicht-wählen als bewusste meinungsäusserung, entgegen dem klischee, dass nicht-wähler gleichgültige dummerjane seien.

lass es einfach mal sein.
mach dir einen netten tag, so meine meinung.
z.b. bei der kommenden europawahl.
du darfst das, in freier entscheidung

wenn man sich nunmal einfach nicht vertreten fühlt, weder von regierung noch opposition noch irgendwem, dann macht es ja auch keinen sinn, sich zwanghaft-am-ende doch für irgendwas zu entscheiden.

eine überlegung, die viele schonmal angestellt haben.
auch ich, auch wenn ich am ende des abwägens zu anderer entscheidung komme und mich dann doch aufgrund einiger WENIGER richtungsentscheidungen in „einem politischen lager“ zu hause fühle.

ein paar quer-gedanken noch zu deiner enttäuschung:

blut-leere und leidenschaftslosigkeit -wie du sagst- sind NICHT IMMER ein mangel an politischem talent.
denn es geht um gute gedanken, nicht um aufregung. oder?
blutSTAU und LEIDENSCHAFTlichkeit sind ja gerade auch was gefährliches, das in die FALSCHE RICHTUNG gehen kann.
siehe dein wunsch, die politiker, die du im tv siehst, zu würgen.
finde ich nicht gerade geprägt von demokratischem bewusstsein
oder, was meinen andere hierzu?

auch das wegschalten ist 'ne freie entscheidung. musst dich ja nicht mit politischen sendungen herumquälen, sieh was anderes!

auch musst du ja nicht CDU oder SPD wählen. einfach mal umgucken!
vielleicht findest du irgendwas kleines, wo die leute ähnlich denken und politiker würgen und wegschalten wollen
:wink:… (war nur spass, nein geh lieber einfach nicht wählen:wink:)

noch’n seitengedanke:

ist der von dir beschriebene zustand erst seit 24 jahren so?
sowas völlig neues?
vorher alles gut und seitdem alles schlecht?

die macht-verlockung ist halt nunmal so, dass dieses „oben-unten“-phänomen eigentlich immer wieder mal zum vorschein kommt.
ich meine aber immer: mal mehr, mal weniger.
ohne jetzt dezidiert mich an dieser stelle für irgendwas oder spezielle politische fragen auszusprechen

ich denke, demokratie beinhaltet auch ein
AUSHALTEN LERNEN.
es ist halt nix einfach-so-bestimmtes sondern muss sich immer wieder aufs neue bewähren. und es produziert AUTOMATISCH immer einen gewissen anteil rest-unzufriedenheit, einfach weil…
…man es nicht ALLEN recht machen kann.

hauptsache, das gewürge von „denen da oben“ FÜHRT NICHT WIRKLICH zum würgen DURCH „die da unten“.
meint i.i.a./christian

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Moin Marco,

   Kaum bin ich wieder auf der Strasse, nehme ich mir fürs
nächste Mal wieder vor: Sich zu verwählen kann man sich nur
noch beim Telefonieren leisten. 24 Jahre sind genug…!

hast ja alles nett formuliert, aber eine Frage gebe ich gerne zurück: Warum soll ich überhaupt zur Wahl des Europäischen Parlaments gehen? Hat sich in den letzten fünf Jahren irgendwas geändert, so daß das Parlament irgendeinen nennenswerter Einfluß hat?

Interessiert grüßt
Christian

Hallo Christian,

womöglich kommen wir damit an die grundsätzliche Frage, welchen Sinn überhaupt das Wählen ergibt. Zu einer Wahl braucht man eine Alternative, und die gibt es nicht. Denn wir haben es hier einmal mehr mit der Theorie auf der einen und der Praxis auf der anderen Seite zu tun.
   Vor dem Gesetz sind theoretisch alle gleich, aber praktisch ist es nicht so, wie wir wissen. [1] Jeder hat theoretisch das Recht, seine Meinung zu äussern, aber praktisch wissen wir, dass nur dessen Meinung vernommen wird, der genug Geld hat, um sie bezahlen zu können. Auch hat jeder theoretisch die Möglichkeit, eine Partei zu gründen und sich zur Wahl zur stellen, doch praktisch wissen wir, dass man keine Chancen hat, wenn man totgeschwiegen wird. (Das musste sogar die beinahe etablierte PDS in den letzten Jahren erleben. [2]) Ich kann es mir auch ganz einfach machen und einmal mehr auf Hans Herbert von Arnim verweisen. [3]

Was die Frage des EU-Parlaments anbetrifft, so habe ich in irgendeiner Sendung der vergangenen Wochen vernommen, dass das Parlament eigentlich nichts zu sagen hat und die Entscheidungen von einem kleinen Rat getroffen werden.
   Nun ja, ich stehe dieser EU sowieso ablehnend gegenüber, denn es geht ja nicht um die Vorteile für die Menschen, sondern um die Vorteile der EU als Wirtschaftsmacht; quasi eine Fusion der europäischen „Staats-AGs“.
   (Dass diese Gemeinschaft für uns - als Bevölkerung - vorteilhaft soll, kann ich nicht erkennen. So werde ich zum Beispiel an der grenzenlosen Grenze immer noch kontrolliert - zwar nicht mehr an, sondern dahinter -; der Verlust beim Tausch von DM zu Schilling war nie weltbewegend; meine Gefühlswelt muss enorm daneben liegen, wenn ich immer noch nur fühlen soll, dass ich schon vor Monatsende keinen Euro mehr im Portemonnaie erfühlen kann.)

Warum wählen? Warum trotzdem wählen? Man sollte dann wählen gehen, wenn man den Eindruck hat, damit noch etwas bewegen zu können. Mich persönlich verliess dieser Eindruck spätestens in den ersten Wochen nach der Bundestagswahl 1998.

[1] Aus aktuellem Anlass: Buch des in der Reportage „Maulkorb für den Staatsanwalt“ (http://www.geocities.com/althand/bouffier.html) gezeigten Frankfurter Staatsanwalts Wolfgang Schaupensteiner: „Korruption in Deutschland“ (http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/bookm…)

[2] So beispielsweise in der Diskussionssendung „Sabine Christiansen“:
Warum laden Sie die PDS nicht mehr zu Ihren Talkrunden ein?
(…)
S.C.: Lothar Bisky war zuletzt am 25. Mai zu Gast. Die PDS ist dann zu Gast, wenn sie oder ein Vertreter der Partei etwas Grundlegendes zum Thema der Sendung zu sagen hat.

[3] Prof. H. H. v. Arnim: http://www.hfv-speyer.de/VONARNIM/system.htm

Marco