Gibt es logische Fehler in der neutestamentlichen Passionsgeschichte, die ihre Glaubwürdigkeit ad absurdum führen?
Zunächst die Szene in Mk 15:
6 Aber anlässlich des Festes pflegte er (= Pilatus) ihnen einen Gefangenen freizugeben, welchen sie wollten. 7 Es lag aber ein gewisser Barabbas gefangen samt den Mitaufrührern, die im Aufruhr einen Mord begangen hatten. 8 Und die Menge erhob ein Geschrei und fing an, das zu verlangen, was er ihnen jedesmal gewährt hatte. 9 Pilatus aber antwortete ihnen und sprach: Wollt ihr, dass ich euch den König der Juden freigebe? 10 Denn er wusste, dass die obersten Priester ihn aus Neid ausgeliefert hatten. 11 Aber die obersten Priester wiegelten die Volksmenge auf, dass er ihnen lieber den Barabbas losgeben solle. 12 Und Pilatus antwortete und sprach wiederum zu ihnen: Was wollt ihr nun, dass ich mit dem tue, den ihr König der Juden nennt? 13 Sie aber schrieen wiederum: Kreuzige ihn! 14 Und Pilatus sprach zu ihnen: Was hat er denn Böses getan? Da schrieen sie noch viel mehr: Kreuzige ihn! 15 Weil nun Pilatus die Menge befriedigen wollte, gab er ihnen den Barabbas frei und übergab Jesus, nachdem er ihn hatte auspeitschen lassen, damit er gekreuzigt werde.
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Die in V.6 erwähnte historisch nicht belegte Sitte der Freilassung eines Gefangenen ist nach Ansicht der meisten Historiker als Erfindung des Markus anzusehen, deren tieferer Sinn nachfolgend im Barabbas-Kontext diskutiert wird.
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Zu Pilatus´ konziliantem Verhalten gegenüber Jesus: Dass der Prokurator jemanden mit dem Anspruch auf den Titel ´König der Juden´ (Mk 15,2) nicht wegen aufständischer Gesinnung zum Tode verurteilt, ist unwahrscheinlich und als Versuch des Evangelisten zu werten, die römische Obrigkeit moralisch zu entlasten. Nicht ganz so unglaubwürdig wirkt Pilatus´ weiches Verhalten gegenüber der jüdischen Menge. Recherchen haben mir gezeigt, dass Pilatus in seltenen Fällen dem Druck einer Volksmenge nachgab, auch wenn dies seiner gewalttätigen Natur widersprach (z.B. Ant. 18,55f.). Allerdings reicht das bei weitem nicht, um die Authentizität der Jesus-Verhandlung vor Pilatus im ganzen zu stützen; zwei Gründe nannte ich schon: die unhistorische Sitte der Freilassung und Pilatus´ unglaubwürdige Konzilianz gegenüber Jesus.
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Ein weiteres Indiz für die Fiktionalität von Mk 15,6-15 ist das Verhalten der jüdischen Menge. Laut 15,11 wiegeln die „obersten Priester“ die Menge auf, welche daraufhin wiederholt die Kreuzigung des Jesus fordert.
In Mk 11 heißt es über den ersten Einzug des Jesus in Jerusalem:
8 Da breiteten viele ihre Kleider aus auf dem Weg, andere aber hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. 9 Und die vorausgingen und die nachfolgten, riefen und sprachen: Hosianna! Gesegnet sei der, welcher kommt im Namen des Herrn! (…)
Da stellt sich die Frage, wieso das Volk 180-Grad-mäßig von Jesus-Begeisterung auf Jesus-Hass umschaltet und zweimal von Pilatus schreiend verlangt, den Jesus kreuzigen zu lassen, und dafür trotz Frage des Pilatus nicht einmal eine Begründung liefert , siehe unten (4).
Man könnte nun einwenden, dass die Menge sich aus irgendeinem Grund davon hat überzeugen lassen, dass eine Freilassung des Barabbas der Freilassung des Jesus vorzuziehen wäre, und deswegen auf Jesus´ Tod drängt. Das erklärt aber zum einen nicht die Heftigkeit des neuen Todeswunsches.
(4)
Zum andern enthält der Einwand einen logischen Denkfehler:
Um die Freilassung des Barabbas zu erreichen, muss das Volk nicht die Hinrichtung des Jesus fordern. Letzteres ist keine Bedingung für ersteres. Die (unhistorische) Freilassungssitte besteht nicht in einer Entscheidung für die Freilassung eines Gefangenen auf Kosten eines anderen, sondern in der Freilassung eines Gefangenen unabhängig vom Schicksal eines anderen. Auch bei Matthäus (Mt 27,21) setzt die Freilassung des Barabbas nicht die Hinrichtung des Jesus voraus, dort fragt Pilatus lediglich, welchen von beiden er freilassen soll.
Dem Prokurator stünde es im Rahmen dieser Konstellation allerdings frei, der Menge den Barabbas auszuhändigen und dann aber auch Jesus freizulassen, den er laut Mk 15 nicht für ausreichend schuldig ansieht. Besagter (unhistorischer) Brauch gesteht der Menge ja nicht das Recht zu, die Hinrichtung eines (anderen) Gefangenen zu fordern. Dennoch fragt Pilatus, nachdem er Barabbas freigegeben hat, die Menge, was er mit Jesus machen solle. Seine Frage, was Jesus denn „Böses getan“ habe (15,14), wird von der Menge nicht beantwortet, welche die Kreuzigung ohne jede Begründung fordert.
Dieses Konstrukt ist unlogisch und dient unzweifelhaft nur dazu, die Schuld am Tod des Jesus den Juden anzulasten.
In Joh 19 wird diese Strategie noch gesteigert, indem der Autor (bekannt dafür, den Bruch mit dem Judentum noch weiter zu treiben als die Synoptiker) die Juden auf eine Weise schildert, die nun vollends unglaubwürdig ist:
12 Von da an trachtete Pilatus, wie er ihn losließe. Die Juden aber schrieen und sprachen: Lässt du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn wer sich zum König macht, der ist wider den Kaiser.
(5)
Zum Namen des Barabbas:
In einigen Evangelienhandschriften wird er nicht einfach ´Barabbas´ genannt, sondern ´Jesus Barabbas´, und zwar in neun Manuskripten aus Griechenland, Syrien und Armenien. In seinem Matthäus-Kommentar, Abschnitt 121, lobt Origenes die Tilgung des Vornamens, weil er nicht zu einem „Übeltäter“ passe. In der lateinischen Übersetzung der ihm vorgelegenen griechischen Fassung des Mt heißt es:
(…) quem vultis dimittam vobis, Iesum Barabbam, aut Iesum qui dicitur Christus?
(= Wen soll ich nach eurem Willen freilassen: den Jesus Barabbas oder den Jesus, den man Christus nennt?)
Man kann also davon ausgehen, dass in den frühesten Versionen der Evangelien durchweg vom ´Jesus Barabbas´ die Rede war, da eine nachträgliche Einfügung des Vornamens unwahrscheinlicher ist als eine nachträgliche Tilgung. Auch in der heutigen Edition XXVIII des Matthäus-Evangeliums von Nestle-Aland liest man ´Jesus Barabbas´.
Übersetzt bedeutet Barabbas ´Sohn des Vaters´, was einem christologischen Attribut des Jesus entspricht.
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Auf der Basis der Identität der Vornamen beider Gefangener und der Entsprechung des Nachnamens des Barabbas mit einem christologischen Attribut des Jesus haben sich Theorien gebildet, denen zufolge beide Figuren ursprünglich eine einzige Figur waren (der christliche Jesus), die aus bestimmten Gründen nachträglich verdoppelt wurde.
Eine dieser Theorien lautet:
In der frühesten christlichen Überlieferung kursierte die Legende, dass das den Jesus bewundernde jüdische Volk in Jerusalem vergeblich die Freilassung des Jesus forderte, der den Beinamen ´Sohn des Vaters´ (Barabbas) trug. Diese Forderung wurde nicht im Zusammenhang mit einer jährlichen Amnestie erhoben, wie im Mk beschrieben, sondern geschah spontan. Als das Christentum im Zuge seiner Ausbreitung ins Römische Reich vor der Notwendigkeit stand, seine Ursprungslegende an ein römisches Publikum anzupassen, musste der Römer Pilatus als Verantwortlicher für die Hinrichtung des Jesus entlastet und die Schuld auf eine dritte Partei, die Juden, verlagert werden. Dabei wurde die jüdische Forderung nach der Freilassung des Jesus Barabbas nicht gänzlich getilgt. Vielmehr wurde diese Figur aufgespalten in einen guten und einen bösen Jesus Barabbas (´Räuber´). Der böse Barabbas wird von den nunmehr ebenfalls ´bösen´ Juden aus der Gefangenschaft freigewünscht und der gute auf ihren Wunsch hin getötet. Pilatus steht, was der Zweck der Übung ist, als Unschuldiger da.
Das erklärt auch die Erfindung der Freilassungs-Sitte, ohne die das Konstrukt nicht funktioniert, und den für das Konstrukt ebenfalls erforderlichen Umschwung der Volksmenge von Jesus-Verehrung zu Jesus-Hass.
Und wie sieht das die hiesige Gemeinde?