Liebe Karin!
http://www.exit.ch/wDeutsch/aktuelles/archiv_2006/20…
„Bezüglich Gase eignen sich vor allem inerte Gase
(z. B. Argon oder Helium). Sie sind farb-, geruch- und
geschmacklos; auch sind sie nicht im eigentlichen Sinne
giftig, sondern sorgen in hoher Konzentration als Stickgase
für die Verdrängung des zur Atmung notwendigen Sauerstoffes.
Da ihre Anwesenheit bzw. das durch sie erzeugte Fehlen des
notwendigen Sauerstoffes in der Atemluft mit menschlichen
Sinnesorganen nicht wahrnehmbar ist, treten keine
Erstickungsgefühle auf. Der Sterbewillige gleitet, ohne es zu
merken, in ein Koma und stirbt kurze Zeit später.“
Vorab eine Verständnisfrage (auch weil mein PC das Video des SF nicht öffnen kann): Sind die Angaben der eingangs genannten Links, die bei der „Helium-Methode“ einen zehnminütigen Todeskampf benennen bzw. suggerieren, reine Lüge, oder ist die hier als Zitat übernommene Aussage, der Sterbewillige würde schmerz- und ahnungslos ins Koma gleiten schlicht so zu verstehen, dass der Todeskampf erst nach der Bewusstlosigkeit einsetzt, aber doch vorhanden ist („kurz“ meint dann eben die besagten 10 Minuten).
Meine Meinung:
Ich finde es ziemlich skandalös, dass man in den besagten Texten, Dignitas vorwirft, sie würde durch ihre „Helium-Methode“ mutwillig die Ebene der ärztlichen Verschreibung umgehen. Das vertauscht vollkommen Ursache und Wirkung, denn in der Tat scheint ja gerade das Recht des assistierten Suizids, welches in der Schweiz besteht, unterhöhlt werden sollen, da anscheinend die „Hürde Arzt“ immer höher gesetzt wird, indem diese sich auf die für sie sehr bequeme aber m.E. völlig verantwortungslose Position des Hippokratischen Eids zurückziehen.
Gleiches trifft auf den lächerlichen Vorwurf zu, Dignitas habe unethisch gehandelt als zwei Sterbewillige auf einem Parkplatz „suizidiert wurden“ (ein auf schöne Weise paradoxes Begriffsgebilde), nachdem dies vorher an allen möglichen Orten untersagt wurde.
Auch hier also ein völlig krude Vertauschung von Ursache und Wirkung, die -insofern sie in den Medien unkritisch transportiert wird- in der Tat den Charakter einer widerlichen Kampagne zu haben scheint.
Mich selbst macht es absolut wütend und ich finde es
menschenverachtend, wenn Menschen (und mir selber) ein
erträgliches und eigenbestimmtes Sterben, durch die Politik
verweigert wird, wie stellvertretend ein Urteil in Frankreich
wieder gezeigt hat:
http://www.rp-online.de/public/article/aktuelles/pan…
http://www.zeit.de/news/artikel/2008/03/17/2496685.xml
Ich finde, man muss die Problematik unbedingt von dieser Einzelfall-Ebene herunterholen, welche der Fall in Frankreich leider wieder einmal beschwört, wie man etwa an Idomeneos Posting sehen kann, auf das ich jetzt nicht extra eingehen möchte, auch wenn es eine gute Diskussionsbasis wäre.
Als Einzelfall wird die Grundproblematik des selbstbestimmten Lebens und Sterbens sich nicht gegen die immergleich beschworene Euthanasie-Missbrauch-Gefahr durchsetzen können. Das schulterzuckende „ist halt Tragik“ wird solange bleiben, solange der absurde Eindruck besteht, es ginge um Einzelfälle, die der gesellschaftspolitischen Ratio zu Liebe zurückstehen könnten, so leid einem der Einzelne auch tue.
Meines Erachtens ist die Sterbehilfe zu diskutieren auf drei Ebenen:
-
Auf der Ebene der Grundrechte: das Menschenrecht auf ein Leben in Würde ist offensichtlich fatal verkürzt, wenn es nicht genauso ein Recht auf ein Sterben in Würde (und Selbstbestimmung ist ganz sicher eine Dimension dessen) beinhaltet.
Meines Erachtens würde ein umfassendes Recht auf Leben+Würde der von Idomeneo angesprochenen ökonomisch und ideologisch motivierten „Verfügungsgewalt“ über das Leben mehr entgegensetzen als die Aufrechterhaltung eines Tabus (die „Büchse der Pandora“ mit der Gewalt der Angst vor Missbrauch geschlossen zu halten), da der Respekt vor dem selbstbestimmten Leben unabdingbarer Teil des Respekts vor dem Leben ist, da mag die sicherlich schwierige Frage der „Freiwilligkeit“ dieser Selbstbestimmung noch so schwer wiegen.
-
Medizinisch: die Apparatemedizin hat uns an den Punkt gebracht, an dem immer wieder -und künftig mit dem medizinischen Fortschritt auch immer mehr- Entscheidungen über Leben und Tod geführt werden müssen, ob wir das wollen oder nicht.
Die Büchse der Pandora ist also längst geöffnet, es wird immer mehr von medizinischen und rechtlichen Expertendefinitionen abhängen, wann die Apparate abgeschaltet werden müssen, weil offensichtlich willkürlich festgelegt werden muss, wann der Tod eingetreten ist bzw. eintreten darf, und dafür gibt es keine Kriterien als eben die als solche festgesetzten.
Die Ärzte werden sich in einigen Jahrzehnten nicht mehr einfach so auf ihr antikes Ethos berufen können, das Leben um jeden Preis zu verlängern, weil es sich a) immer weiter verlängern lassen wird, und weil b) auch ökonomisch der Preis dafür immer höher und inakzeptabler werden wird, je weiter das Leben sich verlängern lässt.
Wie Hermann Burger in seinem „Tractatus logico-suicidalis“ als These No. 1 richtig schreibt: „Es gibt keinen natürlichen Tod“, es gibt ihn nicht mehr, möchte man hinzufügen.
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Ethisch: zweifellos ist das Tabu des Selbstmords massiv von der ablehnenden Haltung der großen Religionen geprägt. Ein laizistischer Staat muss diesen Einfluss brechen um eine Pluralität der religiösen und ethischen Bezüge garantieren zu können - dazu gehört meines Erachtens ganz zentral auch die Frage über die Selbstbestimmung seines eigenen Todes. Auch hierzu kommt mir Burgers These No. 999 in den Sinn: Der Selbstmörder „ist das Karzinom Gottes“.
Eine aufgeklärte Gesellschaft muss sich vom Tabu des Selbstmords lösen können, auch wenn damit die Problematik der Euthanasie nochmal ein Stück komplexer werden mag (massiv vorhanden ist diese Problematik aber sowieso, wie dies der Verweis auf das exemplum horribile des NS gerade -ungewollt- herausstellt!).
Während viele Mythensysteme und Kulturen zumindest für einige Menschen die ritualisierte Selbsttötung zulassen (auch wenn dies dann fast immer inakzeptablerweise mit dem Gedanken des Ehrverlusts verbunden zu einer Art Selbstmord-Pflicht wurde), breitet unsere -ihrem Anspruch an sich selbst nach- aufgeklärte Gesellschaft ein universelle Tabu darum - agiert also gerade mit mythischen Mitteln, nicht mit aufgeklärten.
Noch einmal zurück zur „Einzelfall“-Problematik:
Es geht absolut nicht um Einzelfälle:
Die Zahl der anerkannten Suizidfälle in Deutschland liegt über 10.000 pro Jahr, betrachtet man die Dunkelziffer kann man sich leicht vorstellen, dass das deutlich zu niedrig gegriffen ist.
Die Zahl der Suizidversuche liegt bei weit über 100.000 pro Jahr, hier dürfte die Dunkelziffer noch viel stärker ins Gewicht fallen.
Das sind Zahlen, die in ihrer Größenordnung nach einer rechtlichen Anerkennung unbedingt verlangen, so schwierig diese auch immer sein mag, die jetztige wird der Problematik jedenfalls absolut nicht gerecht, weil sie den Selbstmord nicht verhindern kann, sondern nur in die Grauzone und in die (Selbst)Grausamkeit schickt.
Es ist ethisch aus meiner Sicht vollkommen unzumutbar, Menschen zu nötigen, ihrem Leben mit äußerst gewaltsamen Mitteln (Erhängen, Sprung in die Tiefe, vor den Zug werfen) und dazu noch auf entwürdigend klammheimliche Weise und unter antizipativ-bedrückenden Umständen ein Ende zu setzen, nur weil alle „geeigneteren“ und würdigeren Wege untersagt sind.
Diese Zahlen zeigen auch, dass die Problematik der Selbsttötung auch nicht auf die Sterbehilfe verkürzt werden sollte:
Es darf keine zwei-Klassen-Regelung gefordert werden, die nur der Klasse derjenigen, die sowieso schon sterbenskrank sind, einen zumutbaren Weg zum Suizid ebnet, dies aber all den vielen anderen untersagt.
Auch der „normale“ Mensch muss das Recht haben, in Würde aus dem Leben zu scheiden anstatt sich wie ein kranker Hund in die Tiefe stürzen zu müssen - und dabei die Antizipation des erschreckten und bestürzten Blicks derjenigen, die ihn finden, ertragen zu müssen, inklusive der ganzen Schuldgefühle, die daran geknüpft sind, und unter denen er sogar Jahre vor seiner Selbsttötung schon leiden kann.
(Dass die gewaltsame Art der Selbsttötung auch in vielen Fällen eine ausagierte Form des Vorwurfs und der Grausamkeit gegenüber den Findern und Angehörigen ist, ist mir klar.)
Und zu guter Letzt sollte auch die Art der psychischen Belastung der Angehörigen und Freunde von Selbstmördern oder auch nur Selbstmordgefährdeten nicht vergessen werden, die sicherlich in ihrer Qualität massiv davon abhängt, ob der Betroffene die Möglichkeit hat, in aller Offenheit selbstbestimmt und würdevoll aus dem Leben zu scheiden, oder ob er sich klammheimlich und ohne Abschied nehmen zu können wie eine ausgenommene Schweinehälfte an einen Strick hängen muss.
Damit kommt nämlich nochmal eine ganz andere Größenordnung von Betroffenen-im-erweiterten-Sinn ins Spiel, die meines Erachtens nachdrücklich zeigt, dass man eine vernünftige gesetzliche Regelung nicht einfach dauerhaft mit einem wiederholten Hinweis auf Missbrauchsmöglichkeiten aussitzen kann.
Es geht einfach nicht um die Tragik des Einzelfalls, es geht um eine immens viel körperliches und psychisches Leid erzeugende gesetzliche Regelung - und zwar nicht nur für ein paar Leute, sondern für hunderttausende.
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Wie konnte es geschehen, dass es nach dem Erscheinen von Goethes Werther zu einer Selbstmordwelle kam und beim Erscheinen meiner Tagebücher eine Antiselbstmordwelle einsetzte?
(Anaïs Nin)_