Hallo Urs,
Kürzlich hatte ich sehr eindrückliches Erlebnis: Ich wurde als
Seelsorger zu einer Mutter gerufen, die im 6.
Schwangerschaftsmonat ihren ersten Sohn geboren hatte. Das
Kind starb gleich nach der Geburt. Als ich etwa anderthalb
Stunden später an das Bett trat, lag da die Mutter mit dem
toten Sohn auf ihrem Oberkörper. Sie weinte nicht - erschöpft,
duldend, ihrem Schicksal ergeben, lag sie einfach da.
aus meiner Sicht verallgemeinerst Du das Erlebte (das sicherlich sehr eindrucksvoll geschildert ist) viel zu sehr und viel zu schnell:
wie wohl viele wundere ich mich, was die biologischen (in
Abgrenzung zu den durch die Gesellschaft verursachten)
Verhaltens-Unterschiede der Geschlechter ist.
Ich wundere mich nun, ob nicht der weibliche Teil unserer
Gesellschaft ein „Dulder-Gen“ hat
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ist es überhaupt nötig, zur Erklärung des Verhaltens dieser Frau, auf die biologische Ebene zurückzugehen? oder sind kulturelle Verhaltensmuster als Erklärung dafür nicht völlig ausreichend?
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wäre nicht die zwingende Konsequenz aus dieser reduktionistischen Annahme die weitere Annahme, dass diejenigen Frauen, die in solchen Situation anders reagieren (und die gibt es fraglos), oder die überhaupt die Mutterschaft ablehnen, einen entsprechenden Dulder-Gen-Defekt haben müssen? Wenn ja, wäre im Befund eines solchen Defekts nicht immer schon ein normative Haltung eingenommen?
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wäre das nicht einfach die Reduktion des „Wesens“ der Frau auf die Mutterschaft? Frau-Sein bestimmt durch (die Fähigkeit zu) Schwangerschaft und Geburt?
Ich glaube, dass Männer nicht in der Weise dem Dulden-Müssen
biologischer Umstände ausgesetzt sind wie Frauen. Dabei denke
ich einerseits an die Menstruation mit allen
Nebenerscheinungen, anderseits aber auch an Schwangerschaft
und Geburt. Es nimmt einfach seinen Lauf und muss erduldet
werden.
Sowohl aus Selbstbetrachtung wie auch aus diversen
Diskussionen habe ich erhebliche Zweifel daran, dass Männer
mit dieser Art des biologischen Ausgeliefert-Seins gleich gut
wie Frauen umgehen könnten.
Sicher, Frauen können nicht
wählen - aber sie haben etwas in sich, was sie zur
„Dulder-Leistung“ befähigt: Ein „Dulder-Gen“?
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Schließt Du in Deiner Frage nicht einfach sinn- und informationslos von einer reinen Faktizität („ist halt so!“), auf eine zu Grunde liegende Disposition, nicht anders als das antike aristotelische Denken, das aus dem Erlebnis, dass ein Stein fällt, wenn er aus einer Höhe herabgeworfen wird, darauf schloß, dass der Stein etwas in sich hatte, das zur Tiefe strebte?
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Dein Argument bzw. Frage hier ist tautologisch, und wäre damit als Argument untauglich; es ist vollkommen informationslos, dass Männer dem „Dulden-Müssen“ nicht so ausgesetzt sind, wie Frauen, wenn Du das „Dulden-Müssen“ gerade an diesen weiblichen Erfahrungen der Menstruation, der Schwangerschaft und der Geburt festmachst … Problematisch wird dies dann, wenn Du das auf ein allgemeines „Dulden-Müssen“ verallgemeinerst.
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Problem dieser Verallgemeinerung: auch Männer sind fraglos einer Vielzahl „biologischer Umstände“, ich würde lieber von existentiellen Erfahrungen sprechen, ausgesetzt: dem Tod anderer, der beständigen Antizipation des eigenen Todes, Verletzungen und Behinderungen, Alterungsprozesse, Krankheiten, Stressoren, zu anderen Zeit und auch heute an vielen anderen Orten: Hunger und Elend, Kriege, Naturkatastrophen, etcetc., die es alle deshalb zu dulden gilt, schlicht weil es keinen anderen Weg als die Duldung dafür gibt.
Ich will damit a) nicht die Bedeutung der Menstruation und der Schwangerschaft relativieren (sicherlich sind das existentielle Erfahrungen, aber was wäre ihre unvergleichliche Besonderheit unter den eben genannten anderen, die es rechtfertigen würde, sie ins Zentrum zu stellen?), aber doch b) auf die Fragwürdigkeit hinweisen, ob angesichts dieser Vielzahl an „biologischen Umständen“, denen alle Menschen ausgesetzt sind, sich auf der Grundlage der wenigen geschlechtsspezifischen Umstände ein allgemeines „Dulder-Gen“, also eine allgemeine psychische Disposition zum Ertragen des biologisch Unvermeidlichen, erschließen lässt, die Frauen eher hätten als Männer.
Kurz gesagt:
Zu sagen, dass Frauen eine Disposition zum Ertragen der Menstruation haben, ist immer richtig, aber gerade deshalb völlig informationslos;
zu sagen, dass Frauen auf Grund von Menstruation, Schwangerschaft, Geburt anders als Männer eine allgemeine Disposition zum Ertragen der biologischen Faktizitäten haben, wäre in der Tat informationshaltig, ist aber m.E. vollkommen unhaltbar.
Nochmal anders gesagt:
Zweifellos erleben Frauen und Männer diejenigen existentiellen Erfahrungen, die sie überhaupt gemeinsam erleben können, wie oben genannt, erwiesenermaßen durchaus unterschiedlich;
Da aber klar zeigbar ist, a) dass hierbei die Übergänge hochgradig fließend und überlappend sind (also gerade nicht die Geschlechterdichotomie abbilden), und dass b) die Modi dieses Ertragens solcher Dinge wie Tod, Krankheit, Alterung, etc. kulturell und historisch hochgradig variieren (auch in ihrer Geschlechterspezifizität) lässt sich m.E. eine biologische Fundierung für die geschlechtsspezifische Unterschiedlichkeit der „Duldsamkeit“ vollkommen ausschließen.
Ein solches „Gen“ könnte für mich auch verschiedene (aktuelle
und vor allem auch historische) gesellschaftliche Situationen
und Entwicklungen verstehen helfen.
M.E. ist eine biologische/evolutionstheoretische Erklärung bestimmer historischer und gesellschaftlicher Dinge niemals eine Erklärung, sondern grundsätzlich eine ideologische Verklärung.
Viele Grüße
Franz