Hallo Urs,
auch wenn ich das von Dir beschriebene Erlebnis berührend
finde, halte ich die Reaktion - bzw. augenscheinliche
Nicht-Reaktion der Mutter - in einer solchen Situation ebenso
normal wie einen heftigen Heulkrampf oder einen völligen
Zusammenbruch. Als Außenstehender, der die Hintergründe (hier
z. B. Risikoschwangerschaft, lebensbedrohliche Erkrankung des
Fötus, etc.) nicht kennt, erlebt man die Situation manchmal
als geradezu gespenstisch. Im sechsten Schwangerschaftsmonat
(also zwischen der 21. und 24. SSW) geborene Babies gelten als
extrem unreife Frühchen und haben entsprechend schlechtere
Startvoraussetzungen: zwar überleben ca. 70-75 % der in der
24. SSW geborenen Kinder, aber sie behalten in den meisten
Fällen erhebliche Schäden. Sogar die Gesellschaft für
Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin empfiehlt
offziell den Einsatz lebenserhaltender Maßnahmen erst ab der
vollendeten 24. SSW und auch dies nur dann, wenn keine
lebensbedrohlichen Gesundheitsstörungen vorliegen. Ich merke
gerade, ich schweife ab, sorry…
Dieses Duldende, Erduldende hat mich nicht mehr los gelassen.
Dich beschäftigt offenbar in erster Linie die Frage, warum die
Frau nicht geweint hat (so verstehe ich zumindest), sondern
einfach nur schweigend und ‚duldend‘ mit ihrem toten Baby da
lag. Nun… Ich denke, es war ihre Art, sich von ihrem Kind zu
verabschieden und das Geschehene zu realisieren. Tränen werden
mit Sicherheit noch kommen.
Ich wundere mich nun, ob nicht der weibliche Teil unserer
Gesellschaft ein „Dulder-Gen“ hat
Neee… Wenn es ein solches Gen gibt: ich habe ihn nicht.
Ich glaube, dass Männer nicht in der Weise dem Dulden-Müssen
biologischer Umstände ausgesetzt sind wie Frauen. Dabei denke
ich einerseits an die Menstruation mit allen
Nebenerscheinungen, anderseits aber auch an Schwangerschaft
und Geburt. Es nimmt einfach seinen Lauf und muss erduldet
werden.
Die Menstruation ist ein nerviges Übel, aber es ist nun einmal
so, seitdem es Menschen auf dieser Welt gibt - wir Frauen
kennen es nicht anders, insofern würde ich nicht von einer
‚(Er)Duldung‘ sprechen. Dagegen kann frau gegen
Schwangerschaft (somit auch gegen die Unnannehmlichkeiten
einer Geburt) durchaus etwas unternehmen.
Sowohl aus Selbstbetrachtung wie auch aus diversen
Diskussionen habe ich erhebliche Zweifel daran, dass Männer
mit dieser Art des biologischen Ausgeliefert-Seins gleich gut
wie Frauen umgehen könnten.
Das könnte daran liegen, daß Männer eine niedrigere
Schmerztoleranzschwelle haben. Dafür habt Ihr aber Haare auf dem Rücken -
OK, manche von Euch. *schmunzel*
Ein solches „Gen“ könnte für mich auch verschiedene (aktuelle
und vor allem auch historische) gesellschaftliche Situationen
und Entwicklungen verstehen helfen.
Warum willst Du uns unbedingt ‚einreden‘, wir seien von Mutter
Natur per se zu (Er)Dulderinnen gemacht worden? Das ist nicht
der Fall. Natürlich können wir biologische Gegebenheiten wie
die Menstruation nicht ändern. Aber: in patriarchischen
Gesellschaften wurden Frauen im Laufe der Geschichte -
Vorreiter war auch hier die katholische Kirche (siehe
http://www.ibka.org/artikel/ag98/frauen.html) - konsequent in
die Rolle der personifizierten Bösartigkeit, die gefälligst
den Mund zu halten und um ihres Seelenheils Willen alle
‚Prüfungen‘, die das Schicksal ihr bringt duldsam zu ertragen
hat, gedrängt. Diese antiquierte Vorstellung schleppen viele
Frauen heute noch mit sich herum. Selbstverständlich gab es
auch schon immer Frauen, die der ihnen von den Männern
zugedachten Rolle nur wenig abgewinnen konnten - viele
landeten auf dem Scheiterhaufen, einige haben ein Leben in
Verkleidung (die frühen Drag-Kings sozusagen) gewählt.
Zum Schluss noch eine Frage, die mich brennend interessiert:
wie bist Du als Unternehmensberater zur Seelsorge gekommen?
Grüße
Renee