In Bezug auf die bisherigen Artikel sitze ich etwas zwischen den Stühlen, weshalb ich hier oben im Artikelbaum antworte, ohne mich ausschließlich auf den Ausgangsbeitrag zu beziehen (daher auch die ermüdende Länge).
ich habe gerade im „Europamagazin“ im ARD um 16:30 einen
Bericht über Ehrenmorde in Südanatolien gesehen. Sachlich
wurde da berichtet, das es in Südanatolien jedes Jahr
insgesamt über 5000 Vorfälle im Zusammenhang mit „Blutrache“
gibt. Davon wären wöchentlich allein 5 Morde zu verzeichnen.
Das ist leider Realität. Aber es besteht die Gefahr hier Dinge zu vermischen, die nicht zusammengehören. Es ist Realität in Südanatolien. Eine Realität, auf die die deutsche Politik nicht unmittelbar reagieren kann und es auch nicht versuchen sollte.
Entscheidend aus deutscher Sicht - mit Hinblick auf den EU-Beitritt - ist, dass die Täter gefasst und ihrer Strafe zugeführt werden, weil sich dadurch die Türkei der europäischen Rechtsordnung nähern würde. In diesem Punkt sehe ich noch erheblichen Nachholbedarf, weil der Ehrenmord vor Ort nicht die nötige entschiedene Ächtung erfährt. Dies führt zu der Frage, ob Deutschland über das Rechtssystem hinaus auch versuchen sollte, auf das türkische Wertesystem einzuwirken.
Diese Frage wird heute meist vorschnell beantwortet, weil viele intelektuell kurzatmige Politiker in Bezug auf die EU sehr flapsig den Begriff „Werteordnung“ gebrauchen. Tatsächlich ist er Synonym für Konformität in all ihren Ausprägungen. Eine Werteordnung hat es in einer pluralistischen Gesellschaft nie gegeben, denn bei solchen handelt es sich um Rechtsordnungen. Die bislang konsequenteste Umsetzung einer Werteordnung stellte das Dritte Reich dar.
Übereinstimmung oder Diskrepanz in Fragen der Werte kann als Entscheidungskriterium für den EU-Beitritt gelten, aber nicht zum Gegenstand politischer Veränderungsbestrebungen gemacht werden.
Ich wollte es kaum glauben. Die Untaten von „entehrten“
Brüdern und Vätern in der Bundesrepublik hatte ich als
verspinnerte Einzelaktionen weniger archischer Hinterwäldler
angesehen.
In westlichen Gesellschaften ist es auch in der Tat ein Randphänomen.
Wie kann man es zulassen, das die Medienfreiheit
„Hasspredigten“ via Sattelit bis Buxtehude liefert.
Damit schneidest Du ein vollkommen neues Thema an. Wenn ich unterstelle, dass Du „Hasspredigten“ auf anti-westliche fundamentalistische Inhalte beziehst, hat das nichts mehr mit der Problematik der Ehrenmorde zu tun (soweit es die politischen Handlungsspielräume betrifft, auf eine Ausnahme komme ich noch zu sprechen).
Zahlreiche Behörden und ihre Aufragnehmer bemühen sich redlich darum, es nicht zuzulassen, dass solche Inhalte in unserem Einflussbereich unbehelligt verbreitet werden. Sofern dies vorkommt, wird es in der Regel kurzfristig unterbunden und bestraft. Der Eindruck, die Täter stünden unter dem Schutz der Publikationsfreiheit, ergibt sich daraus, dass wir über Satellit und Internet vielen Inhalten ausgesetzt sind, die außerhalb des Gültigkeitsgebiets unserer Rechtsordnung veröffentlicht wurden. Ein Grund, dieses Gebiet auf die Türkei auszudehnen. Die Tatsache, dass deutsche bzw. europäische Gesetzte in ihrer Anwendbarkeit regional begrenzt sind, ist so evident, dass ich mich wundere, wie man sie zur politischen Agitation verwenden möchte.
Das Kopftuch als Unterdrückungssymbol müsste von der Gesellschaft
genuso geächtet werden.
Neuer Satz, neues Thema.
Ist das Kopftuch ein Symbol? Mit Sicherheit, weil es wohl nicht aufgrund offensichtlicher Notwendigkeit, wie etwa Kälte, getragen wird. Dazu muss man bedenken, dass jeder Mensch dazu neigt, seinen Körper mit Symbolen zu versehen und dabei oft auch leugnet, es handle sich um Symbole. Dazu zählen Kravatten, Piercings, Make-Up etc, ganz abgesehen von Kreuzen um den Hals.
Ist es im Koran verankert? Der Koran als Schriftstück und der Islam als Religion bieten dem Gläubigen große Spielräume, ihre Inhalte zu interpretieren. Schon aus religiöser Sicht ist die Entscheidung daher völlig offen. Ich persönlich meine, dass der Koran mit Sure 33, Vers 60 das Gebot zum Tragen des Kopftuchs enthält.
Darüber hinaus kann diese Frage nicht als Argument dienen, in einer Diskussion, die Du selbst auf politische Optionen reduziert hast. Ob es aus irgendjemads Sicht im Islam erwünscht ist, Kopftuch zu tragen oder nicht, kann nicht Kriterium für das Verbot eines Symbols sein.
Ist es ein Symbol für die Unterdrückung der Frau? Ich würde das mit Nein beantworten, muss aber sagen, dass diejenigen, die hier bisher dieselbe Antwort gegeben haben, die Angelegenheit etwas zu blauäugig betrachten.
Zunächst muss man sich fragen, ob das Tuch an sich eine Ideologie der mangelnden Gleichstellung von Mann und Frau repräsentieren kann. Das ist sicher nicht der Fall, weil das Tuch eben alles andere als eindeutig eine Gesinnung abbildet sondern viele Motive vorliegen können.
Es kommt also auf die Haltung der Einzelnen Frauen an, und die Frage, ob sie das Tuch „freiwillig“ tragen.
Seyran Ates halte ich in diesem Zusammenhang nur punktuell für glaubwürdig und längst nicht für repräsentativ. Sie hat viel erlebt, was sie zu ihrer Einstellung und dem Auftrag, den sie für sich empfindet, gebracht hat. Dennoch wäre es falsch, anhand ihrer Äußerungen ein Bild der gesellschaftlichen Realität zu zeichnen. Sie mischt in die Kopftuchdiskussion konkrete Fälle des Ehrenmords oder seines Versuchs, welche - so erschreckend sie sind - einfach eine verschwindend geringe Minderheit darstellen. Einzelfälle eben, die auch durch ihre ständige Aufzählung nicht zum Massenphänomen werden.
Ich durfte Frau Ates einmal persönlich in einer Podiumsdiskussion erleben und gewann den Eindruck, dass sich im Laufe der Jahre ihrer Arbeit zu ihrem ehrbaren Anliegen, Opfer zu schützen und zu vertreten, ein sehr ignoranter Profilierungsdrang gesellt hat. Sie sagt viele Dinge, die weit an der sachlichen Problemstellung der Integration vorbeigehen. Oft auch Dinge, die sich so offensichtlich mit ihrem ehrlichen Wissen widersprechen müssen, dass ich sie inzwischen für einen ideologischen Fremdenlegionär der politischen Rechten halte.
Ich meine durch meinen Beruf in der investigativen Terrorismusbekämpfung, zu der auch kulturelles Wissen erforderlich ist, gut geschult in der Beurteilung dieses Sachverhalts zu sein.
Das Bild, das sich mir darstellt, ist, dass etwa 40% der kopftuchtragenden Muslima dies aus eigener und nicht religöser Entscheidung heraus tun. Sie fühlen sich nur mit Tuch wohl und übernehmen dieses Verhalten mit der Pubertät, ähnlich wie westliche Mädchen anfangen, sich zu schminken (wobei die Muslima oft beides tun). Weitere 20% tragen das Tuch in direktem Bezug zu ihrer Religion, ebenfalls selbstbetimmt. Etwa ein Drittel tun es, um mit ihrer Umwelt konform zu gehen. Sie haben keine persönliche Motivation dafür, fühlen sich aber dadurch ihrem Umfeld und ihrer Familie zugehöriger. Das ist meines Erachtens eine Haltung, die auch viele junge Christen ihrer Religion gegenüber haben und mit Unterdrückung nicht ansatzweise etwas gemein hat. Der Rest hat irgendwelche anderen Gründe, findet es chic oder trägt nur sporadisch das Tuch je nach Mode.
Nun der Punkt, in dem mir die bisher abgegebenen Meinungen dazu zu kurz greifen:
Ungeachtet der obigen Feststellungen, habe ich oft genug erleben müssen, dass in der islamische Kultur ein immenses Potential an traditionell legitimierter Gewalt vorherrscht, sowohl ganz allgemein als auch speziell gegen Frauen.
Ich meine, dass fast jede Religion dieses Potential birgt. Zumindest das Christentum kann sich angesichts der Inquisition nicht davon freisprechen. Allerdings erfuhr das Christentum in seinem Kulturraum im Lauf der Geschichte eine entscheidende Relativierung, welche dieses Potential bannte. Eine vergleichbare Entwicklung steht im Morgenland noch aus.
An dieser Stelle werden oft Sätze genannt wie: „Das hat mit dem wahren Islam nichts zu tun“. Wenn man sich nicht gerade an das Axiom klammert, die „wahre“ Form einer Religion sei grundsätzlich gutartig, halte ich das für Augenwischerei.
Im Gegensatz zur Bibel habe ich den Koran komplett gelesen und mich mit einigen Interpretationen beschäftigt. Ich frage mich, wo die Toleranz verborgen sein soll, die all jene darin sehen, welche mich schon aufforderten, doch mal den Koran zu lesen, um den gütigen Islam zu erleben.
Die Freiheit des Individuums besteht laut Koran darin, sich zu entscheiden, ob man dem rechten Weg folgt oder zum vogelfreien Opfer der Gläubigen wird. Seelenheil für Ungläubige ist ebenfalls ausgeschlossen.
Der Islam kann in bestimmten Auslegungen signifikante Wert-Differenzen zwischen lebenden Menschen, zwischen Gläubigen und Ungläubigen ebenso wie zwischen Mann und Frau definieren. Außergewöhnlich ist, dass nach der Feststellung dieser Wertdifferenzen gegenüber den Abgewerteten jedes Mittel zur Verfügung steht und kein Hemmnis für Unrecht mehr besteht, wie im Christentum die Nächstenliebe und die Milde gegenüber den Feinden. Das verbindet Ehrenmord und Terrorismus.
Ferner hilft es nicht, sich auf der Suche nach dem wahren Islam in einer Bibliothek zu verstecken, sondern man muss die Menschen nach ihrem Handeln beurteilen. Zu einer Religion gehören nicht nur ihre grundlegende Lehre sondern auch kulturelle Begleiterscheinungen, die unter ihrer Prägung entstanden sind. Ich muss anerkennen, dass unzählige Morde Produkt des Christentums sind, meiner ehemaligen Religion, ebenso wie sich zahlreiches Unrecht auf den Islam stützt.
In Bezug auf die Geschlechterproblematik heißt das Folgendes: Im Allgemeinen ist die Frau nur solange frei, solange sie sich in der Rolle, in die sie hineingeboren wurde und welche traditionell vorgesehen ist, zurechtfindet und wohlfühlt. Das ist in der Situation einer Immigrantin naturgemäß oft nicht der Fall, weil der westliche Lebensstil viele Optionen bietet, die in der Tradition nicht vorgesehen sind. Möchte eine Frau diese Optionen wahrnehmen, tritt vielfach eine unheimliche Grausamkeit zu Tage: Die Tatsache, dass der Wille eines beliebigen, meist von der Entscheidung nicht betroffenen Mannes über dem der Frau steht.
Die Brutalität besteht darin, dass junge Leben durch willkürliche Vetos und Weisungen von Vätern, Brüdern und Cousins in erzwungene Richtungen gelenkt oder gar im Ansatz zerstört werden können. Das hat aber mit Kopftüchern garnichts zu tun.