Ein Bankett im Alten Rom

Ein Kapitel aus einem noch nicht beendeten Fantasy-Roman über das Alte Rom. Lenny, ein amerikanischer Geschichtsprofessor, ist bei einer reinkarnationstherapeutischen Rückführung in seine vergangenen Existenzen im Körper des griechischen Sklaven Giton steckengeblieben und lebt nun als Hauslehrer bei dem reichen Kaufmann Marcus Rufus, ohne dass dieser oder jemand anders von Gitons Identitätswechsel wissen. Weitere Personen: Konsul Vitellius und seine Gattin Sextilia sowie Licinia, die Gattin des Rufus und Liebhaberin des Giton.

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Im Domus des Rufus wimmelte es wie in einem Bienenkorb. Es war später Nachmittag, was in Rom bedeutete: am frühen Abend. Denn die Nacht begann, wenn die Sonne untergegangen war. Vorher aber stand ein gesellschaftliches Highlight auf dem Programm: ein Bankett im Triclinium.
Nicht irgendeines.
Nein.
Konsul Lucius Vitellius würde kommen, der mächtigste Beamte Roms, dem Kaiser Claudius, der vor einer Woche aus Britannia zurückgekehrt war, in den Wochen seiner Abwesenheit sogar die Regierung des Reichs überlassen hatte. Lenny, im Atrium neben Rufus stehend in eine blendend weiße Tunika gehüllt, gab sich Mühe, seine Nervosität nicht zu zeigen. In wenigen Minuten würde er zum ersten Mal einen Römer erblicken, der sich in der imperialen Geschichte einen Namen gemacht hat. Viele Gelehrte späterer Zeiten hatten über ihn geschrieben und über seine zwiespältige Darstellung durch Tacitus und Sueton räsonniert, auch Lenny, aber nur diesem war es vergönnt, den mächtigen Diener zweier Caesaren hautnah zu erleben.
„Du sprichst nur, wenn du aufgefordert wirst“, schärfte Rufus ihm ein. „Vergiss das nie.“
„Selbstverständlich, Dominus.“
Lenny blickte um sich. Mehrere Sklaven und Sklavinnen - darunter Asia - standen aufgereiht im Flur, der das Atrium mit der Eingangstür verband. Zwischen den Säulen des Atriums waren himmelblaue Vorhänge aufgespannt, im Wasserbecken schwammen Rosenblätter und schwanenförmige Lampen. Durch die Öffnung über dem Becken drangen leise die Klänge der fünf Musiker, die im Säulengang des Peristyls seit einer halben Stunde ihre Flöten, Leiern und Tamburinen bearbeiteten, um schon anwesende Gäste im nahegelegenen Triclinium zu unterhalten.
Von einer Seitentür des Atriums rief ein Sklave:
„Der Konsul erreicht soeben das Hofportal.“
Er hatte das vom Dach aus beobachtet. Es war, so viel wusste Lenny über die lokalen Sitten, nicht üblich, dass der Hausherr seine Gäste persönlich empfing, auch nicht jenen Gast, der programmgemäß als letzter eintraf, was ihn als Ehrengast auszeichnete. Ein Kaliber wie Vitellius aber sollte nicht durch einen Sekretär, sondern durch den Hausherrn selbst empfangen und ins Triclinium geleitet werden - das jedenfalls war Pisos Empfehlung für seinen Freund gewesen.
Dann dröhnte der Türklopfer durch das Atrium.
Selbst Rufus zuckte zusammen. Dass ein Konsul ihn besuchte, war unüblich für einen reichen, aber ansonsten gewöhnlichen Bürger Roms. Rufus besaß nicht einmal die Ritterschaft - er konnte nur durch sein Vermögen glänzen. Einzig die Bekanntschaft Pisos mit Vitellius und eine entsprechende Fürsprache hatten es überhaupt ermöglicht, dass der Konsul der Einladung Folge leistete. Die Idee stammte von Lenny. Rufus könnte finanziell davon profitieren und Piso politisch durch einen vom Konsul geförderten Aufstieg in den Senatorenstand.
Einer der Sklaven, ein Nubier, öffnete die Türflügel. Draußen sah Lenny einen hochgewachsenen Mann zur Seite treten. Über seiner linken Schulter trug er ein langes Rutenbündel, aus dem am oberen Ende die Klinge einer Axt ragte. Er gehörte zu den Liktoren, den Leibwächtern des Konsuls. Hinter ihm standen zwei prachtvolle Sänften auf dem Boden, daneben jeweils zwei Träger zu jeder Seite. Sie hatten die Sänften gerade abgesetzt und bereiteten den Ausstieg ihrer Herrschaften vor. Im Halbkreis hinter den Sänften hatten sich weitere Liktoren aufgebaut.
Vitellius kam, in weißer Toga mit purpurnem Saum, zum Vorschein, groß, massig, grauhaarig und mit etwas herabhängender kräftiger Nase. Er musste Ende Vierzig sein. Aus der zweiten Sänfte stieg seine etwa gleichaltrige Frau, Sextilia, mit dunkelblauer Toga und aufwendiger blonder Lockenpracht, vermutlich eine Perücke aus dem Haar germanischer Frauen.
Als sie den Flur betraten, eilte Rufus ihnen entgegen, verbeugte sich tief und begrüßte sie mit schmeichelhaften Worten. Lennys Blick tastete unterdessen den Faltenwurf von Vitellius´ Toga ab - zu gerne hätte er gewusst, ob das in den Quellen überlieferte Gerücht stimmte, dass der Konsul stets einen Schuh der Messalina unter dem Gewand mit sich trug. Aber er konnte nichts Verdächtiges ausmachen.
Als glühender Verehrer Messalinas wäre Vitellius natürlich wenig begeistert von der kritischen Haltung, die Rufus, Licinia und Piso gegenüber der Caesarengattin pflegten. Allerdings sprachen diese nur im engsten Kreise offen über das Thema. So stand einem unterhaltsamen Abend und dem geplanten Geheimgespräch mit Vitellius nichts im Wege.
Mit Fragen zum Wohlbefinden der Herrschaften und eingestreuten Komplimenten begleitete der Hausherr die Gäste zu zwei Stühlen am Rande des Wasserbeckens, wo sie sich niederließen und von Sklavinnen die Schuhe ausgezogen bekamen. Dann wurden die Füße gewaschen, eine Standardsitte bei Banketts, da Gäste ohne Schuhwerk auf den Sofas zu liegen und zu speisen pflegten. Die sechs Liktoren hatten sich im Atrium versammelt und würden bald von Sklaven mit Getränken und kleinen Häppchen versorgt werden. Vitellius und seine Gattin schlüpften wieder in ihre Schuhe und folgten Rufus zum Tablinum. Lenny blieb dicht hinter ihnen.
Im Arbeitszimmer lenkte Rufus die Aufmerksamkeit der Gäste auf die Wandmalereien, deren technische Qualität für römische Verhältnisse hervorragend war.
„Dein Tablinum ziert ein Meisterwerk“, sagte Vitellius beeindruckt. „Zu gerne wüsste ich, wer der Künstler ist.“
„Ich werde dir später seinen Namen und Wohnort aufschreiben lassen, Konsul.“
Rufus gab Lenny ein Zeichen. Der räusperte sich und begann mit Blick auf die linke Wand in pathetischem Griechisch:
„… und im Schwung’ entsandt’ er die weithinschattende Lanze;
Und sie traf dem Paris den Schild von gerundeter Wölbung.
Siehe den strahlenden Schild durchschmetterte mächtig die Lanze…“
Natürlich hatte er am Morgen Rufus´ griechische Ilias-Schriftrollen noch einmal durchgesehen, um sich auf die Performance vorzubereiten.
„… hurtig zog der Atreide das Schwert voll silberner Buckeln,
Hieb dann im Schwunge den Helm, den gekegelten; aber an jenem
Dreifach zerkracht und vierfach, entsprang es umher aus der Rechten…“
Die Blicke der Gäste, die als Aristokraten das Griechische natürlich beherrschten, pendelten zwischen Lenny und der geschilderten Szene.
„… und er hätt’ ihn geschleift, und ewigen Ruhm sich erworben,
Wenn nicht schnell es bemerkt die Tochter Zeus Aphrodite…“
Lenny machte eine Drehung und wies auf das gegenüberliegende Gemälde.
„… und ihn zersprengt den Riemen des stark erschlagenen Stieres…“
Die Hälfte der Wand zeigte Aphrodite, wie sie Menelaos´ tödliche Attacke auf den trojanischen Prinzen verhindert, die andere Hälfte, wie sie Paris in eine Lichtwolke hüllt, um ihn in eine Burgkammer zu versetzen, wo er Helena begegnen würde.
„Ganz ausgezeichnet“, rief Vitellius, während Sextilia höflich lächelnd ihre Augen kaum von Lenny ließ. „Nicht nur die Malerei, auch der Vortrag. Nie hörte ich diesen Stil der Deklamation.“
„Ja, es klang ungewöhnlich“, bestätigte seine Frau.
Lenny machte die Andeutung einer Verbeugung. Der Konsul hatte emotional angebissen. Was an der Vortragsweise so bemerkenswert war, entzog sich allerdings Lennys Kenntnis. Vielleicht lag es an seiner amerikanischen Sprachmelodik. Licinia und Gaius hatten schon einige Male geäußert, dass Gitons Sprechweise sich irgendwie geändert habe.
Nun führte der Hausherr die Gäste in das hinter dem Tablinum gelegene Peristyl. Hier bestaunte das Paar die vor einigen Tagen aufgestellte Statue der Aphrodite, ein Prachtstück aus funkelnder Bronze, das Rufus aus Griechenland hatte einführen lassen. In einer Ecke des Säulengangs stimmten die Musiker ein Lied mit einer fanfarenartigen Flötenmelodie an, zu dem Vitellius rhythmisch nickte, während er Aphrodites Kurven begutachtete.
„Mein lieber Rufus“, sagte er, „dein Kunstsinn erfüllt mich mit Freude. Solch schöne Malereien, und dann diese Statue. Piso hat nicht zu viel versprochen. Ich bin neugierig, was du mir sonst noch zu bieten hast.“
„Deine Überraschung, verehrter Konsul, wird keine Grenzen kennen.“
Diese Töne verschlugen Vitellius zunächst die Sprache. Dafür sagte Sextilia:
„Mein Gatte hat die halbe Welt bereist, er kommandierte Legionen und trotzte Armenia den Parthern ab, er hatte die Befehlsgewalt über Syria und Judaea und in den letzten Wochen sogar über das ganze Reich. Sein größte Leistung aber war es…“
Sie bedachte Vitellius mit einem ironischen Blick.
„… die Freundschaft der Valeria Messalina zu gewinnen. Was also könnte ihn noch grenzenlos überraschen? Ein tanzender Hermaphrodit, der in sieben Sprachen zu singen vermag?“
„Damit kann ich nicht dienen“, sagte Rufus. „Allerdings mit etwas Besserem.“
So betraten die vier endlich das Triclinium. Um vier rechteckige Tische standen je drei Sofas. Nur drei Plätze waren noch unbesetzt. Auf denen anderen räkelten sich Männer und Frauen in vornehmen Togas und schwatzten und taten sich an Honigwein und Obst gütlich. Sie verstummten, als sie den Konsul erblickten. Lenny erkannte Piso, der dicht neben einer hübschen jungen Frau lag und ihm grüßend zunickte.
Gaia, die Gattin des Piso, kam es ihm in den Sinn. Achtzehn Jahre jung und die Tochter eines unbedeutenden Senators.
Wieder hatte sich Gitons Gedächtnis gemeldet, das immer dann aufblitzte, wenn frühere Bekannte in Lennys Wahrnehmungsfeld traten.
Und sie steht auf mich. Beziehungsweise auf Giton.
Dieses Detail bestätigte der lüsterne Blick, den Gaia ihm schenkte, als er hinter Rufus und dem Konsulehepaar durch das Zimmer ging. Vermutlich hatte Piso Beziehungen zu Sklavinnen, so dass ihn Gaias Interesse am Hauslehrer, das ihm in diesem Moment nicht entging, nicht weiter tangierte.
Wie im Tablinum schmückten die Wände Fresken mit Motiven aus der griechischen Mythologie. Den Boden zierte ein farbenfrohes Mosaik aus Fischgräten und Muscheln. Von der Decke hingen duftende Girlanden aus Rosen und Orchideen.
Die Neuankömmlinge nahmen unter dem dezenten Applaus der Anwesenden Platz, dann klatschte Rufus laut in die Hände. Sklaven trugen den ersten Gang im Silbergeschirr auf, Huhn auf parthische Art, wie Lenny aus der Küche wusste, übergossen mit Wein und mit Pfeffer bestreut. Leider durfte er nur hinter Rufus stehen und darauf hoffen, dass ihm später etwas angeboten wurde. Bisher hatte er sich auf die hauslehrerübliche Schmalkost beschränken müssen, die aber viel schmackhafter war als alles, was Sklaven auf den Landgütern zugestanden wurde, wo die Unterdrückung am brutalsten war. Mehr als sein Appetit beschäftigte ihn allerdings das bevorstehende Geheimgespräch mit Vitellius, das das aufregendste Ereignis seines bisherigen Lebens zu werden versprach.
Vitellius - das bedeutete für Lenny auch: Messalina.
Messalina.
Parthische Hühner und homerische Fresken lösten sich in Luft auf, als er an sie dachte.
Seit Wochen schon, seit feststand, dass Vitellius auf ein Bankett eingeladen würde, war alle Trauer um sein verlorenes Leben als amerikanischer Professor von Lenny gefallen. Was ist Geschichte, was sind geschichtliche Figuren wie die Gattin des Claudius, wenn man sie nur aus Büchern kennt? Blasse Schemen, so dünn und fleischlos wie Gedanken. Jetzt lebte Lenny mit Haut und Haaren im alten Rom und würde, wenn alles nach Plan lief, die wirkliche Messalina kennenlernen können.
War sie tatsächlich so wie in den antiken Quellen geschildert? Eine Egomanin, gesteuert von sexueller Gier und über Leichen gehend? Ganz falsch schien das nicht zu sein. Licinia hatte bestätigt, dass das Motiv hinter der Hinrichtung des Silanus die verschmähte Liebe der Messalina war und dass sie Claudius durch einen erfundenen Traum zu der Verurteilung anstachelte. Hatten Tacitus, der erst in zwölf Jahren zur Welt kommen würde, und die noch später geborenen Sueton und Cassius Dio also die Wahrheit überliefert oder nur Gerüchte kolportiert, die schon jetzt, ein Jahr nach den Ereignissen, keinen Informationswert hatten?
Um sich von seiner Anspannung abzulenken, lauschte Lenny den Gesprächen. Er verglich sie mit seinem Wissen über die Konversationskultur dieses Jahrhunderts und stellte fest, dass die moderne Analysen zutrafen. Die Themen waren über den unvermeidlichen Gesellschaftstratsch hinaus ein Mix aus Politik, Kunst und Kultur und entsprachen damit den Ambitionen der kaiserzeitlichen Society, die anders als jene der republikanischen Zeit nicht nur auf politische und militärische Ziele, sondern auch auf den Erwerb kultureller Bildung gerichtet war. Der Grund dieses Wandels war klar: Zu Zeiten der Republik lag Politik in den Händen einer pluralistisch strukturierten Oberschicht, die Bankette als Plattform für politisches Taktieren funktionalisierte. Jetzt aber, da ein allmächtiger Caesar zusammen mit einem nicht-senatorischen Beraterstab das Reich lenkte, hatte die Oberschicht viel an Einflussmöglichkeit verloren, was sie durch ein verstärktes kulturelles Engagement zu kompensieren suchte.
Vitellius´ Anwesenheit sorgte allerdings dafür, dass politische Statements im Vagen verblieben. Niemand wollte in Hörweite des Konsuls in ein Fettnäpfchen treten, etwa durch eine kritische Äußerung über Claudius oder wichtige Entscheidungsträger in dessen Umfeld. Als der zweite Gang aufgetragen war, driftete die Konversion in frivole Gewässer.
„Ihr alle kennt die Verse von Ovid“, rief ein mit Piso befreundeter, nicht mehr ganz nüchterner Ritter, so dass sich alle ihm zuwandten, „welche lauten: Folgt, ihr Sterblichen, dem Beispiel der Göttinnen und verweigert eure Gunst nicht den Männern, die euch begehren.“
Er hob seinen Becher mit einer unsicheren Bewegung. Ganz offensichtlich gehörte er nicht zu den Leuten, die Alkohol gut vertragen.
„Welche der anwesenden Göttinnen ist es denn“, fragte Piso, „die sich dir nicht verweigern soll?“
Lenny war für einen Moment besorgt, dass Vitellius das Thema in den falschen Hals bekommen könnte, da Ehebruch seit der Gesetzgebung durch Augustus schwer bestraft wurde. Seneca fristete aus diesem Grund gerade sein Leben in der Verbannung.
„Ja, welche ist es?“ Zu Lennys Erleichterung mischte sich der Konsul hörbar ironisch ein. Augustus hin, Augustus her - jeder in Rom wusste um die Unbedenklichkeit, mit der Ehen tagtäglich gebrochen wurden.
„Eure Gattin“, sagte der Ritter, „ist die einzige Göttin in dieser Runde. Nie aber käme ich auf den Gedanken, ihr etwas anderes als meine Verehrung zuteil werden zu lassen.“
Sextilia kraulte geschmeichelt den Nacken ihres Gatten. Wohl um Licinia und Gaia aus der Schusslinie des Betrunkenen zu nehmen, aber auch, um zum ersten Programmhöhepunkt überzuleiten, sagte Rufus:
„Folgen wir dem Beispiel des Augustus und verbannen wir Ovid, wenn auch nur für den Rest des Abends. Sklaven, füllt die Becher meiner Gäste auf. Im Atrium wartet auf alle eine Überraschung.“
Und leise mit Blick auf Vitellius:
„Doch nicht die größte dieses Abends, was dich betrifft, verehrter Konsul.“
Vitellius hob die Brauen, sagte aber nichts.

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