Hallo Michail,
Seit Jahrhunderten duellieren sich Männer, welche sich in
ihrer Ehre und ihrem Stolz verletzt sehen.
Im 19. Jahrhundert wäre dieser Satz richtig gewesen. 1832 ist z. B. Evariste Galois, einer der begabtesten Mathematiker seiner Zeit, während eines Duells zu Tode gekommen. Er wurde 20 Jahre alt. Auf dem Boden Österreich-Ungarns fand das letzte Duell 1912 (?) statt. Heute stimmt also der Satz längst nicht mehr, jedenfalls nicht in Mitteleuropa.
Auch damals gab es diese Duelle nur bei Offizieren und Studenten. Die Abläufe waren sehr genau geregelt, und keineswegs handelte es sich um Schlägereien. Angehörige anderer sozialer Schichten wurden gar nicht für satisfaktionsfähig gehalten. Heute mutet es absurd an, daß Menschen tatsächlich solche Abstrakta wie Ehre oder Stolz über alles andere gestellt haben. Völlig gleichgültig, was dabei alles zugrunde gehen mochte.
Zu Deinem Freund fällt mir ein, vielleicht glaubt er, er sei seit dem Erlebnis vor fünf Jahren kein richtiger Mann mehr, weil er diesem Typen nicht die „richtige schlagfertige“ Antwort gegeben hat. Das meine ich ernst. In so einer Situation würde ich einen so rohen Menschen, der mich anspuckt usw., überhaupt nicht als satisfaktionsfähig betrachten.
Ich bin kein Psychologe, vielleicht aber sind die Psychologen bei einem solchen Thema in einer ähnlichen Lage wie ein Arzt, der mit einem hier längst verschwundenen Krankheitsbild wie etwa der Pest konfrontiert ist. Meine Vermutungen gehen in folgende Richtungen:
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es könnte sich um Rangordnungskämpfe handeln, wie sie bei vielen Tieren auch vorkommen.
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es könnten Ausgleichshandlungen sein, um ein vorher vorhandenes Gleichgewicht zwischen zwei Personen (das durch die Beleidigung gestört wurde) wiederherzustellen. Das heißt im Prinzip: Rache.
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es gibt eine nahe Verbindung zur Sexualität. Bei Männern scheint mir Ehre und Stolz sehr mit Männlichkeit zusammenzuhängen, und bei den Frauen ist der Bezug der Ehre zur Sexualität noch offensichtlicher.
Wie Du sicher schon gemerkt hast, haben in Europa solche Begriffe von Ehre, Stolz und Würde, so wie Du sie vorstellst, einen sehr schlechten Ruf. Bestenfalls denken wir an Ballast aus dem 19. Jahrhundert, den wir hinter uns gelassen haben. Schlechtestenfalls assoziieren wir damit Rache, Blutrache, oder „Ehren“-morde.
Vielleicht aber haben wir einen Preis dafür gezahlt, und ist in dem Maß, wie physische Gewalt verpönt wurde, psychische Gewalt gerade erst salonfähig geworden, und sind Mobbingattacken der Ersatz für Schlägereien.
Grüße,
I.