Ein gutes Urteil?


In unserem Unternehmen existiert beides: Die Zeiterfassung und die Vertrauensarbeit. Der - etwas vereinfacht dargestellte - Unterschied besteht darin, dass Zeiterfasste (Z) im Wesentlichen nach Stunden vergütet werden, Vertrauensarbeitszeitler (V) nach Zahlen (Leistung). Letztere dürfen sich auch meist über eine höhere Vergütung am Monats-/Jahresende freuen. Sie arbeiten (großteils) aber auch mehr an Stunden, aber nicht grundsätzlich.

Dann kommt noch - ich habe ein wenig über die verschiedenen Abteilungen bei uns nachgedacht - die Qualifikation zweierlei ins Spiel. V weist in der Regel einen höheren Ausbildungsgrad aus, innerhalb der Gruppe existieren aber wesentliche Qualitätsunterschiede. Bei Z, mit niedrigerem Ausbildungsgrad, sieht es sehr ähnlich aus.

Das Urteil bereitet mir Unbehagen. Und ich bin auf der Suche nach Gründen, weshalb das so ist. Das was mir so spontan einfällt:

  • Für bisher Zeiterfasste wird sich wenig ändern. Sie werden kaum schlechter gestellt sein. Besser keinesfalls.
  • Für V wird es nicht möglich sein, die gleiche Leistung, die gleichen Zahlen, die gleiche Qualität bei reduzierter Zeit zu erbringen.

Was bedeutet dies dann für V?

  • Zunehmender Konkurrenzdruck durch weitere Konkurrenz für die nicht erledigte Arbeit, die vermutlich mit niedriger Qualifikation und zu einem niedrigeren Preis diese Arbeit leistet
  • Einkommenseinbußen (Boni, Tantiemen, Gehaltsanpassung)
  • Erhöhtes Risiko zu Personalabbau im Bereich V und Ersatz durch Externe, soweit als möglich, der Druck zur Selbständigkeit mit deutlich höheren Risiken nimmt zu
  • Neuanstellungen im Bereich V werden sinken, es sei denn, zu deutlich reduzierten Konditionen
  • in summa sehe ich Tendenz zu Niedriglohnsektor im Bereich V

Daneben befürchte ich allgemeiner EU-weit eine negative Nivellierung

  • von Arbeitsbedingungen und -rechten
  • von Qualitäten im globalen Wettbewerb
  • Konkurrenzfähigkeit im globalen Wettbewerb
  • eines Gedankenguts „Leistung lohnt sich sowieso nicht“

Nun, die linke politische Seite und Gewerkschaften freuen sich hier ob des Urteils schon ein Loch in den Bauch. Und ich habe ein ausgeprägt ungutes Gefühl, und ein paar Gedanken dazu angeführt.

Wie seht ihr dieses Urteil?

awM

Geklagt wurde in Spanien, unter anderen ökonomischen und politischen Voraussetzungen und Intentionen, aber das Urteil hat Wirkung auf alle EU-Staaten.

Ich find das Urteil gut.

Meine Frau muss 10min vor offiziellem Dienstbeginn im Kassenbüro anwesend sein…nach Dienstende wird der Kassensturz unter Anwesenheitspflich gemacht und der wird der Arbeitszeit nicht zugerechnet. Das sind pro Tag zwischen 15 und 30min…je nach Nasenfaktor. Alle Versuche dies zu verändern scheitern an der Marktführung und dem Duckmäusertum einiger Kollegen.
Nebenbei bemerkt: In anderen Märkten der Kette ist es Usus das die Abrechnung zur Arbeitszeit zählt.

Ich arbeite nebenher viel zu Hause weil ich meine Ruhe habe und nicht gestört werde…angerechnet wird mir die Zeit nicht. Ich hab es einmal versucht 2h anrechnen zu lassen…

Meine Arbeitnehmer bekommen Lohn, die Arbeitsstunden erfasse ich also seit Urzeiten sowieso.
Also alles gut, keine Änderung für mich?

Nein, denn jetzt habe ich Angst.

Ich habe das Gefühl, dass dieses Urteil zu einem Arbeitszeit Erfassungs- und Verarbeitungsgesetz führen könnte. Vermutlich muss ich die Arbeitszeiten demnächst zwingend elektronisch (in einem obskuren, speziell entwickelten Format) erfassen, zur Manipulationsverhinderung wohl mit sofortiger Synchronisierung auf einem Zoll-Server. Dazu dann auf bestimmten Medien sichern, vor allem aber alle Schritte ausführlichst dokumentieren und bei Kontrollen stets den Zugriff darauf haben.

…ist doch gut!..ja ok…einige AN hätten es dann „SchwarzaufWeiss“ das sie nur 4 von 8 Stunden arbeiten :grin:

Ich find’s immer gut, wenn mich die Politik an die Hand nimmt wie ein dreijähriges Kind. Wie @X_Strom schon richtig ausführte, muß es ja konsequenterweise auch genaue Vorschriften geben, wie und bis wann ich die Arbeitszeiten zu erfassen habe. Der Protokollausdruck von der elektronischen Schließanlage wird wohl kaum ausreichend sein. Und wenn doch, dann nur nach Zertifizierung, daß diese manipulationssicher ist und Zeiten mit Abweichungen von maximal 1 Millisekunde pro Tag mißt.

Und ich sehe eine zusätzliche und inkompatible Blockade von „modernen“ und „trendigen“ Arbeitsweisen, die zum Teil ebenfalls bereits politisch diskutiert werden. Oder wie will man das Recht auf Home-Office im gleichen Atemzug erlauben? Achso logisch, man muß sich scheinselbständig machen, damit man nicht als AN zählt.

Was auch immer mit wieviel Ausnahmen umgesetzt wird, es wird ein Spagat der Kompromisse, und am Ende wird das Ziel ganz klar verfehlt. Das paßt dann auch ganz gut zu den anderen EU-Novellen der letzten Jahre.

Moin,

besser wird es nicht werden - aber fangen wir doch mal bei den Politikern an…
Was wäre da denn Arbeitszeit eigentlich? Jedes gelangweilte Plauderstündchen im Plenum? Reisezeit zu irgendwelchen Treffen? „Arbeitsessen“? …
… und dann kommt wieder Bürokratie ins Spiel… Am Ende wird es doch wieder Leute geben, die Schlupflöcher finden…

Nur wird es an den nachfolgend von dir genannten Rechtsverstößen des AG deiner Frau nichts ändern.
Natürlich, es würde dann eine Zeiterfassung an der Wand hängen.
Und wo jetzt intern „10min eher erscheinen ohne Anrechnung“ diktiert wird, wird dann angeordnet werden, dass erst zum offiziellen Dienstbeginn gestempelt werden „darf“. Und wo sich schon jetzt deine Frau übervorteilen lässt, würde sie sich wohl auch dann weiterhin übervorteilen lassen.

Abhilfe? Klar. Microchip im Backenzahn mit GPS Ortung.

also hat der Arbeitgeber bei V schon eingeplant, dass diese länger als erlaubt

Geld ist ja nun mal nicht alles - wenn er entsprechend weniger arbeiten muss.
Oder (solange im erlaubten Rahmen) V bekommt seine Überstunden endlich bezahlt bzw. darf sie abfeiern uns sie werden vom AG nicht einfach vorausgesetzt.

Externe kosten dem AG kein Geld? oder wie soll ich das vrstehen?

Ich finde, eine EU-weite Nivellierung gar nicht mal so schlimm. Dann zeigt sich die Wettbewerbsfähigkeit einer Wirtschaft bei gleichen Ausgangsbedingungen und nicht durch Ausbeutung von Arbeitnehmern.

was wäre schlimm daran?

was hat meine Arbeitsqualität mit meiner Arbeitszeit zu tun?

und die AG-Seite ärgert sich über Überstunden, die sie nun bezahlen muss (oder in Freizeit abgelten)

arbeiten.

Prinzip Paarlauf: Ich kann dem Langsameren nicht vorschreiben schneller zu laufen, also schreibe ich dem Schnelleren vor, langsamer zu laufen.

1 Like

Hm, es gibt sicherlich viele Argumente dafür und dagegen. Aus persönlicher Sicht sehe ich das Problem mit Home-Office-Tagen. Wie damit umgegangen werden soll steht zwar noch nicht fest, aber mir fallen alle möglichen unangenehmen Alternativen ein.

R.

Huhu,

Mittlerweile ist es doch bei den ZE-Systemen Standard, dass man sie auch per App aufrufen kann.

VG
Guido

das zB. geht aus baulicehn Gründen Gott sei Dank nicht…die MA müssen durch eine Schleuse wo zB. reinwärts die privaten Sachen gekennzeichnet werden können…ich glaube kaum das der AG sich zwei Zeitterminals leistet.

…vielleicht gehört sie nicht zu „Duckmäusen“?!..aber was willste machen ausser kündigen wenn de die Einzigste bist die Krawall macht?
BR gründen? Haha…
Ein Meilenstein war schon das die Ruhezeitregelung durchgesetzt wurde.

Willkommen in der Realität namens Einzelhandel

Hallo,

Als Ergänzung sei noch angefügt, wenn Du Dir mal die Änderungen der Gesetze und Verordnungen ansiehst, die Registrierkassen betreffen:

  • Du wirst eine echte Stechuhr einführen müssen
  • Diese wird dann die Verbindung mit dem Zoll aufnehmen
  • im 2 Jahren wird gefordert werden, dass bestimmte Zertifikate installiert sein müssen, was aber bei den alten Automaten nicht geht, weil das Betriebssystem das nicht hergibt -> Neukauf
  • weitere 2 Jahre später wird eine USB-Buchse verlangt, über die die Zertifikate ausgelesen werden können müssen -> Neukauf
  • weitere 2 Jahre später wird die Online-Übertragung und die USB_Buchse verboten, weil die Kisten gehackt wurden -> Neukauf

https://www.heise.de/select/ct/2016/26/1482070742264788 (Hinter Bezahlschranke)

Grüße
Pierre

P.S.: Beitrag kann Spuren von Ironie enthalten, für Ironie-Allergiker nicht geeignet

1 Like

Der Spagat wird derart ausfallen, dass die V gezwungen werden, zukünftig falsche Angaben zu machen. Das Problem einer korrekten Erfassung wird ganz nach unten weggedrückt, jegliche von irgendwelcher Seite vorgetragenen Zweifel an Zeiterfassungen werden die AG nicht belasten.

awM

Ja, das ist üblich bei Vertrauensarbeitszeit. Und imho nicht verwerflich, schließlich haben wir Vertragsfreiheit, und es gibt im Bereich V viele Arbeitsverträge mit dem Zusatz „Überstunden sind mit dem (übertariflichen) Gehalt abgegolten“.

Und wenn der Arbeitnehmer gerne eher 50 - 60 Stunden möchte als 38 Stunden, dafür besser entlohnt wird, und der Arbeitgeber/der Arbeitnehmer die Abgaben ordnungsgemäß abführt, dann ist dies eine win-win-Situation für drei Parteien.

Wenn im Anschluss an eine neue vorgesehene Regelung der erforderliche Umfang an Leistung aufgrund formaler Anforderungen nicht erfüllt werden kann, müssen andere Job-Sharing übernehmen. Das kostet zusätzlich Geld.

Grundsätzlich ist Leistung von Qualität abgekoppelt. Wenn nun durch eine Regelung einseitig die mögliche Leistung reduziert wird, wird sich das auf die Gesamtleistung negativ auswirken. Es wird damit auch eine gesamt betrachtet negative Nivellierung der sozialen Leistungen dadurch mit einher gehen. Und wie lautet bei solchen Themen das Hebelwirkungsgesetz? Der erste Hebel wird unten angesetzt, nach oben wird der Hebel kürzer.

Das war anders gemeint, s. voranstehenden Absatz.

awM

offtopic

Diesen Aspekt hatte ich absichtlich nicht erwähnt, weil er diesem Thema eine andere, imho wesentlichere (gesellschaftliche, soziale anstelle rein ökonomische) Komponente zuteil werden lässt und anderswo und anders diskutiert werden müsste (es verursacht mir übrigens das im UP genannte ungute Gefühl). Aber wenn dieser Aspekt nun mal geäußert wurde (dann auch gleich ein wenig ausführlicher):

Es betrifft nicht nur Home-Office, sondern alle in Vertrauensarbeitszeit-Beschäftigten. Außendienstler (Vertrieb, wechselnde Einsatztätigkeit wie Servicetechniker, Bauleiter usw.), aber auch Geschäftsführer von kleinen und großen Unternehmen beispielsweise.

Mit Pseudo-Apps, die du nach dem Aufwachen aktivierst und nach dem Abendesssen deaktivierst, ist es nicht getan. Eine Zeiterfassung ist nur möglich, wenn die Personen quasi „vor Ort“ überwacht werden können (wie in einem Gefängnis beispielsweise, oder halt bei Büroangestellten). Also bleibt sowas wie GPS, permanente Überwachung, Verfolgung der Routen, Aufzeichnung, und am Ende vielleicht Videoüberwachung über Kamera, wie sie Polizisten beispielsweise in Gefahr einsetzen können. Diesmal halt zur „Selbstüberwachung“ (diesen „Fortschritt“ kannst du jedem leicht erklären, wenn du dich anstrengst).

Der Begriff Vertrauensarbeitszeit verliert mit dem - übrigens imho demokratisch nicht legitimierten - EUGH und seinem Urteil jegliche Substanz und Wert. Vertrauen wird abgeschafft, einerseits durch Überwachung ersetzt, alternativ wäre noch die etwas weniger üblere Variante „der Vertrauensmitarbeiter fälscht aufgrund vertraglich zugesicherter Schuldbefreiung zugunsten des Arbeitgebers die Belege so, dass sie gesetzeskonform sind“ möglich. Von Gewerkschaftsseite sollte dieses Problem mal überdacht werden.

Das Urteil wird nicht wenig Zustimmung erzielen. Weil ein Konzept „Misstrauen unterstützen und fördern“ stets funktioniert. Nahezu alle Zeiterfassten sind sehr skeptisch gegenüber den KollegInnen, die Vertrauensarbeitszeit genießen, Home-Office eingeschlossen: Man muss das selbst sehen, dass der andere nicht länger Kaffee holen ist, mit der Sekretärin zu lange plaudert, vielleicht nur vor dem Bildschirm sitzt und nichts tut, mit den Kindern oder Hund spielt, oder im Biergarten anstelle im Büro des Kunden sitzt.

Mit diesem Urteil wird auch ein großer Teil Kreativität eingeschränkt, wenn man nicht mehr die Freiheit zur Mehrleistung hat, es sei denn, man vertuscht zukünftig am Rande der Legalität. Wer sollte denn großartig motiviert sein, wenn er nicht mehr aufsteigen kann, mehr verdienen kann, für Leistung belohnt wird, weil irgendwelche willkürlichen Grenzen gesetzt werden?

Ich erkenne aber auch die Absichten des Urteils. Angefangen von den Tagelöhnern auf deutschen oder italienischen Äckern, über Paketdienstboten bis hin zu 24h-schichtdienstbereiten Ärzten (schon mal den realen Stundenlohn berechnet?) oder Pflegepersonal. Neben den Absichten auf gerechte faire Bezahlung auch angemessen Arbeitszeiten, freie Wochenenden, Familie und so weiter. Sehr berechtigte Ansprüche.
Alles Niedriglohnsektor, wenn man genauer hinschaut.

Aber wird dieses Urteil an den seit Jahren bekannten und zunehmenden Unzulänglichkeiten außer einer zusätzlichen bürokratischen und zeitaufwändigen und teuren „Zeiterfassung“ irgend etwas ändern???

Es wird Statistiken liefern, dass soziale Notstände bestehen, (noch) mehr Personal in Bürokratie, Verwaltung benötigt wird, als Rechtfertigung für Arbeitsmigration zu billigem Geld benutzt, und als Erklärung von noch mehr und höheren Beiträgen und Abgaben aus der Bürgerschaft.

awM

Deine Welt ist wirklich eine sehr merkwürdige …

Und ein weiterer Beleg …

https://openjur.de/u/655427.html

Das wird jetzt zwar immer offtopicer, aber sei es drum: Die EuGH-Richter werden von ihren Mitgliedstaten ernannt. Nur mal so als Vergleich. Die Richter in Deutschland werden als Richter eingestellt, vulgo ernannt. In den anderen EU-Ländern dürfte es ähnlich sein. Gerichte müssen nicht demokratisch legitimiert sein.

2 Like