Eine bewußt peinliche Lebensweise

Hi ,

bin sehr inspiriert durch die Philosophie Schopenhauers er meinte das eine bewußt peinliche Lebensweise der Verneinung des Willens entgegenkommt. Soweit so gut aber wie sähe das in der praxis aus. Normalerweise meide ich peinliche Situation da es wirklich sehr unangenehm sein kann… Also nach Schopenhauer Mut zur Peinlichkeit !!?
Eine peinliche Lebensweise was könnte er damit gemeint haben ?

Viele Grüße

Frag mal @berreste

Hi,

Schopenhauer empfiehlt nicht Peinlichkeit.
Er meint, wer absichtlich alles das macht, was als peinlich gilt, der muss sich dazu zwingen; der Wille möchte eigentlich, dass wir uns nicht peinlich verhalten, denn wir möchten nicht, dass man über uns lacht. Deswegen gehen wir nicht volltrunken oder nackt auf die Straße oder lachen über andere oder haben die Klamotten linksrum an oder oder oder…

die Franzi

Nun die erste Lebensweise 8. Wahl macht Teile von starker (aber nicht in dem Sinne, daß sie gestärkt ist) Peinlichkeit und läßt es für die Außenwelt so aussehen, als lege das soziale Umfeld vom Jeweilige keine Last darauf, das Wertegebäude genauer zu verschlüsseln.

Hast du eine Textstelle dafür?

Grundsätzliches:

a) Es ist davon auszugehen, dass Schopenhauer einen etwas umfassenderen Peinlichkeits-Begriff hatte als wir heute: peinlich = unangenehm, schmerzhaft; man denke an die „peinliche Befragung“ des Mittelalters und der frühen Neuzeit.

b) Aus Schopenhauers Grundansatz dürfte auch ohne Kenntnis der Textstelle deine Frage vorläufig beantwortet werden können:

Schopenhauer postuliert einen „Willen (zum Leben)“ als quasi Urkraft des (organischen) Universums.

Dieser „Wille“ durchzieht all unser Tun und Denken, wodurch wir durch unser Tun und Denken wiederum diesen Willen und das Leben verewigen.
Am augescheinlichsten ist das in der Sexualität=Fortpflanzung (wir schreiben des 19. Jhdt., in dem Sexualität noch nicht von der Biologie emanzipiert ist)

Dieser Wille ist wesentlich Leiden (da auch das Glück wesentlich Leiden ist, da es immer nur temporär einen Leidens-/Mangelzustand beseitigt, aber letztlich unweigerlich in neues Leiden/Mangel übergeht.

Überlegung nun, wie dieses ewige Leiden durchbrochen werden könnte.

Nicht nur durch Lustsuche (weil Lust=Leiden) kann es durchbrochen werden, auch nicht durch blindes Leiden (weil Leiden = Leben = Wille (zum Leben, zum Leiden)).

Sondern durch bewusste Einsicht in die Natur der Welt-als-Wille (zum Leben/zum Leiden)

Einziger° Ausweg aus dem ewigen Leiden daher: bewusst Leiden, d.h. u.a. Askese (°in der reinen Ästhetik sieht Schopenhauer auch eine Art Ausweg, aber das führt zu weit hier).

.

Langer Rede kurzer Sinn: eine bewusst peinliche Lebensführung im dem Sinne, sich aktiv-bewusst (nicht passiv-triebhaft, also nur vom Willen getrieben) peinlichen Situationen auszusetzen und Spott und Hohn anzunehmen, wäre eine Form einer „asketischen Lebensform“, die auf die Überwindung des Willens und des ewigen Leidens zielt; man verzichtet asketisch auf Anerkennung, Bewunderung, usw.

Mir ist nicht bekannt, dass Schopenhauer genau dazu aufruft, aber es würde sich gut in sein Denken einfügen. Ich bin auf deine Textstelle gespannt.

Gruß
F.

Hallo,

ich würde sogar noch weiter gehen als FBH und nur von Pein=Schmerz ausgehen und überhaupt nicht an unser Verständnis von „Peinlichkeit“ denken.

Grüße
Siboniwe

Vielleicht das, was man heute als Kevinismus einstuft…

Du beziehst dich damit wohl auf diese Passage im Kap.„Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens“ (in „Welt als Wille und Vorstellung, II.Bd.“):

Der Optimismus ist im Grunde das unberechtigte Selbstlob des
eigentlichen Urhebers der Welt, des Willens zum Leben, der sich
wohlgefällig in seinem Werke spiegelt: und demgemäß ist er nicht nur
eine falsche, sondern auch eine verderbliche Lehre. Denn er stellt uns
das Leben als einen wünschenswerthen Zustand, und als Zweck desselben
das Glück des Menschen dar. Davon ausgehend glaubt dann Jeder den
gerechtesten Anspruch auf Glück und Genuß zu haben: werden nun diese,
wie es zu geschehn pflegt, ihm nicht zu Theil; so glaubt er, ihm
geschehe Unrecht, ja, er verfehle den Zweck seines Daseyns; – während es
viel richtiger ist, Arbeit, Entbehrung, Noth und Leiden,
gekrönt durch
den Tod, als Zweck unsers Lebens zu betrachten […] weil diese es
sind, die zur Verneinung des Willens zum Leben leiten.

Und wenn du weiter betrachtest, wie gerade in diesem Kapitel der Ausdruck „peinlich“ gebraucht ist - nämlich synonym zu „schmerzlich“ - bist du dann sicher, daß du die Sache mit der Peinlichkeit richtig aufgefaßt hast?

Gruß
Metapher

und der durch ihn zu jener furchtbaren Größe der Entsagung zurückgeführt wurde, in welcher er noch gegenwärtig zu Latrappe besteht und, als die methodisch durchgeführte, durch die schwersten Entsagungen und eine unglaublich harte und peinliche Lebensweise beförderte Verneinung des Willens,

Hier ein teil der Textstelle…

Also das Glaub ich nicht dafür hat Schopenhauer seine Begriffe mit zuviel bedacht gewählt und diese beiden Begriffe liegen wohl doch ein wenig zu weit auseinander

ich denke auch, dass peinlich hier im Sinne von peinigend verwendet wurde.
Vergl. https://de.wikipedia.org/wiki/Peinliche_Befragung

FG myrtillus

Eben, weil er sie mit Bedacht gewählt hat: peinlich = schmerzlich. Alle anderen Bedeutungen, wie z-B. im Wortfeld „beschämend“ usw., sind sekundäre Bildungen. Siehe z.B. im oben zitierten Kapitel:

Die Stunden gehn desto schneller hin, je angenehmer; desto langsamer, je
peinlicher
sie zugebracht werden: weil der Schmerz, nicht der Genuß das
Positive ist, dessen Gegenwart sich fühlbar macht.

2 Like

Danke!
Hier ist noch ein bisschen mehr:
https://books.google.de/books?id=vYZFDwAAQBAJ&pg=PT1015&lpg=PT1015&dq=durch+die+schwersten+Entsagungen+und+eine+unglaublich+harte+und+peinliche+Lebensweise+beförderte+Verneinung+des+Willens&source=bl&ots=765t449pcy&sig=jsTsIm91OhYfvb5tStSfHkZaGQQ&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwiX84by-sbaAhXFe8AKHaN2Bs8Q6AEILTAC#v=onepage&q=durch%20die%20schwersten%20Entsagungen%20und%20eine%20unglaublich%20harte%20und%20peinliche%20Lebensweise%20beförderte%20Verneinung%20des%20Willens&f=false

Der Kontext scheint tatsächlich die Askese zu sein und „peinlich“ scheint tatsächlich als Adjektiv der Pein gebraucht, weniger im Sinne der Beschämung.

Gruß
F.

Korrektur:

Hallo,

die Lebensdaten von Schopenhauer sind dir ja bekannt (1788-1860). Das Wörter vor ca. 200 Jahren teilweise eine andere Bedeutung gehabt haben, sollte dann eigentlich auch klar sein.

Ein Blick in den Grimm: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GP01557#XGP01557

. adj., mhd. und md. pînlich.

  1. körperliche pein bereitend, qualvoll, schmerzlich […]
  2. in der gerichtsprache.
    a) mit folterschmerzen verbunden, unter anwendung der folter (s. pein 2) stattfindend: peinliches gericht (s. unter b); peinliche frage, tortura […]

Den Rest kann man selbst nachlesen. Gerade bei Philosophen wie Schopenhauer sollte man Texte mit Anmerkungen lesen, denn du hast recht: er hat sehr genau formuliert.

Grüße
Siboniwe

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Nein das ist die falsche passage sie mal weiter oben da hab ich die Textstelle eingefügt

Hab ich gesehen. Wir haben das in der exakt selben Minute gepostet. Und „falsch“ ist sie eh nicht: Sie steht nur zwei Kapitel vor deiner Stelle. Und es bleibt dabei, wie dort und an anderer Stelle erklärt: Schopenhauer gebraucht durchgängig das Attribut „peinlich“ synonym zu „schmerzlich/schmerzhaft“, und nicht im moderneren Sinne.

Gruß
Metapher

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Und wie sieht dann eine schmerzhafte Lebensweise aus? Peinliche Situationen sind meistens unangenehm was auch zu seiner Lehre gehört ist bewusst das unangenehme aufsuchen würde also seiner Lehre nicht widersprechen

Was von Schopenhauer unter arbeitsreicher, entbehrungsreicher, frustriender, verlustreicher, anstrengender, leidensreicher, asketischer usw. - mithin peinlicher - Lebensweise gemeint ist, diskutiert er sehr ausführlich, eindringlich und kaum mißverständlich gerade in der oben von mir (→ Kap 46 II. Bd. von „Die Welt als Wille und Vorstellung“) zitierten Abhandlung, aber vor allem auch in dem → Kap 48 (ebenda), aus dem ja dein eigenes Zitat stammt.

Falls du möglicherweise irgendwo ausschließlich auf den einen, isolierten, von dir selbst zitierten Satz gestoßen sein solltest (so daß dir der Zusammenhang fehlt), dann sei dir gern empfohlen, wenigstens für diese genannten Kapitel ein wenig Zeit aufzuwenden. Es lohnt sich!

Gruß
Metapher