Hallo,
Kann sich jemand von euch einen gesellschaftlichen
Wertemaßstab vollkommen jenseits des Geldes vorstellen? Falls
ja, würde ich mich über eine prägnante Ausformulierung dieser
Vorstellung freuen.
Ja, kann ich - allerdings nicht innerhalb des Rahmens, der auf unserer Welt gegeben ist. Vor Jahren las ich den Science Fiction Roman von James P. Hogan, Voyage from Yesteryear, ob in deutsch erhältlich weiß ich leider nicht. Dieser Roman hatte genau die hier gestellte Frage zum Thema und damals machte ich mir auch so meine Gedanken dazu.
Basis des Buches war die Auswanderung einer großen Gruppe von kleinen Kindern, die mit Hilfe der Bordcomputer des Raumschiffs einen unbewohnten Planeten kolonisieren, aber von Erwachsenen unbeeinflußt, ihre eigenen Vorstellungen entwickeln. Hier einige Merkmale wie sie ihre Gesellschaft aufbauten - ganz ohne Geld!
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Jeder erlernte das Wissen/Beruf, wofür er sich am meisten interessierte und für das ihn seine Begabung prädestinierte, was dazu führte, daß die meisten in mehreren Berufen (nach unserer Definition) hochqualifiziert waren. Logisch, da generell jeder Mensch vielseitig begabt ist.
Eine umfassendere Aufgabe, die einer nicht bewältigen konnte, zog andere an, die ergänzen konnten und so bildeten sich auch Teams. Man fragte untereinander herum: kannst du mir helfen? Und wer konnte wurde einbezogen, war sein Teil erledigt, widmete er sich wieder anderen Aufgaben.
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Jeder produzierte das, was ihm am meisten Freude machte, was zu einer außergewöhnlich breiten Palette an Produkten führte ebenso wie zu sehr unterschiedlicher Architektur, Kunstwerken, technischen Schöpfungen usw.
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Produkte, die man selbst herstellte und nicht benötigte, kamen in ein Zentralwarenhaus und konnten einfach mitgenommen werden. Damit ging einher
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eine Erziehung, die zum Maßhalten aufforderte. D.h. man nahm nur das, was einem wichtig war, was man besonders schön fand oder was wirklich gebraucht wurde. Hatte man sich etwa an einem Bild sattgesehen, brachte man es zum Warenhaus zurück und suchte sich ein anderes aus.
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Grund und Boden nahm sich jeder nach Bedarf und so viel wie er für seinen Zweck benötigte, sei es um ein Haus zu errichten, eine Werkstatt, Landwirtschaft usw.
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Gemeinschaftlich entschied man, wie Straßen verlaufen sollten, wo Forschungsbedarf bestand, welche Erzeugnisse fehlten, wobei alle Aufgaben auf freiwilliger Basis verteilt wurden, je nach Interesse meldeten sich die Leute dann und nahmen die Herausforderung an.
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Grundlage der Weiterentwicklung der Gesellschaft war letztlich das Interesse daran, eine Herausforderung anzunehmen und eine Lösung zu finden. Das Glück des Einzelnen, war die Freude die Herausforderung bewältigt zu haben.
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Ob jemand mehrere übergreifende Qualifikationen hatte oder nur eine, beeinflußte den Status nicht. Titel gab es keine. Jeder gab freiwillig sein Bestes. Arbeit war insofern nicht negativ belegt, denn jeder befaßte sich mit den Dingen, die ihn interessierten und ihm Freude machten. Feste Arbeitszeiten gab es nicht - jeder „arbeitete“ so viel wie er wollte bzw. wie es ihm möglich war, was häufig zu 18-Stunden-Tagen führte und dennoch nicht als Belastung empfunden wurde.
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Es gab keine „Rollenverteilung“ zwischen Männern und Frauen, allein Interesse und Begabungen bestimmten die Berufs- und Aufgabenverteilung.
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Steuern gab es keine. Wozu auch, wenn sich viele eben dazu berufen fühlten, Kinder zu unterrichten, Kranke - deren es seltsam wenige gab - zu versorgen, Arbeiten wurden auf freiwilliger Basis verteilt - etwa Straßen- und U-Bahnbau usw.
Es gab noch einiges mehr, an das ich mich spontan nicht erinnern kann.
Die Feinheiten dieser Gesellschaft arbeitet Hogan aus, indem er nach 80 Jahren ein Raumschiff mit einer Erwachsenengruppe von der Erde landen läßt - mit unseren derzeitigen Normen behaftet. Einschließlich Militär, Maklern, Investoren, Finanzakrobaten, Profitdenken usw. Diese verstanden die neue Welt überhaupt nicht. Dort gab es kein Militär (welch ein Unding!), nur eine Handvoll „zivile Polizisten“, Justizsystem fehlte ebenfalls, denn dort regelte man alle Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppen, indem man einen Konsens fand. Da die Menschen nur Tätigkeiten ausübten, die ihnen gefielen, gab es keinen Frust und Unzufriedenheit, Diebstahl/Raub gab’s nicht, alles stand ja frei zur Verfügung. Gab es mal ein seltenes Delikt mußte der Betreffende eine Zeitlang wo anders in der Einsamkeit leben (ohne eingesperrt zu sein), durfte später dann zurückkommen und wurde wieder integriert.
Die Neuankömmlinge wollten ihr System den Kolonisten aufzwingen und anhand der dadurch entstehenden Konflikte, wird die Schizophrenie unserer irdischen Organisation und Werte außerordentlich klar.
Die Idee ist faszinierend und sehr idealistisch. Andererseits, wenn wir dem Geld, Status, Image, Warenhorten (größtes Haus, dickstes Auto, neueste Elektronik), immer „modern“ zu sein (Klamotten, Automodell), nicht mehr nachjagen, sondern in unserem Beruf wirklich eine Berufung sehen könnten, nicht in eine berufliche Zwangsjacke gesteckt würden und unserer Kreativität frei entfalten könnten, um wieviel glücklicher wären wir dann wohl? Um wieviel vielseitiger wäre unsere Leben und das jener, die jeder von uns bereichern könnte?
Damals überlegte ich, zu welcher Zeit war ich am glücklichsten? Mir wurde klar, es war die Studentenzeit, kaum Geld genug zum leben, aber viele Kontakte, die vielen offenen Diskussionen, das lernen, was mir Freude machte und bei dem mir eine spezielle Begabung von Nutzen war. Nur eine „Bude“ haben mit Toilette irgendwo auf dem Flur störte gar nicht, in dem kleinen Zimmer feierten wir trotzdem zu 20 Mann hoch, jeder brachte was mit und die Stimmung war bestens, selbst exzentrische Urlaube waren drin mit vor Ort etwas arbeiten, Autostop usw. Geld brauchte man zwar damals auch, aber wenig, weil die Ansprüche gering waren.
Daraus folgt die nächste Frage automatisch: was braucht ein Mensch zum Leben wirklich?
Materiell - ein Dach über dem Kopf, Bett, Stuhl, Tisch, Kochstelle, Häuschen mit einem Herz in der Tür und Lebensmittel.
Seelisch: Freunde, Familie und einen Beruf, der Spaß macht. Im Prinzip ist das schon alles.
Doch die Werbung erzählt uns etwas ganz anderes und wir fallen ständig darauf herein! Alles andere ist eigentlich Luxus und da sind die Bedürfnisse sehr unterschiedlich: Musik, Bilder, Kunst usw. Wer sich der Werbung verschließt kommt mit uraltem TV-, Computer-, Ton-Gerät prima aus. Brauchen wir wirklich Handies - wer will schon auf der Toilette gestört werden? Jahrtausende ging es ohne, und nun sind sie plötzlich unerläßlich. Wenn keiner eines hätte, würde keiner es vermissen. Und das gilt für zahlreiche Dinge, die wir heute meinen besitzen zu müssen.
Die Industrie hat uns einer gründlichen Gehirnwäsche unterzogen und wir merken noch nicht einmal so richtig, was die uns alles einreden will, derart gefangen sind wir in diesem System. Sie wollen nur unser Geld, und wir dummen Schafe arbeiten uns krumm, um das gewünschte Geld zu beschaffen. Innerhalb dieser Tretmühle verbrauchen wir die Ressourcen unseres Planeten und zerstören ihn, ruinieren unsere Gesundheit bei unmenschlichen Arbeitsbedingungen (z.B. Akkord) und sind unglücklich, weil wir letztlich nie genug Geld haben werden, uns all das zu kaufen, was die Industrie uns einredet, das wir unbedingt haben müssen.
PS: Kunst, Musik, Museen, Bilder, Theater usw. sehe ich teilweise auch als einen Grundbedarf, der die eigene Kreativität, seelisches Wohlbefinden fördert.
Diese Schilderung kann natürlich nur ein Ausschnitt aus einem Gesamtbild sein, einige markante Punkte erwähnen. Vieles kann noch ergänzt werden, um das Bild zu vervollständigen, aber dann müßte es eine Buchserie werden…
Gruß,
Cantate