Hallo,
das „Queen’s English“ gibt es sehr wohl. BBC verlangt schon immer genau diese Aussprache von ihren Sprechern, bei Moderatoren ist das inzwischen aufgeweicht, aber bei den Nachrichten ist das immer noch der Fall.
Man könnte es aber auch den kleinsten gemeinsamen Nenner nennen. Denn dieses Englisch wird in Swansea ebenso verstanden wie in Cambridge wie in Hexham und auch in Glasgow oder in Exeter. Übertrag es auf’s Deutsche: Wo - außer bei den Nachrichtensprechern im Fernsehen und Radio - findest du akzentfreies Hochdeutsch im normalen Leben? Ja, es gibt Menschen, das auch als Sachbearbeiterin am Telefon bei Mercedes so sprechen (wobei das je nachdem, wo man großgeworden ist, leichter oder schwerer fällt), aber die überwiegende Mehrzahl hat einen regional mehr oder weniger gefärbten Zungenschlag und spricht innerhalb dessen mehr oder weniger umgangssprachlich. Nur wie wolltest du dich im Deutschunterricht entscheiden, welchen Landstrich du bevorzugst?
Bei der Grammatik verhält es sich ähnlich. Ein Beispiel aus dem Deutschen. Die Akkusativendung des unbestimmten Artikels bei maskulinen Substantiven muss schriftlich immer da sein, in der Sprache wird sie oft unterschlagen - ich höre das täglich im Radio, selbst bei Nachrichtensprechern, selbst bei Hörbuchlesern. Und bei normalen Gesprächen sowieso.
Beispiel vom Gemüsehändler: „Ich hätte gern einen Kopf Salat.“ Schriftlich eindeutig.
Aber gesprochen: "Ich hätt’ (oder hätte, je nachdem wie weit der Sprecher im Norden verortet ist) gern 'n Kopf Salat. " und leider immer häufiger: „Ich hätte gern ein Kopf Salat.“ Das -en wird verschluckt oder aus „einen“ wird „'n“.
Ein Deutschlerner wird das mit dem 'n wahrscheinlich gar nicht hören und sich vielleicht denken: warum besteht meine Lehrerin immer auf den Artikeln, die Deutschen sagen die gar nicht (großes Problem bei Deutschlernen, die eine slawische Sprache als Muttersprache haben: Ich esse Apfel.) Und zum andern: nur weil viele Deutsche das falsch ausprechen, bleibt es doch falsch - was soll ich also im Deutschunterricht lehren? Doch wohl die richtige Form (schon weil es beim bestimmten Artikel eindeutig ist). --> Ich nehme den (oder demonstrativ: diesen) Kopf Salat.
Ein anderes Beispiel, das mich gerade die letzte Woche in meinem Deutschkurs umtreibt: Vergangenheit. Es stimmt, in der Umgangssprache wird Vergangenheit meist mit Perfekt ausgedrückt: ich bin gefahren / ich habe gelesen. Außer bei sein und haben selbst. Ich kann zwar sagen: „Ich habe Kopfschmerzen gehabt“, aber das ist eine andere Sprachebene als „Ich hatte Kopfschmerzen“, obwohl beides in der Umgangssprache möglich und üblich ist.
Ich lerne mit meinen Deutschanfängern: „Ich war am Wochenende in Frankfurt. Wir sind mit dem Auton gefahren.“ Das ist für die Anfänger verwirrend (und ich bin ziemlich sauer, dass das in der gleichen Lektion eingführt wird), aber es ist richtig. Wenn ich das nicht lehre, dann stolpern meine Schüler jedesmal, wenn ihnen die Präteritumform von sein und haben unterkommt und würden sich wahrscheinlich beschweren, dass sie etwas lernen, was die Deutschen so nicht sagen.
Vokabelquantität wird eh’ überschätzt. Mit einem relativ kleinen Grundwortschatz kommt man durch, außerdem kann man Vokabeln selbst lernen, dafür braucht’s keinen Lehrer. Aber die Struktur der Sprache ist das, was die Kommunikation ausmacht. Die Schüler, die ich im Moment habe, sind seit 3 oder mehr Jahren in Deutschland. Ihr Wortschatz ist relativ groß. Dennoch können sie diese Wörter nicht zu verständlichen Sätzen zusammensetzen oder Bedeutungsunterschiede verstehen, die auf grammatikalischen Strukturen beruhen.
Grüße
Siboniwe