Erinnerungslos in Djannah?

Hallo,

eine Frage an die hiesigen Islam-Experten:

Die islamische Eschatologie ist mir weitgehend vertraut. Insbesondere die quranischen Ausmalungen von Djahannam und Djannah. Und auch der individuelle Zustand bzw. die Daseins-Phase von Barzakh und seine mythologisch-mythenhistorischen Kontext.

Nun ist, soweit ich es überblicke, im Quran aber nirgendwo erwähnt, daß im „Paradies“ (unklar, ob Djannah oder vielleicht doch eher Barzakh gemeint ist) ein Zustand vorliegt, der jegliche Erinnerung an irdische Zusammenhänge und Erlebnisse _ vergessen _ hat. Mir scheint das auch dem Sinn und Zweck der ersten „Befragung“ durch Izrail und dann weiter des Gerichtes zuwider zu laufen. Wie aber ist es, wenn letztendlich die „Seele“ Djanna erreicht.

In der arabisch-islamischen Philosophie sind zwar die Begriffe bzw. Konzeptionen von ruh (teils unterschieden von nafs, teils nicht) zwischen Al Kindi, Ibn Sina, über Al Gazali bis hin zu Abu Ruschd sehr kontrovers diskutiert worden, so daß in diesem Metier eine dogmatische Festlegung nicht empfohlen und nicht gefordert wurde. Aber gibt es in irgendwelchen Hadithen, oder bei späteren Kommentatoren irgendeinen Hinweis auf das Vergessen der vormaligen irdischen Existenz?

Mir scheint diese Vorstellung, sofern sie Muslimen überhaupt relevant erscheint, eher eine Anleihe an antiken griechischen Totenreichkonzeptionen zu sein (Acheron, Styx, Lethe …), die einen bewußtlosen und erinnerungslosen Zustand der Seele im Haus des Hades beschreibt. Mag ja sein, aber mir ist nirgendwo aufgetaucht, daß diese Vorstellungen in islamische Denkweisen eingeflossen sind.

Gruß
Metapher

Hallo Metapher,

mir ist ebenso wenig etwas bekannt darüber, dass man sein irdisches Leben nach islamischer Vorstellung im Jenseits vergisst. Auch nach Recherche konnte ich bisher nichts derartiges finden.

Zumindest in Dschahannam, sollte man mit einem Analogieschluss von verschiedenen Hadithen erkennen können, dass man dort seine irdische Präsenz nicht vergisst. Hier ein sahih Hadith von Muslim und Bukhari :

“Ein Mann wird am Tag der Wiedererweckung gebracht und in das Höllenfeuer geworfen werden. Dann werden seine Eingeweide ins Feuer herausfließen und er wird gezwungen sein, herum und herumzugehen wie ein Esel in der Tretmühle. Die Leute der Hölle werden sich um ihn versammeln und sagen: „O So-und-so, was ist mit dir? Du hast uns doch immer das Gute geboten und das Schlechte untersagt?“ Er wird antworten: „Ich pflegte euch das Gute zu gebieten, aber ich (selbst) tat es nicht, und ich pflegte euch das Schlechte zu untersagen, aber ich tat es selbst.“ Dann wird er herum und herumgehen wie ein Esel in der Tretmühle.”

Hier kann man ( bspw. ) deutlichst herauslesen, dass die Bewohner Dschahannams ( und da keine nähere Spezifizierung der Stufe Dschahannams erfolgt, kann man wohl auf ganz Dschahannam schließen ) sich an ihr irdisches Leben erinnern müssen.

Hier noch zwei Verse aus dem Quran, die das untermauern :

“Und sie werden darin schreien: "Unser Herr, bringe uns (aus der Hölle) heraus; wir wollen rechtschaffene Werke tun, anders, als wir (zuvor) zu tun pflegten.” (Quran 35:37)

“Und sie werden (weiter) sagen: „Hätten wir nur zugehört oder Verstand gehabt, dann wären wir nun nicht unter den Bewohnern des flammenden Feuers.“ So werden sie ihre Sündhaftigkeit zugeben; doch nieder mit den Bewohnern des flammenden Feuers.” (Quran 67:10-11)

In Dschanna jedoch, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass die Bewohner aufgrund ihrer unglaublichen Zufriedenheit dort irgendwann alles vergessen was auf der Erde geschah. Dass Dschanna die Belohnung für ihre irdischen Taten ist, sollten sie aber, so denke ich, nicht vergessen. Aber mal anders gefragt : Ist es nicht notwendig, um die Zufriedenheit der Seele zu gewährleisten, alles weltliche zu vergessen ? Zumindest das, dass an Schlechtem passiert ist ? Das zeigt doch auch folgender Vers aus dem Quran :

“Und Wir wollen alles hinwegräumen, was an Groll in ihren Herzen (aus ihrem Leben in dieser Welt) sein mag. …” (Quran 7:43)

Mehr dazu vermochte ich bisher jedoch nicht zu finden. Zumindest der Fall Dschanna bleibt für mich noch ungeklärt und ich werde wohl noch ein bisschen weiter recherchieren müssen :wink:

Grüße Aqib

Hallo Metapher,
ich habe gestern noch Hadithe mit Bezug zu Jannah gesichtet - davon gibt es reichlich viele, während der Qu’ran in seinen Aussagen dazu ja eher sparsam ist. Auch ich habe nirgendwo einen Hinweis auf einen ‚Gedächtnisverlust‘ gefunden.

Was ich allerdings auch nicht gefunden ist ein Beleg für die in der englischsprachigen Wikipedia aufgestellte (und auch auf islamischen Webseiten gerne kolportierte) vollmundige Behauptung: „Inhabitants will rejoice in the company of their parents, spouses, and children (provided they were admitted to paradise) — conversing and recalling the past“ - genauer: für den hier unterstrichenen Teil. Was meine Meinung über die Seriosität von Wikipedia gerade in solchen Fragen wieder einmal bestätigt.

Richtig ist, dass in den Hadithen beschrieben wird, man treffe in Jannah seine Verwandten und Nachkommen wieder - was irgendwie ja wenig Sinn machen würde, wenn man sich an sie gar nicht erinnern würde …

Freundliche Grüße,
Ralf

Hallo Aqib,
danke, dass Du dich hier einbringst.

Zumindest in Dschahannam, sollte man mit einem Analogieschluss
von verschiedenen Hadithen erkennen können, dass man dort
seine irdische Präsenz nicht vergisst. Hier ein sahih Hadith
von Muslim und Bukhari :

Das stellt zumindest schon einmal eindeutig klar, dass ein solcher ‚Gedächtnisverlust‘ (wenn es ihn den tatsächlich gäbe) nicht im Barzakh eintritt.

Der Gedächtnisverlust würde also dann eindeutig zu den ‚Belohnungen‘ des Paradieses zählen - nur wird diese ‚Belohnung‘ offensichtlich nirgendwo erwähnt, obwohl die Schilderungen von Jannah in den Hadithen doch äußerst detailreich sind.

Ich denke, die These vom Gedächtnisverlust kann man als nicht durch die islamische Tradition gestützt verwerfen. Ich denke auch, der Islam bietet Frau Bernd einen anderen Trost - aber diese Erörterung wurde ja abgewürgt.

Freundliche Grüße,
Ralf

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Hallo Aqib,
danke, dass Du dich hier einbringst.

Hallo Tychiades,

nichts zu danken ! Ich hätte mich auch früher in die Diskussion von Frau Bernd eingemischt, wenn mir mein vollgepackter Tag das wer weiss was früher erlaubt hätte :smile:

Der Gedächtnisverlust würde also dann eindeutig zu den
‚Belohnungen‘ des Paradieses zählen - nur wird diese
‚Belohnung‘ offensichtlich nirgendwo erwähnt, obwohl die
Schilderungen von Jannah in den Hadithen doch äußerst
detailreich sind.

Das lässt in mir die überaus interessante Frage aufkommen, ob dieser Gedächtnisverlust denn wirklich eine Belohnung darstellt, eine Notwendigkeit ist oder im Endeffekt sogar aus hiesigem Standpunkt gesehen in irgendeiner weise verwerflich erscheinen könnte. Vorausgesetzt er existiert in der islamischen Vorstellung. Das Detailreichtum der Schilderungen von Dschannah beschränkt sich im übrigen zum größtenteil auf die Vorzüge Dschannahs - Sinn ist ja auch Dschannah schmackhaft zu machen als Anreiz für die Gläubigen den Regeln des Islam zu folgen. Zum Ablauf der Geschehnisse nach dem Tod und dem jüngsten Gericht für Dschannah Bewohner hingegen ist im Gegensatz zum Ablauf für Dschahannam Bewohner wenig bekannt. Ich glaube, dass wenn man es schafft die oben gestellte Frage bezüglich der Definition des Gedächtnisverlustes als Fluch / Segen mit islamischen Quellen zu beantworten, man durchaus weitere Schlüsse ziehen könnte. Wenn aus islamischer Sicht der Gedanke an das irdische Leben nämlich verwerflich sein sollte, so stünde der Gedächtnisverlust in logischer Konsequenz nicht in Widerspruch zum Dschannah. Ist es aber umgekehrt und der Gedanke an das irdische Leben ist nicht verwerflich, so könnte der Wunsch eines Dschannah-Bewohners bestehen sich an sein Leben im Diesseits erinnern zu können. Nun ist aber die Frage, impliziert ein solcher Wunsch nach Erinnerungen an das Diesseits nicht ein Sehnen nach dem irdischen Leben ? Meiner Meinung nach schon und das stünde ja im Widerspruch zum Konzept von Dschannah.

Durch viel Philosophieren und Zusammentragen von Quellen, kann man hier bestimmt eine halbwegs gute Antwort auf die Frage ob Gedächtnisverlust im Jenseits erfolgt oder nicht bekommen, jedoch sollte eins klar sein : Der Muslim an sich, wenn er denn dem Idealbild entspricht, ist diese Frage prinzipiell egal da er in Gott vertraut und nicht anzweifeln würde, dass Gott das richtige für ihn tut.

Religionswissenschaftlich betrachtet, zeigt uns diese Fragestellung jedoch, dass im Islam nicht immer alles so klar ist wie Muslime des öfteren behaupten und was der Islam als Religion so auch nicht von sich behauptet - die Antwort auf alle Fragen zu haben und die Antwort auf alle Fragen zu sein sind zwei paar Schuhe. der letzte Satz natürlich aus islamischer Sicht betrachtet :wink:

Ich denke, die These vom Gedächtnisverlust kann man als nicht
durch die islamische Tradition gestützt verwerfen. Ich denke
auch, der Islam bietet Frau Bernd einen anderen Trost - aber
diese Erörterung wurde ja abgewürgt.

Das denke ich auch …

Grüße Aqib

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Ru´yat Allah
Hi Metapher.

eine Frage an die hiesigen Islam-Experten:

Bin zwar keiner, möchte dennoch einen Aspekt einbringen.

Nun ist, soweit ich es überblicke, im Quran aber nirgendwo erwähnt, daß im „Paradies“ (unklar, ob Djannah oder vielleicht doch eher Barzakh gemeint ist) ein Zustand vorliegt, der jegliche Erinnerung an irdische Zusammenhänge und Erlebnisse vergessen hat.

Die bisherigen Antworten sowie meine bescheidenen Recherchen (u.a. in mehreren Fachbüchern) ergeben keinen textlichen Hinweis auf einem amnestischen Zustand im islamischen Paradies.

Nun gibt es in diesem Paradies aber zwei Bewusstseinszustände, den der die Früchte Genießenden und den der Gottschauenden. Manche islamischen Strömungen gehen nämlich davon aus, dass es für einige wenige dieser Bewohner, die Allah erwählt, eine Gottesschau gibt. Sie soll allerdings zeitlich begrenzt sein. Ich halte diese Momente des „Schauens“ von Allah für aussichtsreiche Kandidaten in Sachen „amnestischer Zustand“. Für alle mystischen Traditionen gilt, dass die Schau des Göttlichen einhergeht mit der Auflösung des Ich. Letzteres impliziert natürlich auch das Vergessen persönlicher Erfahrungen.

Die Mu´taliziten leugnen die paradiesische Gottesschau mit dem Hinweis auf die Immaterialität Allahs, die auch im Paradies unerkennbar sei, die Ash´ariten behaupten dagegen, dass Allah auch mit leiblichen Augen (gemeint sind die Augen der Paradiesbewohner) zu sehen sei, wenn er dies wünsche. Die Mu´taliziten berufen sich auf Sure 6,103, die Ash´ariten auf Sure 9,72.

Sure 9,72:

Allah hat den gläubigen Männern und Frauen Gärten versprochen, in deren Niederungen Bäche fließen, daß sie (ewig) darin weilen, und gute Wohnungen in den Gärten von Eden (Adn). Aber Wohlgefallen Allahs bedeutet (noch) mehr (als all dies). Das ist der gewaltige Gewinn (al-fauz al-aziem).

Das „Wohlgefallen Allahs“ deuten die Ash´ariten als das ´Anschauen Gottes´.

Über den Bewusstseinzustand dieser hypothetischen Gottesschau liegen außerhalb der sufistischen Tradition aber keine genaueren Angaben vor. Dass er amnestisch ist, kann man aufgrund obengenannter Argumente nur mutmaßen.

Chan

Hallo Aqib,

danke für die zahlreichen Hinweise. So versammelt machen sie die Fragstellung natürlich deutlich. Der Hadith von Bukhari, zumal da er sahih ist, ist bezgl. der Frage als eindeutig zu bewerten.

In Dschanna jedoch, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass
die Bewohner aufgrund ihrer unglaublichen Zufriedenheit dort
irgendwann alles vergessen was auf der Erde geschah.

Daran dachte ich auch zuerst, ob das zu dem Irrtum führen könnte. Obwohl die Ausmalungen ja nicht unbedingt jedermans Geschmackt und Sehnsucht treffen dürfte: Mir z.B. würde der Ritt auf einem Pferd aus reinem Rubin nicht so sehr behagen (ok, kleiner Scherz am Rande).

Aber mal anders gefragt : Ist es nicht notwendig, um die Zufriedenheit der Seele zu gewährleisten, alles weltliche zu vergessen ?

Zumindest das, dass an Schlechtem passiert ist ? Das zeigt doch auch folgender Vers aus dem Quran :

“Und Wir wollen alles hinwegräumen, was an Groll in ihren Herzen (aus ihrem Leben in dieser Welt) sein mag. …” (Quran 7:43)

Ja, schon. Das führt aber in eine widersprüchliche Konsequenz. Die raumzeitliche Kontinuiät der vergangenen Biographie müßte zerstückelt werden, weil einiges Gute mit einigem vorhergegangenen Unguten in kausaler Sukzession zusammenhängt. Aber ok, das betrifft alle Eschatologien, die einen homogenen Zustand der Glückseligkeit präsupponieren. Das ginge über unser Thema hinaus.

Gruß
Metapher

Hallo Ralf,

Was ich allerdings auch nicht gefunden ist ein Beleg für die in der englischsprachigen Wikipedia aufgestellte (und auch auf islamischen Webseiten gerne kolportierte) vollmundige Behauptung: „Inhabitants will rejoice in the company of their parents, spouses, and children (provided they were admitted to paradise) — conversing and recalling the past

Das ist schon interessant. Es zeigt, daß man seh gerne in offizielle und auch obligatorische Lehrmeinungen seine persönliche Interpretation und Phantasie einbringt. Das macht es für das ideenhistorische Interesse so uninteressant und überflüssig, sich mit unprofessionellen Lehrstücken zu befassen. Dazu zählen insbesondere auch christliche, aber auch islamische „Predigten“. Für Wikipedia gilt das natürlich auch.

Richtig ist, dass in den Hadithen beschrieben wird, man treffe
in Jannah seine Verwandten und Nachkommen wieder

Klar. Aber ob das im Allgemeinen so „paradiesisch“ ist, selbst wenn diese ebenfalls dort einschlagen, muß ja auch bezweifelt werden :wink: :wink:

Gruß
Metapher

Hallo,

Ich denke, die These vom Gedächtnisverlust kann man als nicht
durch die islamische Tradition gestützt verwerfen. Ich denke
auch, der Islam bietet Frau Bernd einen anderen Trost - aber
diese Erörterung wurde ja abgewürgt.

Das denke ich auch …

Ja, auch im zeitgenössischen religiöen Nachbarschaften zur Zeit der Islamensteheung finde ich nichst derartiges. Ägyptisches mit seinen „multiplen“ Seelenkonzeptionen (welche das Barzakh historisch interessant machen: Auch Ka bleibt im Grab bei der Leiche)) ist eh ausgestorben, in der sassanidischen Neuauflage des Awesta (Bundahischn, Denkart) finde ich keine Vergessens-Attitude. Nur das allerdings ebenfalls nur antike Griechenland wäre ein Kandidat, wie schon erwähnt.
Frage bleibt nur noch, ob das Dasein im Scheol, das ja auch ein Zwischenzustand ist, im vor-apokalyptischen Judentum etwas derartiges präsentiert.

Aber da die Vergessens-Vorstellung wohl eindeutig nicht in der islamischen Eschatologie plaziert ist, fällt das eh aus dem aktuellen Thema heraus.

Gruß
Metapher