Hallo Martin!
Wie bei Deinem
Beispiel (das wegen der Vorahnung, die auch ein Mensch
eigentlich nicht hat, ein bissel am Rande liegt)…
Vorahnung ist ungeschickt ausgedrückt. Erfahrung wäre passender. Jemand hat soeben eingeparkt und man sieht, dass dieser Mensch in seinem Auto nach irgendwelchen Sachen greift und sich gerade so bewegt, als wolle er seine Fahrertür aufmachen, ohne auf den Verkehr zu achten. Die Situation kann ein Mensch bemerken, einschätzen und sich entsprechend vorsorglich verhalten, aber kein Automat.
Oder
Man fährt hinter einem mit Äpfeln, Brennholz o. ä. beladenen Traktor mit Anhängern und sieht, dass der Vorausfahrende seine Ladung nicht gesichert hat. Man hält tunlichst gewaltigen Abstand. Das macht man aus Erfahrung. Ein Automat ist nicht in der Lage, solche Situation zu erkennen.
Oder
Man fährt in bewaldeter Gegend hinter einem Lkw her, möchte gerne überholen, weiß aber, dass in ein paar hundert Metern eine Lichtung kommt, wo der Lkw möglicherweise vom Wind erfasst wird und einen Satz zur Seite macht.
Oder
Man sieht auf dem Bürgersteig eine Mutter mit einem zappeligen Kind, das drauf und dran ist, sich loszureißen. Nenne es Vorahnung, nenne es Erfahrung, was einen aufmerksamen Menschen veranlasst, mit verminderter Geschwindigkeit und größtmöglichem Abstand zum Fußweg zu fahren.
Oder
Ein offensichtlich Ortsunkundiger sucht wohl eine bestimmte Adresse, fährt auffällig, wechselt unvermittelt die Spur. Oder ein womöglich Betrunkener zeigt auffälliges Fahrverhalten. So etwas merkt man und verhält sich entsprechend. Was „entsprechend“ ist, ist von der Situation abhängig. Wir reagieren auf bestimmtes Outfit/Erscheinungsbild, auch Gesichtsausdruck und Blickrichtung anderer Verkehrsteilnehmer. Wir bemerken den Typen, der seine Musik dröhnend aufgedreht hat, wie ein Gestörter am Gas spielt, irgendwelche Albernheiten abzieht, an seiner Beifahrerin herumschraubt und offenkundig nicht mehr viel vom Verkehrsgeschehen mitbekommt.
Die Aufzählung lässt sich beliebig fortsetzen.
Daraus folgt: Fahrerlose Fahrzeuge sind vertretbar, wo man Unwägbarkeiten ausschließen kann. Es kann funktionieren, wenn es sich bei allen Verkehrsteilnehmern um Automaten handelt und man zudem Imponderabilien etwa durch Witterung und Fahrbahnschäden ausschließen kann. Inmitten eines Verkehrsgeschehens, wo vom ungeübten Gespannfahrer mit schlingerndem Wohnwagen, über Kinder bis zu Rollatorfahrern, vom Pferdegespann bis zum Gülletransporter mit meterweit durch die Gegend schlenkenden Schläuchen alles gemeinsam unterwegs ist, muss man sich von Gedanken an fahrerlos und automatisch durchs Gewusel steuernde Fahrzeuge verabschieden.
Ein Automat kann versagen, er kann falsche Sensorsignale bekommen und entsprechend ungeeignet reagieren und grundsätzlich kann er nur mit Situationen umgehen, die in Sensorik und Programmierung berücksichtigt wurden. Für viele zu beachtende Dinge gibt es aber keine Sensoren. Ein Automat erkennt nicht, wohin ein anderer Verkehrsteilnehmer guckt. Andererseits schläft ein Automat nicht ein und beschäftigt sich nicht plötzlich mit seltsamen Sachen. Er sucht keine heruntergefallene Kippe und interessiert sich nicht fürs Knie der Mitfahrerin.
Deshalb ist es sinnvoll, menschliche Unzulänglichkeiten mit Assistenzsystemen zu mildern. Es ist aber nicht vernünftig, das mit Schwächen behaftete System Mensch gegen Automaten zu tauschen, die andere, aber nicht minder schwerwiegende Unzulänglichkeiten haben. Wenn Automaten zuverlässig funktionieren sollen, muss man für automatengerechtes Umfeld sorgen, d. h. nur Automaten auf der Straße, aber keine Menschen. So etwas findet statt, z. B. in automatischen Lagern mit Flurförderfahrzeugen und in weitgehend automatisierten Fertigungsanlagen. Dort kann man ausschließen, dass z. B. ein Kind plötzlich querbeet auftaucht. Es gibt auch keine mit Schnee oder von einem eingeklemmten Ahornblatt verdeckten Sensoren und falls es doch mal durchs Dach regnet und unerwünschte Einflüsse auftreten, bemerkt man den Schaden in einer Leitwarte. Dort funktioniert alles nach zuvor festgelegten Abläufen. Sobald etwas Unvorhergesehenes auftaucht, ist wieder der Eingriff eines Menschen erforderlich.
Solche Gedankengänge sind allesamt nicht neu. Sie werden seit Jahrzehnten auf verschiedenen Gebieten angestellt, wo es darum geht, Einsatz von Menschen zu minimieren, sei es aus Kostengründen, zum Ausschluss menschlicher Unzulänglichkeiten oder weil die Einsatz- und Umweltbedingungen für Menschen unangenehm oder gefährlich sind. Das Ergebnis ist immer ähnlich: Je mehr Einflüsse von nicht der Automatisierung zugänglichen Systemen (z. B. Kind, Witterung) vorliegen, desto geringer ist die Chance vollständiger Automatisierung.
Gruß
Wolfgang