… eine ganz normale Frau von heute mit einem ganz normalen Beruf, die ein ganz normales Leben führte. Sie war verheiratet, hatte zwei Kinder und liebte ihren Mann. Sie war vielleicht eine Spur emanzipierter als die meisten anderen Frauen, obwohl sie ständig das Gefühl hatte, sie müßte auf diesem Gebiet noch sehr an sich arbeiten. Jedenfalls sagten das alle ihre Freundinnen, besonders die mit den karottenrot gefärbten Haaren, den Schmetterlingsbrillen und den Stickern gegen männliche Gewalt. So einen hatte sie sich auch bestellt und sie wäre stolz darauf, ihn zu tragen.
Und dieses Leben hätte so unauffällig, beschaulich und beruhigend langweilig weiter gehen können, wenn sie nicht eines Abends Nachrichten gesehen hätte. Es ging dort um einen Mörder, einen wirklich brutalen, widerlichen und verachtenswerten vielfachen Mörder und Vergewaltiger, der jetzt bundesweit gesucht wurde. Es wurde auch ein Photo von ihm gezeigt. Mensch, der sah aber auch brutal aus!
Der Sex mit ihrem Mann in dieser Nacht war so gut wie schon lange nicht mehr. Sie hatte auch schon den ganzen Abend über dieses seltsame Kribbeln zwischen den Beinen gespürt.
Die Fahndung nach dem Mörder beherrschte in den nächsten Tagen die Schlagzeilen. Die ganz normale Frau schaute sich in dieser Zeit intensiver als sonst die Nachrichten an, ja, sie las sogar die Zeitung. Das tat sie sonst nicht. Sie wußte ja, wer die Guten und die Bösen waren. Das hatten ihr ihre Freundinnen erklärt. Und diese hatten ja auch wirklich gute Argumente.
Irgendwann später, der Mörder war inzwischen gefaßt und saß in Untersuchugshaft, setzte sie sich hin und schrieb ihm einen Brief. Ihr Mann war bei der Arbeit, aber der nahm in ihrem Leben (zumindest in ihren Gedanken) sowieso einen immer geringeren Platz ein. Er war so … unauffällig, grau und bieder. Die ganz normale Frau hätte es natürlich anders formuliert, wenn sie darüber nachgedacht hätte. Aber das tat sie nicht. In der letzten Zeit dachte sie eigentlich immer seltener nach und wenn, dann drehten sich ihre Gedanken um den Mörder.
In diesen Brief legte sie alles. Sie zeigte sich als verständige, hilfsbereite und zu jeder Art von Unterstützung bereite Frau. Sie legte auch ein Photo von sich bei. Sie war bereit zu warten. Irgendwann würde der Mörder entlassen werden. Und dann wäre sie da, um für ihn zu sorgen. Und der Sex mit ihm würde gigantisch werden. Mit ihrem Mann hatte sie schon seit einiger Zeit nicht mehr geschlafen. Er reizte sie einfach nicht mehr.
Kurz nachdem die ganz normale Frau den Brief eingeworfen hatte, las sie in der Zeitung einen Artikel über die Anziehungskraft von Mördern auf Frauen. Sie war erst sehr erfreut, etwas über sich in der Zeitung zu lesen, aber dann standen dort Worte wie Evolutionsbiologie, Brutpflege, Sicherung des Überlebens und so. Da legte sie die Zeitung schnell wieder weg. Ihr waren nämlich gerade wieder ihre Freundinnen eingefallen. Das waren doch alles Pfui-Worte. Und ihre Freundinnnen wußten schließlich, was wahr und falsch ist.
Das ist schade. Hätte sie den Artikel zu Ende gelesen, so hätte sie erfahren, daß sie kein Einzelfall war. Sie hätte gelesen, daß jeder Mörder und Vergewaltiger Dutzende von Liebesbriefen bekommt. Sie wäre nicht jeden Tag gespannt zum Briefkasten gerannt. Und sie hätte sich die Enttäuschung erspart, irgendwann, einige Monate später, in den Nachrichten zu hören, daß der Mörder, ihr Mörder, eine andere Frau geheiratet hat, die ihm auch einen Brief geschrieben hat. Diese Schlampe!
Gruß Dirk