Drei Ebenen der Erkenntnis
Hi.
… hat bei mir wieder einmal die
Fragestellung ausgelöst, ob (massenhafte) subjektive Erfahrung
jemals objektive Erkenntnis werden kann.
Antwort: Nein.
Objektive Erkenntnis ist intersubjektiv nachprüfbare Erkenntnis. Das geht nur auf dem Weg über das naturwissenschaftliche Messen, welches Stefan zum alleinigen Kriterium des Wirklichen erhebt - worin ich und andere ihm allerdings nicht folgen können.
Das Erkannte muss also intersubjektives Objekt sein können. Subjektive Erfahrung kann diesem Anspruch nicht genügen. Selbst wenn sich alle Menschen darüber einig sind, dass es Träume gibt - denn jeder kennt diese Erfahrung -, so können Träume niemals als Träume ein intersubjektives Objekt, also objektiv, sein. Dass es Träume gibt, darüber besteht ein uneingeschränkter intersubjektiver Konsens. Mit „objektiver Erkenntnis“ ist das aber nicht zu verwechseln.
Man sollte auch nicht dem Missverständnis verfallen, Träume seien messbar, bloß weil die korrelierenden physiologischen Prozesse messbar sind. Träume sind subjektive Erlebnisse und entziehen sich jeder Messbarkeit.
Das Gleiche gilt für Gefühle, Gedanken, Vorstellungen, Phantasien usw. Das sind alles reale Dinge, die aber - in ihrer Existenzweise - nicht messbar sind.
Warum sind sie nicht messbar? Weil sie für physikalische Messprozesse nicht erfassbar sind. Ihre Existenzweise ist eine andere als die der Messgeräte. In der indischen Philosophie unterscheidet man Grob- und Feinstofflichkeit. Dieses Konzept bietet sich an, um die verschiedenen Dimensionen des Physikalischen und des Mentalen zu systematisieren. Es erklärt auch, warum das Physikalische (das Grobe) das Mentale (das Feine) nicht zu erfassen vermag: Es wäre der Versuch, mit einer Gabel Wasser zu schöpfen. Shankara, der vedantische Philosoph des indischen 9. Jahrhunderts, entwirft das Konzept ´grob -vs. feinstofflich´ in seinem Werk „Vivekacudamani“ (Das große Juwel der Unterscheidung).
Man kann drei Ebenen des Erkennens auflisten:
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die materielle Ebene, die Ebene der Messbarkeit
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die mentale Ebene, die Ebene der Gefühle, Gedanken, Vorstellungen, Phantasien und Träume
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die spirituelle Ebene, die Ebene der Erleuchtung, der Unio mystica, der Transzendenz
Die zweite Ebene ist in hohem Maße der Bereich der Symbole. Der Verstand operiert mit Zeichenstrukturen, wobei an Zeichengebilde Vorstellungen und Affekte geknüpft sind. In der Semiotik unterscheidet man die Denotation (das gemeinte Ding) und die Konnotation (die damit assoziierten Vorstellungen und Affekte). Die „Hermeneutik“ ist das Vermögen, die symbolischen Gebilde zu interpretieren. Es ist klar, dass dieser Bereich (der mentale) sich jeder direkten Messbarkeit entzieht. Die Soziologie vermag höchstens auf statistischem Wege Messungen vorzunehmen, z.B. „Wie viele Bayern-München-Fans glauben an Gott (in Prozenten) oder daran, dass Gott den Ball ins Netz der Dortmunder lenkt?“ (Nicht nur ironisch: Schließlich danken manche Fußballer nach einem erzielten Tor ihrem lieben Gott, erkennbar an der himmelwärts gewandten Gestik).
Die dritte, die spirituelle Ebene, entzieht sich sowohl der objektiven Messbarkeit als auch der Symbolisierung. Auch hier sind statistische Aussagen möglich: Soundsoviele Menschen behauptet, eine Erleuchtung erfahren zu haben. Objektivierbar ist das nicht, und wenn es Milliarden waren, die bei ihrer Mutter darauf schwören. Für die Leute selbst aber ist es ein unbezweifelbares Faktum, und allein das zählt natürlich.
Wissenschaftlich anerkannt wird eine Theorie (oder Existenz
von etwas Theoretischem wie dem Higgs-Boson) erst dann, wenn
in einem anerkennbaren Verfahren nachvollziehbare Ergebnisse
hervorgebracht werden, die als Beweis dienen können - verkürzt
dargestellt.
Klar, wie könnte es auch anders sein: Eine Theorie muss sich in der Praxis bewähren, und zwar objektivierbar, wenn sie naturwissenschaftliche Ansprüche erhebt. Theorien über das Mentale und Spirituelle stehen zwar auch unter Bewährungsdruck, aber aucf ganz andere Weise als die NaWi-Theorien. Freuds Theorie des Unbewussten z.B. (eine mentale Theorie) kann nicht 100%ig verifiziert werden, da das Unbewusste keine messbare Größe ist. Man kann es nur hermeneutisch erschließen. Entsprechende Verfahren hat Freud entwickelt, was seiner Theorie eine sehr weitgehende Anerkennung bescherte (wobei sie im Detail natürlich kritisch betrachtet werden kann). Es gibt sogar Einzelne, die die Existenz des Unbewussten ganz in Frage stellen.
Diejenigen, die nicht nur außen, sondern auch innen unterwegs
sind (seien sie nun als spirituell Praktizierende oder
abfällig ´Erleuchtete` bezeichnet)
Seit wann ist „Erleuchtete“ ein abfälliger Begriff, außer aus dem Munde verkrampft spöttelnder Materialisten, wie sie Exemplare tagtäglich im Esoterikbrett zu bewundern sind?
und in dieser Praxis
subjektive Erfahrungen gemacht haben, die sie mit anderen
teilen, haben einen gemeinsamen Erfahrungsschatz. Je mehr
Menschen die gleichen Erfahrungen gemacht haben, desto
manifester wird diese Erfahrung und von subjektivem Erleben in
objektive „Tatsache“ überführt.
Nein, diese Rechnung geht nicht auf. Subjektivität lässt sich nicht zur Objektivität summieren. Wobei „subjektiv“ nicht „falsch“ heißt, sondern „für andere nicht objektivierbar“.
Diese im oder ausserhalb des Bewusstseins gemachten
Erfahrungen sind nicht wiss. messbar. Trotzdem können sie
nicht gänzlich verleugnet werden, denn sie werden nicht nur
von einigen wenigen Psychotikern berichtet, sondern über die
Jahrtausende von einer mittlerweile signifikanten Anzahl
Menschen.
Ok, das Argument habe ich auch schon öfters vorgebracht, vielleicht hast du´s ja von mir, keine Ahnung. Aber es ist kein zwingendes. Warum auch? Reicht es nicht, dass darüber kommuniniziert wird und jeder die Möglichkeit hat, die entsprechenden Erfahrungen praktisch nachzuvollziehen? Wobei nicht zu vergessen ist, dass hier eine angeborenes Talent wesentliche Voraussetzung ist. Nicht jeder Mensch ist für spirituelle Erfahrung „gemacht“, wie auch nicht jeder für die Universitäts-Mathematik oder für das Ausführen von Darmoperatinen „gemacht“ ist.
Und beim Glauben an Gott redet ja auch keine signifikante
Quelle von einer Massenpsychose, obwohl die Existenz Gottes
nie wiss. anerkannt bewiesen wurde.
Na ja, von „Massenpsychose“ vielleicht nicht, aber doch von kollektiver Neurose ![:smile: :smile:](https://www.wer-weiss-was.de/images/emoji/twitter/smile.png?v=9)
Ich frage mich nun, ob die etablierte Wissenschaft nicht die
Existenz von Erfahrungen anerkennen muss, die sie selbst nicht
fähig ist zu messen, deren Existenz sie aber auch nicht
leugnen kann.
Du identifizierst Wissenschaft mit Naturwissenschaft, so wie ich das lese. Das geht natürlich nicht. Es gibt NaWi, es gibt mentale Wissenschaften, und es gibt spirituelle Wissenschaft (das ist eine Kombination von Philosophie und Physiologie, wie sie z.B. der Yoga ist).
Chan