EU, eine Erfindung, um Deutschland zu 'binden'?

Hallo und Guten Tag,

in der Talkshow „Maybritt Illner“ hat der EU-Kommissar Günter Verheugen behauptet, die EU sei überhaupt nur entstanden, um Deutschland in Europa „einzubinden“, um die Macht Deutschlands sozusagen zu „entschärfen“:

http://www.youtube.com/watch?v=ZUmUt_DN8k8

Jetzt wollte ich wissen: Ist das historisch so richtig?

Gibt es die ganze EU wirklich im Grunde nur wegen Deutschland?

Danke im Voraus für Antworten und Meinungsäußerungen,

Jasper.

Guten Abend!

Gibt es die ganze EU wirklich im Grunde nur wegen
Deutschland?

Das ist eine ‚unmögliche‘ Frage, die so nicht beantwortet werden kann.

  1. Es gab schon in der Zwischenkriegszeit Ideen zu einer tiefgreifenden Europäischen Integration. Und zwar aus verschiedenen politischen Lagern.

  2. Selbstverständlich ist die frühe Europäische Integration wesentlich geprägt von der Erfahrung der Katastrophe des 2. Weltkriegs, und damit auch von dem Gedanken, auf diese Weise dem Gefahrenherd Deutschland Herr zu werden.
    Nicht umsonst beginnt die Europäische Integration im wesentlich mit der Errichtung einer gemeinsamen Kontrolle über Stahl und Kohle, also über kriegsrelevante Rohstoffe, die Deutschland zur Verfügung standen.

  3. Wenn man sich die anderen Projekte regionaler Integration in den Winkeln der Welt anschaut (Südamerika, Asien usw.), dann dürfte klar sein, dass zumindest eine Europäische Integration zu einer großen Freihandelszone ohnehin ein Erfordernis der Zeit gewesen wäre - auch ohne den Wunsch nach einer Europäischen Friedensordnung und ohne den Wunsch, Deutschland damit zu binden.

  4. Schade, dass sich die Franzosen (und teilweise die Engländer) mit ihren Separatismus-Plänen nicht gegen die Amerikaner durchsetzen konnten. Dann wären heute vielleicht die Bayern, die Württemberger, die Hessen usw. je für sich Europäer.
    Ich will damit sagen: ein Zeitfenster lang galt Europa nicht nur als mögliches Vehikel der ‚Bindung‘ Deutschlands, sondern auch als eines der Re-Fragmentierung Deutschlands.

E.T.

Hallo Ernst,

erst einmal vielen Dank für die Antwort auf meine Frage. In deinem letzten Punkt schreibst du:

  1. Schade, dass sich die Franzosen (und teilweise die
    Engländer) mit ihren Separatismus-Plänen nicht gegen die
    Amerikaner durchsetzen konnten. Dann wären heute vielleicht
    die Bayern, die Württemberger, die Hessen usw. je für sich
    Europäer.
    Ich will damit sagen: ein Zeitfenster lang galt Europa nicht
    nur als mögliches Vehikel der ‚Bindung‘ Deutschlands, sondern
    auch als eines der Re-Fragmentierung Deutschlands.

Was gab es denn für Pläne von Briten und Franzosen, Deutschland zu fragmentieren? Ich weiss natürlich vom durch die USA später verworfenen Morgenthau-Plan, demzufolge Deutschland hätte deindustrialisiert werden sollen, aber an „Fragmentierungspläne“ kann ich mich aus dem Geschichtsunterricht nicht erinnern.

Heisst das, Briten und Franzosen wollten Deutschland gemäß den alten Königreichen (Bayern, Württemberg, Hessen usw.) aufteilen, und die Amerikaner haben das verhindert?

Und du findest das schade?

Hallo,

Was gab es denn für Pläne von Briten und Franzosen,
Deutschland zu fragmentieren?

Z. B. folgender: http://zis.uibk.ac.at:81/zisneu/dokumente/karten/10.php

Gruß

Montanunion als Vorläufer der EU
Die Montanunion wurde 1952 als Vorläufer der EU gegründet, um den Gründungsmitgliedern gegenseitig die Verfügbarkeit und gemeinsame Kontrolle der Kohle- und Stahlvorkommen zu ermöglichen. Da Deutschland über große Steinkohlevorkommen, Frankreich über große Eisenerzvorkommen verfügte, nützte es letztlich beiden. Wobei die Kohle als wichtigster Primärenergieträger bald ihre Bedeutung an das billigere Erdöl verlor.

Dass Deutschland politisch einzubinden gewesen wäre, war aufgrund des Besatzungsstatuts nicht vordringlich. Außerdem war den Staatsmännern aller beteiligten Nationen durchaus klar, dass Deutschland zwar im 20. Jahrhundert der militaristisch-aggressive Unruheherd Europas gewesen war, dass es diese Rolle aber erst 50 Jahre zuvor von Frankreich übernommen hatte. Wenn es jenseits der wirtschaftlichen Interessen Gründe für eine Montanunion und später eine EU gab, dann ging es historisch darum, beide Länder einzubinden.

Gruß
smalbop

Dass Deutschland politisch einzubinden gewesen wäre,
war aufgrund des Besatzungsstatuts nicht vordringlich.
Außerdem war den Staatsmännern aller beteiligten Nationen
durchaus klar, dass Deutschland zwar im 20. Jahrhundert der
militaristisch-aggressive Unruheherd Europas gewesen war,

Von wegen! Europa ist nicht isoliert und man darf die Geschichte nicht so einzeln sehen. Der übelste, aggresivste und militaristische Staat der Geschicht ist durchaus nicht Deutschland, sondern das sind die USA!
Ansonsten, wenn’s nicht gefällt: Diskutieren wir mal über die Kriege Englands und Frankreichs Anfang des 20. Jahrhunderts, dann war da noch ein kleiner Eroberungskrieg Polens gegen die noch junge Sowjetunion

dass
es diese Rolle aber erst 50 Jahre zuvor von Frankreich
übernommen hatte.

Gerade mal für 6 Jahre. Oder sind wir jetzt auch am 1. Weltkrieg schuld?

Wenn es jenseits der wirtschaftlichen
Interessen Gründe für eine Montanunion und später eine EU gab,
dann ging es historisch darum, beide Länder
einzubinden.

Nein, Deutschland zu fesseln. So ist die EU letztlich nie als europäischer Bundesstaat gedacht, sondern als Unterdrückung Deutschlands. Ein gewisser Herr Monnet hat sich das sehr gut ausgedacht.

Guten Abend, Jasper!

Was gab es denn für Pläne von Briten und Franzosen,
Deutschland zu fragmentieren?

Ich bin da nicht so involviert, aber mir fällt dazu spontan die Züricher Rede Churchills aus dem Jahr 1946 ein, der da sagt:

Die alten Staaten und Fürstentümer Deutschlands, in einem föderalistischen System zum gemeinsamen Vorteil freiwillig zusammengeschlossen, könnten innerhalb der Vereinigten Staaten von Europa ihre individuellen Stellungen einnehmen.

Frankreich hat teils offen, vor allem aber geheimdienstlich, auch mit monetären Zuwendungen, anfangs (schon während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren) separatistische, später dann stark föderalistische, Bestrebungen in Süddeutschland unterstützt, was von den Amerikanern ziemlich genau und misstrauisch registriert wurde, wie es im OMGUS-Archiv gut dokumentiert ist.

Heisst das, Briten und Franzosen wollten Deutschland gemäß den
alten Königreichen (Bayern, Württemberg, Hessen usw.)
aufteilen, und die Amerikaner haben das verhindert?

Offiziell vertrat Frankreich auf den Konferenzen des „Rats der Außenminister der vier Besatzungsmächte“ m.W. „nur“ die Position einer sehr stark föderalistischen Gestaltung Deutschlands - und zwar in Gegensatz vor allem zur USA.
Die genannten OMGUS-Akten und bestimmte Nachlasssammlungen von bayrisch-separatistischen Politikern (z.B. von J. Panholzer oder von F. Berthold) belegen aber zweifelsfrei französische Unterstützung separatistischer Bewegungen in ganz Süddeutschland, darunter auch monarchistischer Bewegungen in Bayern um Kronprinz Rupprecht.

Und du findest das schade?

Ja, persönlich finde ich es schade, dass in diesem Zeitfenster nicht mehr für die bayerischen Separationsbestrebungen drin war.

E.T.

Dass Deutschland politisch einzubinden gewesen wäre,
war aufgrund des Besatzungsstatuts nicht vordringlich.
Außerdem war den Staatsmännern aller beteiligten Nationen
durchaus klar, dass Deutschland zwar im 20. Jahrhundert der
militaristisch-aggressive Unruheherd Europas gewesen war,

Von wegen! Europa ist nicht isoliert und man darf die
Geschichte nicht so einzeln sehen. Der übelste, aggresivste
und militaristische Staat der Geschicht ist durchaus nicht
Deutschland, sondern das sind die USA!

Er liegt halt bloß nicht in Europa, und bei mir war vom Unruheherd Europas die Rede.

Ansonsten, wenn’s nicht gefällt: Diskutieren wir mal über die
Kriege Englands und Frankreichs Anfang des 20. Jahrhunderts,
dann war da noch ein kleiner Eroberungskrieg Polens gegen die
noch junge Sowjetunion

Ich meine, Frankreichs kriegerische Vergangenheit nicht unerwähnt gelassen zu haben. Da aber weder England noch Polen zur Montanunion und auch nicht zu den Gründungsmitgliedern der EWG gehörten, ersparte ich es mir, die Beweggründe für die Gründung derselben auch im Lichte der Geschichte dieser Staaten sehen zu müssen. Du hast übrigens den Angriff der Sowjetunion auf Finnland zu erwähnen vergessen.

dass
es diese Rolle aber erst 50 Jahre zuvor von Frankreich
übernommen hatte.

Gerade mal für 6 Jahre. Oder sind wir jetzt auch am 1.
Weltkrieg schuld?

Du und ich nicht, der preußisch-wilhelminische Obrigkeits- und Militärstaat schon, ja. Ohne den kein 1. Weltkrieg, soviel ist sicher. War Deutschland übrigens für dich nur während des 2. Weltkriegs selbst aggressiv? Gab es da nicht vorher schon ein bisschen Panzer und Luftwaffe beim heimlichen Üben in der SU, Wiedereinführung der Wehrpflicht, Remilitarisierung des Rheinlands, Flottenbau, Einmarsch in Österreich, ins Sudetenland, ins Memelgebiet und ins „Protektorat“?

Wenn es jenseits der wirtschaftlichen
Interessen Gründe für eine Montanunion und später eine EU gab,
dann ging es historisch darum, beide Länder
einzubinden.

Nein, Deutschland zu fesseln. So ist die EU letztlich nie als
europäischer Bundesstaat gedacht, sondern als Unterdrückung
Deutschlands. Ein gewisser Herr Monnet hat sich das sehr gut
ausgedacht.

Dann hat er aber letztlich daneben gelegen, denn wie ich schon sagte: Die Steinkohle wurde bald uninteressant. Europa als Absatzmarkt für den späteren Exportweltmeister aber nicht.

Was die „Unterdrückung“ angeht,feiere ich späte Genugtuung: Warum soll Preußen von Brüssel und der EU besser behandelt werden als zuvor Baden, Württemberg und Bayern von Berlin und dem Reich behandelt wurden? Das was vom Reich noch übrig ist, wird sich bald wieder in seine Einzelteile zerlegen. Dann haben Franzosen und Südstaatler wieder ihre Ruhe (und letztere mehr Geld übrig), mögen die Preußen den damit verbundenen Verlust ihrer Großmachtstellung auch noch so betrauern. Auch Russland und Serbien haben es überlebt, ihrer sowjetischen/jugoslawischen Satrappenstaaten verlustig zu gehen.

smalbop

Hallo

Ja, persönlich finde ich es schade, dass in diesem Zeitfenster
nicht mehr für die bayerischen Separationsbestrebungen drin
war.

Wie immer in solchen Fällen kann ich mir nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, dass das Volk in Bayern aus drei Stämmen besteht, von denen zwei durchaus ihre eigenen, abweichenden Vorstellungen davon gehabt hätten, in welchem staatlichen (und damit fiskalischen) Verband ihr eigener wirtschaftlicher Vorteil (und nicht stattdessen immer nur der des Großraums München) am ehesten zu gewährleisten gewesen wäre.

smalbop

Guten Abend!

Ja, persönlich finde ich es schade, dass in diesem Zeitfenster
nicht mehr für die bayerischen Separationsbestrebungen drin
war.

Wie immer in solchen Fällen kann ich mir nicht verkneifen,
darauf hinzuweisen, dass das Volk in Bayern aus drei Stämmen
besteht, von denen zwei durchaus ihre eigenen, abweichenden
Vorstellungen davon gehabt hätten,

Wem sagst du das …

In diesen von mir schon angesprochenen OMGUS-Akten (zitiert nach Kock, Bayerns Weg in die Bundesrepublik) findet sich eine Umfrage aus dem Jahr 1946, die auf ganz Bayern bezogen ist, und die

47% Ja
37% Nein
15% Unentschieden

auf die Frage nach einer Ablösung Bayerns von Deutschland lieferte. Selbstredend war die Zustimmung in Franken deutlich geringer als in Altbayern.

E.T.

Hallo

Außerdem war den Staatsmännern aller beteiligten Nationen
durchaus klar, dass Deutschland zwar im 20. Jahrhundert der
militaristisch-aggressive Unruheherd Europas gewesen war, dass
es diese Rolle aber erst 50 Jahre zuvor von Frankreich
übernommen hatte.

Gruß
smalbop

das bedarf aber mal einiger Beispiele, die hast du doch sicherlich parat? Wieviele Kriege hat das deutsche Reich von 1871 bis 1914 geführt?? Wieviel vom BIP hat man vor 1914 für das Militär ausgegeben? Es wird hier doch nicht etwa nach Guido Knopp verfahren?

Weihnachtliche Grüße

Opa Paul

EU, eine Erfindung, um Deutschland zu ‚binden‘?
Das hätte ich dem Verheugen garnicht zugetraut, sich mit so einer These so weit aus dem Fenster zu wagen. Die Europäische Integration sollte vor allem den Frieden sichern. Wenn man sich die EGKS und die Gemeinsame Agrarpolitik ansieht, dann nicht nur durch institutionelle Verflechtung, sondern auch durch das Sichern eines möglichst weit verbreiteten Wohlstands. Vor dem Hintergrund der agressiven Politik Deutschlands vor und vor allem während der Weltkriege, kann ich es aber gut verstehen, dass Historiker und Politiker heute behaupten, dass die Einbindung oder Zivilisierung Deutschlands in Europa eine Voraussetzung dafür ist. Die EU als „Erfindung, um Deutschland zu binden“ allein, erscheint mir ein bisschen zu weit hergeholt.