Hallo, Ja die Sache, die Du ansprichst, ist ärgerlich und verursacht bestimmt in Frankreich großen politischen Schaden.Zum konkreten Fall Leonarda Dibrani as Mädel, das mit ihrer Familie zurückgeführt werden sollte, ist während eines Schulausfluges von der Polizei aufgegriffen worden. „L’école est un sanctuaire“* („die Schule ist eine heilige Stätte“) heißt es in Frankreich, was bedeutet, dass die laizistischen Schulen als Stätte des Lernens und der zivilen Erziehung genauso „unberührbar“ sind – wahrscheinlich bis auf wenige Fälle – wie Kirchen. Dort hat die Polizei nichts zu suchen.Dahinter steht der Anspruch, dass die Schule als republikanische Institution z.B. über ethnische und Religionskonflikte zu stehen hat. Leider wird dieses Prinzip gerade jetzt von älteren Schülern und denjenigen, die sie beeinflussen, arg strapaziert wird. Und das Verfahren der Polizei im Fall Leonarda hat manche Gemüter weiter erhitzt.Soweit zum eigentlichen Vorfall.Aber es handelt sich nur um eine Episode in einem viel größeren Drama.An der Stelle muss ich ausschweifen, aber Deine Frage nach der Legitimation Für oder gegen Bleiberecht erfordert schon – nach meiner Meinung – dass man bis zum Tellerrand und darüber hinaus weiter schaut.Vorausschicken möchte ich, dass ich persönlich kein Befürworter der wirtschaftlichen Zuflucht nach Europa bin, dass ich also diesem Asylrecht skeptisch gegenüber stehe.Auch würde ich spontan die Nähe und soziale Kontakte zu jenen armen Schluckern, die da kommen, nicht unbedingt suchen. Das an die Adresse der fundamentalen „Bleiberechtler“. Ich kennen nämlich einige in meinem Umfeld, die sich aus Menschenrechtsgründen zu jeglichem Asylrecht bekennen und eines Tages bei der NPD landen, wenn sie oder ihre Sprösslinge von „Ausländern“ belästigt oder beklaut wurden. Ich will versuchen es kurz zu machen: Wie Europa zu werden hatte, wurde vor vielen Jahren in Brüssel in der Regel wenig demokratische beschlossen. Unstrittig ist, dass die EU als große wirtschaftliche Region ein Management-Instrument ist: die reichen Exportnationen bekommen einen größeren Binnenmarkt; das untere Lohnniveau der ärmeren Länder soll nach und nach in die wohlhabendere Länder importiert werden. Die Agenda 2010 ist in dieser Beziehung nur deutscher voreilender Gehorsam gewesen. Und das gibt Sinn: Kommt Europa nicht auf den Lebensstandard und die Stücklöhne Chinas (und in weiteren 20 Jahren: Äthiopiens), ist das Kontinent verdammt, ein wirtschaftliches Auslaufmodell zu werden. So nehmen die sozialen Probleme zu. Es ist in den letzten 20-30 Jahren für die untersten Schichten nicht besser geworden, gerade in den südosteuropäischen Ländern nicht, aber anerkannter Weise auch nicht in Afrika.Südosteuropa: Unser beschämender Hinterhof. Hier gilt ganz krass: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. (Brecht). Gerade hier breiten sich rasch die soziale, damit auch die moralische und die psychische Zerrüttung aus. Arbeitslosigkeit, Rassismus, das Vorgaukeln bunter Träume übe die weltumspannenden Medien, die Erfahrung, wie es sich ungestraft schnelles Geld verdienen lässt… Bei denjenigen, die seit nunmehr Jahrzehnten in einer solchen Situation stecken, vergrößert sich eher der kultureller Abstand zu unserer westeuropäischen, vom Wohlstandskapitalismus geprägten Befindlichkeit, als er sich verkleinert. Wer dazu noch – etwa als Ungar - den Zusammenbruch des Ostblocks erlebt hat und aus einem sehr unterschiedlichen Kulturkreis kommt, wie zum Beispiel die Zigeuner, hat noch schlechtere Karten.Wen wundert es da noch, dass es da etliche dubiose Dibrani’s gibt?Andererseits: Dass Leonarda - und viele andere gerade junge Leute, die als Kinder entwurzelt wurden , bleiben möchten, nachdem sie die französische Schule und den westliche Lebensrahmen kennen gelernt haben, wer kann ihnen das verübeln? Sie sprechen – wie Leonarda – oft nicht mal mehr die Muttersprache Ihrer Eltern Nochmal: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral„ und damit zurück zu Frankreich: Gerade weil es wirtschaftlich und sozial in Frankreich zurzeit nicht gerade gut läuft, gibt es objektiv oder gefühlt zunehmend Existenzängste, die immer mehr Menschen in die Arme einer populistischen Marine Le Pen treiben.Moral und Humanismus gehen also gleichermaßen sowohl bei den Asylanten als auch bei den Westeuropäer) des sozialen den Bach runter. Aber das Problem lässt sich nicht an den Dibrani’s und auch nicht an Afrikanern, die da vor Lampedusa ertrunken sind und keine Kamikazen-Deppen gewesen sind, festmachen.Diese Menschen sind nicht als fanatische „Asylschmarotzer“ geboren. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat man im Balkan und in weiten Teilen Afrikas die heutigen Existenznöte nicht gehabt, dafür eine funktionierende Lokalwirtschaft und relativ intakte soziale Gefüge.Das System in dem wir leben, ist für die heutigen hausgemachten Probleme nicht programmiert. Die systematisch verursachte, globalisierte Armut lässt sich nicht wie Sondermüll exportieren oder verbutteln. Wenn nicht etwas passiert, haben wir in nicht allzu langer Zeit ein überwiegend xenophobes Europa mit Tausenden von „Selbstschuss-Dronen“ an unseren Außengrenzen. So schafft man die Unterentwicklung der armen Regionen des Erdballs aber nicht aus der Welt. Brutaler werden mit ziemlicher Sicherheit dann die Konflikte zwischen den armen kleinen Leuten jenseits der Festungsgrenzen und den weniger armen kleinen Leuten diesseits. Und in der Zwischenzeit sind die Mächtigen des Casino-Kapitalismus in ruhigere Gefilden weitergezogen.Zur Thematik des Asyl- und des Bleiberechtes könnte man noch vieles schreiben - über das Leben der Illegalen in Frankreich, über die Rolle der Medien, die nach spektakulären Bildern und Top-Meldungen gieren, über die Schlammschlachten zwischen französischer Regierung und Opposition in dieser Frage. Das würde aber die Beantwortung der gestellten Frage nicht viel weiter bringen. Ich empfehle, sich bei ARTE zu dokumentieren. Der Sender bringt meistens Informatives zu der Problematik.
*(http://blogs.mediapart.fr/blog/claude-lelievre/19101…).
têtard