Aber gibt es einigermaßen verlässliche Zahlen, Schätzungen
etc. zu diesem Thema?
Nein, gibt es nicht.
Das „verlässlich“ ist das Problem. Sexueller Mißbrauch bewirkt so gut wie immer ein Gefühl der Scham und des Versagens beim Opfer. Wenn der Täter (oder - selten - die Täterin) dann auch noch eine Vertrauensperson (wie Pfarrer, Betreuer, Verwandter) ist, dann kommt hinzu, daß absehbar ist: Wenn ich mit dem Vorwurf an die Öffentlichkeit gehe, stelle ich mich gegen einen angesehen Menschen, der auch viele Freunde/Befürworter hat. Scham des Opfers und gesellschaftliche Stellung des Täters führen dann dazu, daß viele Fälle gar nicht aufgearbeitet werden oder daß sie zumindest im engsten Familienkreis unter den Teppich gekehrt werden. Die dadurch entstehende Dunkelziffer ist beim sexuellen Mißbrauch meines Wissens extrem hoch.
Wirklich zuverlässige Zahlen kann es daher so gut wie nicht geben. Es mag sein, daß die evangelische Kirche „ihre“ Mißbrauchsfälle schneller geahndet hat, so daß sie immer wieder mal aber nicht so geballt wie bei der katholischen ans Licht gekommen sind (wobei man gerade in Bezug auf die Kinderheime auch aufpassen muß, weil es ja neben den sexuellen Mißbrauchsfällen auch noch die der körperlichen oder seelischen Gewalt ohne direkten sexuellen Hintergrund gab/gibt).
Und was Schätzungen angeht: Die sind immer subjektiv. Wer auf der Opferseite schätzt wird eher höher schätzen, wer sich auf der Täterseite verteidigen muß eher niedriger - und ohne wirklich zu wissen, wie hoch die Dunkelziffern sind, ist es keiner der beiden Seiten möglich eine zutreffende Schätzung abzugeben - von Glückstreffern mal abgesehen.
Fakt ist nur, daß es zu viele Fälle sind und daß sich gerade die Kirchen - auch wenn es in nichtkirchlichen Einrichtungen ebenfalls zu gravierenden Übergriffen kam und kommt - ihrer besonderen Verantwortung stellen müssen - um so mehr je mehr sie eine moralische Vorrangstellung ihrer Einrichtung und ihrer Mitarbeitenden für sich beanspruchen.
Martinus