Falsch wirkende Perspektive

Hallo!

In einem Geschichtsbuch sah ich das Bild „Bauerngrazie“ von 1940, typische NS-Kunst:

http://image.artfact.com/housePhotos/Hermann/10/3018…

Ich frage mich wieso bei diesem Bild die Perspektive so falsch wirkt obwohl mir die Fluchtpunktkonstruktion formal richtig erscheint. Kann mir jemand erklären worin hier der Fehler liegt?

Gruß

Xanadu

Hallo Xanadu

Die Dame ist zu gross, und zwar massiv.
Dort, wo sie in der Raumtiefe steht, nämlich etwa in der Mitte des Bettes, müsste sie etwa um einen Kopf kleiner hingezeichnet werden.

Grüsse
scalpello

Ah, ok, stimmt. Könnte dies Absicht gewesen sein, also in mittelalterlicher Tradition das zentrale Motiv größer darzustellen um seine Wichtigkeit hervorzuheben? Ich kann mir kaum vorstellen dass ein Künstler des 20. Jahrhundert so einen Fehler begeht.

Allerdings wirkt auch die Raumgeometrie vor allem im Bodenbereich auf mich irgendwie nicht korrekt, eher länglich verzerrt.

Das Bild stammt so weit ich weiß von Oskar Martin-Amorbach der Malerei studiert hat, Professor wurde und Berufsmaler war. Was ich sonst so auf die Schnelle an anderen Werken von ihm finden konnte wirklich auf mich als Laie durchaus beeindruckend und fehlerfrei, beispielsweise:

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/f7/…

Servus,

länglich (genau genommen in alle Dimensionen übergroß) verzerrt sind am Boden vor allem die Füße der Riesin, das dürfte in Richtung Schuhgröße 46/47 gehen.

Der Maler ist mit sich nicht so recht einig gewesen, wo er eigentlich den oder die Fluchtpunkte hinlegen wollte; dadurch wird das Schweben der Riesin unterstrichen.

Es ist wahrscheinlich, dass das keine fehlerhafte Komposition ist, sondern ein Experiment mit einer „unechten“ Fluchtpunktperspektive in einem Interieur: Wenn man die „sauber“ mit einem gemeinsamen Fluchtpunkt für alles konstruiert, wirkt das für den Betrachter stark verzerrt, weil der Blick selber auf kurze Entfernungen nicht einer streng geometrischen Perspektive folgt, sondern ständig unterschiedlich fokussiert und eine Mischung der wahrgenommenen Einzelbilder ans Gehirn übermittelt. Wenn ichs richtig sehe, sind hier wenigstens zwei Fluchtpunkte verwendet, wahrscheinlich mehr.

Dass sich realistische Malerei in dieser Epoche mit dem Problem beschäftigte, liegt nahe, weil die vom Realismus wegführenden Strömungen sich erfolgreich um malerische Auflösung des Raumes in die Fläche bemüht hatten. Das führt mehr oder weniger konsequent in die Abstraktion, so dass realistische Malerei dem etwas entgegensetzen sollte, wenn sie eine raison d’être behalten will.

Ähnliche Kämpfe mit der geometrischen Konstruktion einer „natürlichen“ Perspektive, die dem menschlichen Sehen nahe kommt, findet man - einschließlich der „schwebend“ erscheinenden Figuren - in Interieurs der Renaissance. Im Zweifelsfall hat man sich da mit Mariä Verkündigung oder anderen Auftritten von Engeln geholfen, die nicht so fest auf dem Boden stehen müssen, oder mit in irgendeiner Anbetung knienden Figuren, die durch ihre Körperhaltung am Boden festgehalten werden.

Das Beispiel mit dem barockisierenden Deckenbild, das Du verlinkt hast, zeigt, dass der Maler sich mit dem Thema der geometrischen Konstruktion von Perspektiven intensiv beschäftigt hat - wenn man sich vergleichbar angelegte Deckenfresken aus dem Rokoko einmal aus anderer Warte (z.B. von einer Empore aus) anschaut, sieht man, wie ungeheuer schwierig es ist, an einer gewölbten Decke, dazu noch in einer zentralen Kuppel, und erst recht, wenn diese der Bauzeit gemäß viel flacher ist, als sie erscheinen soll, Perspektiven anzulegen, die dem Blick des Betrachters entsprechen.

Schöne Grüße

Dä Blumepeder

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Vielen Dank für die gute Erklärung, als Einfluss modernerer Stile hätte ich das nicht gesehen. Dass der Maler nach dem Krieg sichtlich, wenn auch nicht gerade radikal, von moderneren Stilen beeinflusste Bilder gemalt hat passt dann auch gut ins Bild.

Super Erläuterungen, merci und Stern! o.w.T.
.

Das Bild hat einfach nur einen einzigen Fluchtpunkt. Der liegt etwa in de Mitte des Bildes auf Schulterhöhe der Figur. Der dreidimensionale Raum hat aber drei Fluchtpunkte.

http://www.tgg-leer.de/projekte/fluchtpunktperspekti…
Das Selbe bei diesem Bild. Es gibt nur waagrechte und senkrechte Linien und Linien die auf den Fluchtpunkt zulaufen.

http://www.hyperkommunikation.ch/images/perspektive1…
Hier ein Bild mit zwei Fluchtpunkten. Die horizontalen Linien sind alle paralell zueinander. Diese Art der Darstellung wird gerne für Architekturzeichnungen verwendet.

http://a51.idata.over-blog.com/356x500/3/46/37/80/So…
Hier sind es drei Fluchtpunkte so wie man es von einem dreidimensionalen Raum erwartet.

Servus,

Das Bild hat einfach nur einen einzigen Fluchtpunkt.

Dann liefen die Verlängerungen von Oberkante Bettrahmen, Unterkante Betthimmel, linker und rechter Kante des Truhendeckels, Ober- und Unterkante des Spiegels und die der Stöße zwischen den Dielen sämtlich auf diesen Punkt zu.

Das tun sie meines Erachtens nicht. Es gibt einen zweiten Fluchtpunkt, der tiefer liegt als die rechte Schulter der Riesin und etwas weiter rechts, auf einem angedeuteten Horizont draußen vor dem offenen Fenster. Die Gegenstände rechts von der Figur sind perspektivisch auf diesen tiefer liegenden Punkt orientiert.

Schöne Grüße

Dä Blumepeder

Ein’ hammer noch -

  • der dritte lässt sich durch Verlängerung der Kanten der Fensterleibung und des Fensterrahmens konstruieren.

Wenn man das Blatt auf Papier vor sich nimmt, so dass man sauber mit dem Lineal arbeiten kann, lassen sich eventuell noch mehr finden.

Schöne Grüße

Dä Blumepeder

Da kannst du recht haben. Aber das macht das Bild noch falscher.

Zentralperspektive und Fluchtpunkte
Servus,

„richtig“ oder „falsch“ im Sinn einer technischen Zeichnung kann ein Bild nicht sein, auch im Realismus nicht; auch, wenn sich beabsichtigte Unregelmäßigkeit und Fehler hie und da unterscheiden lässt.

Unabhängig davon: Ob es bei einer streng geometrisch konstruierten Darstellung einen, zwei oder drei Fluchtpunkte gibt, hängt vom Blickwinkel ab, der suggeriert werden soll.

Das hier vorliegende Bild erweckt zunächst den Eindruck, es wäre in Zentralperspektive mit einem Fluchtpunkt konzipiert worden - auch dann wäre es durchaus „richtig“ im Sinn einer zutreffenden Darstellung und „falsch“ insofern, als das Auge ständig unterschiedliche Bereiche des Gesichtsfeldes fokussiert. Streng geometrische Perspektive ist im magischen Realismus, von abtrünnigen Surrealisten und von nicht schubladisierbaren Künstlern in der Nähe des magischen Realismus verwendet worden, um den Eindruck des Unwirklichen zu unterstreichen. Einige Beispiele von Paul Delvaux hier.

Die mehreren, ziemlich nahe beieinander liegenden Fluchtpunkte, die der Maler verwendet hat, erzeugen keine Übereck- oder Vogelperspektive, sondern eine unscharfe Zentralperspektive. Wenn man keine Äußerung des Malers selbst dazu hat, kann man nur darüber spekulieren, was ihn zu diesem Bildaufbau bewogen hat.

Wie auch immer - die unverhältnismäßige Größe der Figur und ihre Loslösung vom Boden, die unter anderem auch durch die gewählte Perspektive erzeugt wird, machen das Werk ganz unabhängig von der Intention des Malers wenig gelungen.

Schöne Grüße

Dä Blumepeder

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Servus,

„richtig“ oder „falsch“ im Sinn einer technischen Zeichnung
kann ein Bild nicht sein, auch im Realismus nicht; auch, wenn
sich beabsichtigte Unregelmäßigkeit und Fehler hie und da
unterscheiden lässt.

Es ging ja um die Frage des Ursprungsposters, warum ihm das Bild so seltsam falsch erscheint.

Unabhängig davon: Ob es bei einer streng geometrisch
konstruierten Darstellung einen, zwei oder drei Fluchtpunkte
gibt, hängt vom Blickwinkel ab, der suggeriert werden soll.

Nicht ganz. In der Fotografie gibt es immer drei Fluchtpunkte, da hier der reale Raum abgebildet wird. Bei der Architekturfotografie werden spezielle Objektive verwendet um die Perspektive zu „entzerren“ und einen Fluchtpunkt aufzulösen. Das Ergebnis sind parallel verlaufende senkrechte Linien (z.B. die Wände).

Das hier vorliegende Bild erweckt zunächst den Eindruck, es
wäre in Zentralperspektive mit einem Fluchtpunkt konzipiert
worden - auch dann wäre es durchaus „richtig“ im Sinn einer
zutreffenden Darstellung und „falsch“ insofern, als das Auge
ständig unterschiedliche Bereiche des Gesichtsfeldes
fokussiert. Streng geometrische Perspektive ist im magischen
Realismus, von abtrünnigen Surrealisten und von nicht
schubladisierbaren Künstlern in der Nähe des magischen
Realismus verwendet worden, um den Eindruck des Unwirklichen
zu unterstreichen. Einige Beispiele von Paul Delvaux hier.

Wie gesagt geht es um die Frage warum das Bild „falsch“ erscheint. Davon abgesehen handelt es sich um einen Vertreter der „NS-Kunst“. Ich denke nicht, dass man da bewusst auf solche „Spielchen“ setzt. Vielleicht wurde zugunsten der Komposition „geschummelt“.

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Servus,

das führt vom eigentlichen Thema weg, aber es interessiert mich jetzt schon: Heißt das, dass eine „gewöhnliche“ Zentralperspektive mit einem Fluchtpunkt ein Sonderfall ist, in der zwei Fluchtpunkte links und rechts deswegen nicht in Erscheinung treten, weil sie neunzig Grad zur Blickrichtung nach links und rechts liegen, so dass der „Guckkasten“, der bei einer Zentralperspektive mit einem Fluchtpunkt auf einer gedachten Horizontlinie entsteht, bloß ein Hilfsmittel ist, um ein räumliches Erscheinungsbild zu erhalten?

– Zur „Schubladisierung“ NS-Kunst: Die sollte man, glaube ich, genauso wenig unterschätzen wie den Sozialistischen Realismus. Bei beiden werden wir beide wegen der ideologischen Überfrachtung die Rehabilitierung nicht mehr erleben; Nachbars tun sich da mit „ihrem“ Blut- und Bodenmaler Ferdinand Hodler viel leichter. Freilich gibt es in der Abteilung „Deutsche Kunst“ auch furchtbare Schmachtfetzen, aber richtig schlimm wurden sie erst später, als sie in der folgenden Epoche von Caprifischer und der Rose vom Wörthersee als „Hirsch am Bergsee“, „Spanische Tänzerin“, „Lustige Wandergesellen“ und „Beim Löwenwirt zu Ruhpolding“ unter Weglassung von Fahnen, Heroen und Stahlgewittern als Dutzendware vulgarisiert wurden.

Leider kann ich nicht mehr belegen, dass die Frage, was „Deutsche Kunst“ sei, wohl innerhalb der NS-Führungsriege ziemlich kontrovers diskutiert wurde, und z.B. Dr. Josef Klumpfuß die deutschen Expressionisten, u.a. Emil Nolde, sehr mochte: Ich weiß einfach nicht mehr, wo ich das aufgelesen habe.

Nungut, „geschummelt“ worden ist bei der Riesin in der Schlafkammer sicherlich; ziemlich sicher war es Absicht, und das Ergebnis ist nicht grad überzeugend. Es freut mich aber bei der Betrachtung des vorgelegten Bildes schon im Stillen, dass Malerei in den landläufigen Gymnasien ein bissle weniger vergewaltigt wird als Lyrik („Was wollte der Dichter damit sagen?“).

Schöne Grüße

MM

Servus,

das führt vom eigentlichen Thema weg, aber es interessiert
mich jetzt schon: Heißt das, dass eine „gewöhnliche“
Zentralperspektive mit einem Fluchtpunkt ein Sonderfall ist,
in der zwei Fluchtpunkte links und rechts deswegen nicht in
Erscheinung treten, weil sie neunzig Grad zur Blickrichtung
nach links und rechts liegen, so dass der „Guckkasten“, der
bei einer Zentralperspektive mit einem Fluchtpunkt auf einer
gedachten Horizontlinie entsteht, bloß ein Hilfsmittel ist, um
ein räumliches Erscheinungsbild zu erhalten?

Mir ist nicht ganz klar was die Frage ist.
Zentralperspektive ist einfach eine primitive Form des Versuchs dreidimensionale Gegebenheiten auf einer zweidimensionalen Fläche darzustellen. Da ein dreidimensionaler Raum drei geometrische Achsen hat, muss eine korrekte dreidimensionale Darstellung auch drei Fluchtpunkte haben. In der Malerei sind aber drei Fluchtpunkte oft nicht nötig, da der dritte Fluchtpunkt sehr weit ausserhalb des Bildträgers liegen würde, kann man ihn auch vernachlässigen.
Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass wenn heute Jemand ein Bild malen will, er drei (oder mindestens zwei) Fluchtpunkte verwenden muss. Je nach Absicht des Künstlers kann die Zentralperspektive auch als Stilmittel gelten.

– Zur „Schubladisierung“ NS-Kunst: Die sollte man, glaube
ich, genauso wenig unterschätzen wie den Sozialistischen
Realismus. Bei beiden werden wir beide wegen der ideologischen
Überfrachtung die Rehabilitierung nicht mehr erleben; Nachbars
tun sich da mit „ihrem“ Blut- und Bodenmaler Ferdinand Hodler
viel leichter. Freilich gibt es in der Abteilung „Deutsche
Kunst“ auch furchtbare Schmachtfetzen, aber richtig schlimm
wurden sie erst später, als sie in der folgenden Epoche von
Caprifischer und der Rose vom Wörthersee als „Hirsch am
Bergsee“, „Spanische Tänzerin“, „Lustige Wandergesellen“ und
„Beim Löwenwirt zu Ruhpolding“ unter Weglassung von Fahnen,
Heroen und Stahlgewittern als Dutzendware vulgarisiert wurden.

Was der NS-Kunst, also der Kunst die gefördert wurde weil sie sich mit der Ideologie vereinbaren ließ, gegenüber steht, ist die sogenannte entartete Kunst. Also die Kunst die vom NS-Regime abgelehnt wurde. Und wenn man sich diese „abgelehnte Kunst“ anguckt, kann man davon ausgehen, dass unserem Künstler hier kein Interesse gehabt haben kann Elemente des Surrealismus zu verwenden indem er absichtlich mit der Perspektive spielt.

Leider kann ich nicht mehr belegen, dass die Frage, was
„Deutsche Kunst“ sei, wohl innerhalb der NS-Führungsriege
ziemlich kontrovers diskutiert wurde, und z.B. Dr. Josef
Klumpfuß die deutschen Expressionisten, u.a. Emil Nolde, sehr
mochte: Ich weiß einfach nicht mehr, wo ich das aufgelesen
habe.

Emil Nolde war selbst ein Nazi… und seine Malerei galt als entartet.