Film echter als Theater

Hallo zusammen,

wir waren gestern Abend im Theater und haben ein modernes, lebensnahes Stück gesehen.
Als wir hinterher darüber sprachen, fiel uns auf, dass der Stoff und die Szenen uns die Tränen in die Augen getrieben hätten, hätten wir sie in einem gut gemachten Spielfilm gesehen.
Theater berührt mich und meine Begleiterin bestenfalls intellektueller, aber nie emotional. Der Grund dafür liegt darin, dass Theaterschauspieler immer unnatürlich und gekünstelt wirken. Im Film hingegen hat man die Illusion, alles sei echt, d.h. der Eindruck des Schauspielern entsteht gar nicht, gute Schauspieler vorausgesetzt.
Warum ist das so? Warum wirkt Theater nicht natürlich und kann deshalb schwerlich berühren?
Wenn es dramatische Szenen im Theater gibt, in denen ein Schauspieler starke Gefühle zeigt, dann kommt es nicht zum Mitgefühl, sondern eher zu Schamgefühlen.

Tychi

Hi Tychi,

ich kann mich zwar selbst nicht an Schamgefühle im Theater erinnern, aber natürlich ist es so, dass Film mehr direkt emotional berührt.
Ob es dafür erwiesene Gründe gibt, weiß ich nicht, ich kann es nur für mich erklären:

  • dass Theater gekünstelter wirkt, liegt zum einen daran, dass die Schauspieler lauter sprechen, fast schreien müssen, um überhaupt gehört zu werden. Auch stehen sie ja räumlich weit weg und müssen Gesten übertriebener darstellen, damit sie auch von den hinteren Plätzen erkannt werden. Auch die Theaterschminke ist ja schon übertrieben, aber von weit weg sieht es gerade richtig aus.

  • das Fremdschämen entsteht wohl dadurch, dass man im Film durch die Augen des Handelnden sieht. Im Theater indes sieht man den Handelnden an. Man steht ihm gegenüber. Im Film hält sich die Kamera immer wieder nah am Gesicht des Protagonisten, wir sind direkt bei/mit ihm. Würde im Film ein Gegenüber des Protagonisten sehr emotional agieren und wir sähen ihn aus des Protagonisten Augen (also aus der gleichen Perspektive, aus der wir den Theaterschauspieler ansehen), wäre das Fremdschäm-Risiko, denke ich, auch erheblich größer.

  • Man ist mit dem Theaterschauspieler in einem Raum. Bei der Filmfigur sind wir nah dran, doch durch die Leinwand gleichzeitig gar nicht bei dem Menschen selbst, dadurch kann er stellvertretend für unser eigenes Ich stehen. Wir haben beim Film überhaupt kein Gespür dafür, was der Schauspieler an sich für ein Mensch ist. Auf der Leinwand, auch auf Fotos, kann man nur beurteilen, was für eine objektive Ausstrahlung jemand hat, sobald wir ihn aber persönlcih im gleichen Raum erleben, erleben wir den Menschen immer auch in Bezug zu uns selbst, also subjektiv. Deshalb bietet eine Filmrolle eine viel größere Indentifikationsfläche als ein Theaterrolle, weil dort unser eigener Bezug zum gegenüberstehenden Menschen quasi wegfällt.

  • zu guter letzt macht die Musik einen wesentlichen Teil der emotionalen Ergriffenheit aus. Im Theater wird so richtig emotionale Musik selten verwendet, weil das da zu „gefühlsduselig“ ist. Die meisten Theaterstücke sind ja vom Text her auch mehr auf Intellekt als auf reine Emotionalität ausgelegt, wohl, weil man sich bewusst ist, dass reine Emotionalität im Theater weniger gut funktioniert. Es fehlen die stimmungshaften Bilder, die zur Musik abgespielt werden können. Wo man im Film z.b. halbscharfe Landschaftsbilder zu ergreifender Musik zeigen könnte, bliebe im Theater leerer Raum. Im Theater kann einem keiner den Blickwinkel vorschrieben, den man wahrnimmt. Man kann überall hinkucken, nach links, rechts, zum Nachbarn. Man ist immer Teil des erlebten Raums, im Film dagegen ist es ein Ersatzraum, in den man sich quasi allein zurückziehen kann.

  • Zum Teil, denke ich, ist es aber auch einfach eine Tendenz, dass Theaterinszenierungen und -stücke heute bewusst „unemotional“ bzw. distanziert dargestellt werden, weil man dem Film die Hochemotionalität überlässt und sich damit nicht gleichsetzen will (bzw. weiß, dass man es eh nur annähernd schaffen würde). Mir fällt nämlich ein, dass ich (eher zeitgenössisches) Ballett immer extrem ergreifend fand. Wohl zum einen, weil die Musik dort so tragend war, zum anderen, weil nicht sozusagen mit dem Publikum kommuniziert wird, per Text. Aber vielleicht auch, weil Tanz wieder so artifiziell und (durch den Mangel an Text) irgendwo eine andere Distanz schafft, durch die man wiederum eigene Emotionalität empfinden kann. Und mit Film hat Tanz sowieso so wenig gemein, dass man gar nicht auf die Idee kommt, das zu vergleichen, und sich daher auch auf größere Emotionalität einlassen kann.

Das wären so meine Ideen dazu. Ich hoffe, der letzte Absatz ist verständlich…

Gruß,
Judy

Hi,

ich denke, ein Teil der Emotionen kommt auch durch die Musik. Ich hatte minutenlang Tränen in den Augen, als ich mir Verdis Maskenball angesehen habe.

LG IA

Hi Judy,

danke für die Antwort. Ich glaube, du triffst es ganz gut. Hast mir geholfen.

Tychi

Zusatz
Hallo,

deine Ausführungen kann ich uneingeschränkt unterstützen!

Imho kommt jedoch noch ein wichtiger Umstand dazu:

Im Theater kommt das rüber, was der Schauspieler gerade in der momentanen Lage ist, zu transportieren. Dabei können seine Emotionen in völligem Widerspruch zu dem stehen, was er gerade ausdrücken soll, und mit genügend Sensibilität spürt man das…

Beim Film hingegen wird eine entscheidende Szene vom Regisseur so lange durchgepaukt, bis das Ergebnis stimmt.

Gruß

Hummel

Hallo,
merkwürdig, ich empfinde es nahezu immer genau umgekehrt.

Zugegeben: beides sollte von gleicher Qualität sein, um miteinander verglichen zu werden. Aber gutes Theater ist einem Film m.E. nach meistens, was die Echtheit der Emotionalität angeht, überlegen.

Mir persönlich erscheinen echte Menschen in einer emotionalen Theaterszene verglichen mit einem Film weitaus glaubwürdiger und lebendiger. Bei einem Film wird massenhaft geschnitten und „weggelassen“, die Perspektive beeinflusst, Geschwindigkeit gerafft usw. Allein schon richtig gute Schauspieler auf der Bühne vollständig zu sehen, eröffnet eine andere Ebene. Ein Opfer einer Gewalttat zB sitzt „wirklich verstört“ keine 10 m vor einem. Man sieht Schweiss, Tränen, Haut, Haare, zerrissene Kleidung. Alles was man in einem Film häufig nicht in der Fülle wahrnehmen kann. Es wirkt allein schon durch den echten Menschen an sich. Solche Szenen brauchen im Theater zB auch keine Dialoge. Macht man sowas im Film, wirkt es in der Regel aufgesetzt und langweilig.

Das gleiche bei einer (guten) Liebesszene (ich meine keine Nacktszenen koppulierender Schauspieler, sondern zB das erste Verlieben o.ä. :wink:). Auch hier sieht man die Akteure vollständig mit ihrem gesamten Körper und das häufig gleichzeitig. Sowas wirkt im Film einfach nicht bzw. anders und wird durh Schnitte und Nahaufnahmen ersetzt. Gut gemachtes Theaterschauspiel benötigt auch das alles nicht.

Könnte das von Dir beschriebene Schamgefühl genau damit zusammenhängen? Theaterschauspieler, die eine sehr emotionale Rolle spielen, verausgaben sich sehr, verinnerlichen die geforderte Emotion und wirken nun mal weitaus echter als Filmbilder. Könnte es sein, dass es derart berührt, dass man lieber gar nicht das Gefühl haben mag, dort sitzt ein echter Mensch und leidet wirklich?

Gruß vom
Schnabel

Hallo,

ich kann das streckenweise nachempfinden, aber auch nicht immer.

Meistens liegt es daran (für mich zumindest), das Theater oft gewollt inszeniert ist, gewollt intellektuell und abstrakt dargestellt, das ich finde, da ist für Gefühle gar kein Platz. Mir fehlt oft Musik und auch das richtige Licht/ die richtige Kulisse . Wenn da zehn Menschen in grauen Lycraanzügen schreiend über die Bühne rennen und sich mit gelber Farbe beschütten und dabei „f++++“ schreien, dann symbolisiert das für mich keine Neidgefühle oder die Sexualisierung unserer Gesellschaft, sondern es sind einfach nur zehn Menschen in Lycraanzügen.

Nach einer Opernaufführung (ich glaube es war der Gefangenenchor ?? ) musste ich fast heulen, weil die Stimmen und Darstellung so ergreifend war. Kann mich auch an eine Aufführung erinnern, wo der Hauptdarsteller in seinem Elend so ergreifend war, das die Leute wirklich auch ergriffen waren. Da stimmte aber auch das Bühnenbild, die Kostümierung und ganz wichtig, der Darsteller zur Rolle.

Ich kann mich an Theatherstücke erinnern, wo ich emotional sehr berührt war, meistens allerdings in Produktionen, die von Kritikern eher „mainstream“ gewertet wurden- muss aber auch dazu sagen, das viele Kritiken an sich mir schon zu abstrakt und intellektuell gekünstelt sind, das ich die Stücke an sich ganz furchtbar finde. Manchmal habe ich das Gefühl, es ist auch gar nicht gewollt, das diese Stücke ergreifen und berühren, sie sollen möglichst anders und auf gar keinen Fall Mainstream sein, worauf ja viele Filme abzielen, das sie einfach auch nicht genügend Menschen erreichen.

lg

brenna

Hallo,

es gibt Theaterinszenierungen, die kicken den Intellekt. Und es gibt solche, die erreichen tiefste Emotionen. Und natürlich gibt es auch solche, die nichts von allem tun :smile:. Ich habe viele Aufführungen erlebt, bei denen der Schnaub- und Räusperfaktor im Publikum kollektiv enorm anstieg. Ich habe Menschen den Theatersaal verlassen sehen, weil sie so aufgewühlt waren, dass sie es nicht mehr ausgehalten haben. Und ich kenne das Gefühl, im Zuschauerraum zu sitzen und plötzlich zu merken, dass man vergessen hat, zu atmen.

Die Qualität der Schauspieler spielt sicher eine enorme Rolle. Aber auch der Weg, auf dem der Regisseur sie führt - und ganz sicher die persönliche Befindlichkeit des Zuschauers und seine Bereitschaft, sich einzulassen.

Theater ist öffentlicher Raum. Da kontrolliert man sich ohnehin stärker als auf der heimatlichen Couch. Und wenn der Kopf die Kontrolle übernommen hat, haben es die Emotionen schwer.

Schöne Grüße,
Jule