Fluchtgeschwindigkeit 11 km/s?

Hallo Experten,

es wird stereotyp behauptet, dass die erforderliche Geschwindigkeit, um dem Schwerkraftfeld der Erde zu entkommen, ca. 11 km/s sein muss. Ich verstehe es mal so, dass der Gegenstand/die Sonde/das Raumschiff ähnlich einer Pistolenkugel eine verhältnismäßig kurze und starke Beschleunigungsphase erfährt und dann mit der o.g. Geschwindigkeit gerade eben entfleuchen kann. In der Realität wird es sicher nicht ganz so sein, oder? Wenn also die Beschleunigung nicht bloß auf den Anfang der Flugbahn konzentriert, sondern eher kontinuierlich, auf mehrere Beschleunigungsphasen oder über einen größeren Zeitraum verteilt wäre, könnte das dann auch mit geringerer Geschwindigkeit geschehen?

Ich stelle mir es so vor, dass die Antriebskraft gleich oder nur etwas größer als die örtliche Gravitation und entgegengesetzt gerichtet ist. Somit könnte ein Gegenstand mit vergleichsweise geringer Geschwindigkeit von der Erde wegbeschleunigt werden, wobei mit wachsendem Abstand von der Erde die Schwerkraft sinkt und somit der erforderliche Schub zur Aufrechterhaltung der Geschwindigkeit, aber gleichzeitig auch die Fluchtgeschwindigkeit selbst. Ist der Gedankengang so einigermaßen nachvollziehbar und korrekt, und wäre das ggf. energetisch günstiger oder ungünstiger als der Versuch, die 11 km/s tatsächlich schnell zu erreichen?

Ich vermute mal, dass die zu investierende Beschleunigungsenergie, um beispielsweise den Mars zu erreichen, bei geringerer Geschwindigkeit kleiner ist, weil am Ende ja auch nicht so stark gebremst werden müsste. Bei Zielen weit außerhalb des Sonnensystems müsste es eigentlich gleich sein, Swing-by-Manöver mal außer Acht gelassen. Schließlich zählt die gesamte Energie und nicht die momentane Geschwindigkeit oder? Wie schaut’s aus?

LG
Huttatta

Ich verstehe es mal so, dass der
Gegenstand/die Sonde/das Raumschiff ähnlich einer
Pistolenkugel eine verhältnismäßig kurze und starke
Beschleunigungsphase erfährt und dann mit der o.g.
Geschwindigkeit gerade eben entfleuchen kann.

So ist die Fluchtgeschwindigkeit definiert.

In der Realität wird es sicher nicht ganz so sein, oder?

In der Realität genügt die Geschwindigkeit, die notwendig ist, um die Hill-Sphäre der Erde zu verlassen. Die ist allerdings nur geringfügig kleiner und danach sitzt man im Gravitationsfeld der Sonne fest.

Wenn also die
Beschleunigung nicht bloß auf den Anfang der Flugbahn
konzentriert, sondern eher kontinuierlich, auf mehrere
Beschleunigungsphasen oder über einen größeren Zeitraum
verteilt wäre, könnte das dann auch mit geringerer
Geschwindigkeit geschehen?

Ja. Die Fluchtgeschwindigkeit ist von der Entfernung zum Erdmittelpunkt abhängig. Je weiter man weg ist, um so kleiner wird sie. Der Wert von 11 km/s bezieht sich auf die Erdoberfläche.

Ich vermute mal, dass die zu investierende
Beschleunigungsenergie, um beispielsweise den Mars zu
erreichen, bei geringerer Geschwindigkeit kleiner ist, weil am
Ende ja auch nicht so stark gebremst werden müsste.

So einfach ist das nicht. Der einfachste Weg von der Erde zum Mars führt über eine Transferellipse ( http://de.wikipedia.org/wiki/Hohmannbahn ) und die erfordert eine genau definierte Startgeschwindigkeit.

Hi…

es wird stereotyp behauptet, dass die erforderliche
Geschwindigkeit, um dem Schwerkraftfeld der Erde zu entkommen,
ca. 11 km/s sein muss. Ich verstehe es mal so, dass der
Gegenstand/die Sonde/das Raumschiff ähnlich einer
Pistolenkugel eine verhältnismäßig kurze und starke
Beschleunigungsphase erfährt und dann mit der o.g.
Geschwindigkeit gerade eben entfleuchen kann.

Genau. Die Stärke der Beschleunigung ist eigentlich egal, der Körper muß „nur“ an der Erdoberfläche mit dieser Geschwindigkeit starten. Wenn man dazu eine 3 km lange Kanone im Boden vergräbt, kann die Beschleunigung etwas geringer sein, als wenn man es mit einem 1 m langen Gewehr versucht.

In der Realität
wird es sicher nicht ganz so sein, oder? Wenn also die
Beschleunigung nicht bloß auf den Anfang der Flugbahn
konzentriert, sondern eher kontinuierlich, auf mehrere
Beschleunigungsphasen oder über einen größeren Zeitraum
verteilt wäre, könnte das dann auch mit geringerer
Geschwindigkeit geschehen?

Ja. Keine Rakete schafft eine solche Geschwindigkeit aus dem Stand. Trotzdem fliegen die Dinger erwiesenermaßen bis zum Mond.

Ich stelle mir es so vor, dass die Antriebskraft gleich oder
nur etwas größer als die örtliche Gravitation und
entgegengesetzt gerichtet ist. Somit könnte ein Gegenstand mit
vergleichsweise geringer Geschwindigkeit von der Erde
wegbeschleunigt werden, wobei mit wachsendem Abstand von der
Erde die Schwerkraft sinkt und somit der erforderliche Schub
zur Aufrechterhaltung der Geschwindigkeit, aber gleichzeitig
auch die Fluchtgeschwindigkeit selbst. Ist der Gedankengang so
einigermaßen nachvollziehbar und korrekt

Ja.

und wäre das ggf.
energetisch günstiger oder ungünstiger als der Versuch, die 11
km/s tatsächlich schnell zu erreichen?

Kann man so einfach nicht sagen. Wenn wir mal von einer beliebigen Raumsonde ausgehen, gilt:
Der Energieunterschied zwischen den Zuständen „Sonde liegt am Erdboden“ und „Sonde fliegt 30 km über dem Erdboden mit Geschwindigkeit x“, ist gleich, egal wie der Übergang zwischen den zwei Zuständen erreicht wurde.

Simpel betrachtet ist es also Jacke wie Hose, wie man der Sonde die notwendige Energie mitgibt. Einmal alles beim Start oder gleichmäßig über 30 km verteilt.

Nun gibt es aber noch ein paar Faktoren, die die Rechnung verkomplizieren:

  1. Luftwiderstand
    Dieser hängt von Fluggeschwindigkeit und Luftdichte ab. Eine Sonde, die in der „dicken“ Luft am Erdboden sehr schnell fliegt, verliert mehr Energie als eine, die dort langsam ist und erst oben in den dünnen Luftschichten Gas gibt.

  2. Zusätzliches Gewicht
    Die Rakete hat ein Eigengewicht, das quasi sinnlos mitbeschleunigt wird. Eine Saturn V wog vollgetankt knapp 3000 t, davon nur 130 t Nutzlast.

  3. Wirkungsgrad
    Ein Raketentriebwerk verwandelt bis zu 80% der chemischen Energie, die ihm zugeführt wird, in Vortrieb. Bei einer Kanone sind es unter 40%. Dieses Misverhältnis sähe allerdings nicht ganz so aus, wenn Treibladungen für Kanonen bis heute so intensiv erforscht würden wie Raketentreibstoffe.

  4. Stabilität der Nutzlast
    Und das ist das Killerkriterium für die langsame Rakete, selbst wenn unter Beachtung aller anderen Faktoren die Kanone günstiger wäre. Von den Dingen, die wir so in den Weltraum schießen, würden die wenigsten die Beschleunigung unbeschadet überstehen.

Ich vermute mal, dass die zu investierende
Beschleunigungsenergie, um beispielsweise den Mars zu
erreichen, bei geringerer Geschwindigkeit kleiner ist, weil am
Ende ja auch nicht so stark gebremst werden müsste.

Eines der ewigen Dilemmata der Raumfahrt. Ich gebe zu, ich mußte den Plural nachschlagen :wink:
Aufgrund der enormen Entfernungen möchte man mit möglichst hoher Geschwindigkeit fliegen. Eine Halbierung der Reisezeit bedeutet aber bis zu achtfachen Energieeinsatz (Wenn das Ziel eine Atmosphäre hat, kann man diese zum energiesparenden Bremsen nutzen, dann braucht man nur beim Start die vierfache Energie).

genumi

P.S. Beim letzten Absatz ist noch nicht mal eingerechnet, daß man den zum Bremsen mitgeführten Treibstoff beim Start auch mit beschleunigen muß.

Hi,

theoretisch hast Du recht. Man könnte also durchaus mit einer Rakete langsam nach oben und immer weiter vom Planeten wegschweben.

Aus diversen technisch-praktischen Gründen ist dies aber faktisch total unmöglich, denn die Rakete bräuchte ein Vielfaches an Energie, wenn nicht sogar fast unendlich viel Energie dafür.

Beispiel! Eine Rakete, deren Schubkraft zu jeder Zeit nur 10% höher als ihre Gewichtskraft ist, beschleunigt gemächlich mit ca. 1 m pro Sekunde pro Sekunde [sic], hätte aber nach ca 5 Minuten schon Schallgeschwindigkeit (Atmosphärenreibung mal vernachlässigt), und eine Höhe von 45 km erreicht. Und das wäre noch eine ziemlich lahme Rakete (richtige beschleunigen 20 bis 80 mal stärker)

Eine Rakete mit nur 10% weniger Schub als die vorgenannte würde in der Luft schweben, hätte nach wenigen Minuten ihren Treibstoff verbraucht und wäre keinen Meter hochgekommen. Dieser Grenzfall, wo keine Geschwindigkeit aufgebaut wird entspricht fast exakt der langsam hochschwebenden Rakete. Man braucht fast alle Energie, nur um die Position zu halten.

Das ist also ein Grund, warum man immer so viel Schub gibt, wie es technisch überhaupt möglich ist. Man versucht den Grenzfall der Kanone anzunähern und so schnell wie möglich die Fluchtgeschwindigkeit zu erreichen

Auf diese Weise muß man auch weniger Treibstoff weiter hoch schleppen; man will ja keinen Treibstoff, sondern nur die Nutzlast nach oben bringen.

De facto dürften alle Raketen den Hauptteil des Treibstoffs innerhalb der ersten 100 oder 200 km verbrauchen, bis zu einer Höhe, in der das Schwerefeld der Erde noch fast zu 100% wirkt. Das ist „von weit weg“ betrachtet ähnlich wie ein Schuß mit einer Kanone, wo das Projektil die Fluchtgeschwindigkeit erreicht.

Gruß
Moriarty

Hi,

P.S. Beim letzten Absatz ist noch nicht mal eingerechnet, daß
man den zum Bremsen mitgeführten Treibstoff beim Start auch
mit beschleunigen muß.

man kann aber auch treibstoffsparend ohne Atmosphäre bremsen. Mit Airbags wie der Mars Pathfinder Lander :wink:
http://www.sti.nasa.gov/tto/Spinoff2009/images/Mars-…

okayokay, der wurde schon per Fallschirm vorgebremst. Aber immerhin :smile:

J~

Hi

Wenn also die
Beschleunigung nicht bloß auf den Anfang der Flugbahn
konzentriert, sondern eher kontinuierlich, auf mehrere
Beschleunigungsphasen oder über einen größeren Zeitraum
verteilt wäre, könnte das dann auch mit geringerer
Geschwindigkeit geschehen?

Nein, die 2. kosmische Geschwindigkeit muss erreicht werden. Ob man sie nun in 1,2,3 oder mehr Schritten erreicht oder den Drehimpuls der Erde ausnützt, ist egal.

Ich stelle mir es so vor, dass die Antriebskraft gleich oder
nur etwas größer als die örtliche Gravitation und
entgegengesetzt gerichtet ist.

Das muss gelten, damit die Rakete überhaupt entgegengesetzt der Erdanziehung fliegt. Für eine dauerhafte Beschleunigung: Dabei vergrößert sich die Geschwindigkeit immer mehr, denn auch wenn die nötige Beschleunigung immer kleiner werden kann, so ist sie dennoch stehts größer als die gerade Herrschende und ergibt somit einen Geschwindigkeitszuwachs.

Somit könnte ein Gegenstand mit
vergleichsweise geringer Geschwindigkeit von der Erde
wegbeschleunigt werden, wobei mit wachsendem Abstand von der
Erde die Schwerkraft sinkt und somit der erforderliche Schub
zur Aufrechterhaltung der Geschwindigkeit, aber gleichzeitig
auch die Fluchtgeschwindigkeit selbst. Ist der Gedankengang so
einigermaßen nachvollziehbar und korrekt, und wäre das ggf.
energetisch günstiger oder ungünstiger als der Versuch, die 11
km/s tatsächlich schnell zu erreichen?

Je weiter du von der Erde weg bist, desto langsamer kannst du sein aber desto schneller musstest du sein um diesen Punkt zu erreichen.

Schließlich
zählt die gesamte Energie und nicht die momentane
Geschwindigkeit oder? Wie schaut’s aus?

Die potentielle Energie die eine Rakete am Startpunkt hat muss komplett in kinetische Energie umgewandelt werden um das Gravitationsfeld verlassen zu können. Wandelst du nicht alles in kinetische Energie um, dann sorgt die restliche potentielle Energie dafür, das du auf einer Ellipse um den Zentralkörper hängen bleibst.

LG
Hatje

Hallo Moriarty,

[…]
Das ist also ein Grund, warum man immer so viel Schub gibt,
wie es technisch überhaupt möglich ist. Man versucht den
Grenzfall der Kanone anzunähern und so schnell wie möglich die
Fluchtgeschwindigkeit zu erreichen

diesen Aspekt habe ich missachtet, er leuchtet aber ein. Im Realfall wird also die Fluchtgeschwindigkeit eigentlich immer erst an einem Ort überschritten, an dem sie bereits nicht mehr ganz so hoch ist, wobei die Energieersparnis, wenn ich das richtig verstanden habe, umso größer ist, je eher diese Geschwindigkeit erreicht wird. Okay, da spielen dann sicher noch Sachen wie die Aerodynamik oder auch der Wirkungsgrad des Antriebs eine Rolle, von dem ich mir gut vorstellen kann, dass er ein Optimum in einem gewissen Leistungsbereich besitzt, bei dessen Überschreitung es dann doch wieder ungünstiger wird.

LG
Huttatta

Die Aerodynamik spielt nur in den ersten Sekunden eine Rolle, sofern du von der Erde aus startest. Um den Einfluss bzw die Einflussdauer möglichst gering zu halten starten die Raketen ja auch in der eigentlich ungünstigeren senkrechten Position.

Das Optimum eines Raketentriebwerks ist, durch die Bauform, auf eine bestimmte Höhe (d.h. einen bestimmten Umgebungsdruck) ausgelegt. Da sich der Umgebungsdruck innerhalb der Atmosphäre mit jedem Höhenmeter ändert, sind dort die größten Verluste im Wirkungsgrad zu verzeichnen. -> Ein weiterer Grund diesen Bereich so schnell wie Möglich hinter sich zu lassen.

Gruß
Hatje