Ist das hi shi-ryo des Dogen eigentlich noch deckungsgleich
mit dem wu niàn (無念) des Hui Neng bzw. des Plattform-Sutra?
Immerhin liegen ja 600 Jahre dazwischen …
Hallo Metapher,
hier noch die versprochene Antwort nachgeliefert. Zunächst wäre dazu anzumerken, dass ein freier und undogmatischer (um nicht zu sagen unbekümmerter) Umgang mit schriftlichen Überlieferungen ein Grundzug insbesondere der frühen und der klassischen Chantradition sind. Auch, wenn die daran anknüpfende japanische Zentradition vergleichsweise epigonal ist, so ist doch gerade Dogen in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Ausnahme. Dieser freie und kreative Umgang bildet einen merkwürdigen Kontrast zur gleichzeitigen Fixierung auf eben diese Tradition, zur schon fast obligatorischen Bezugnahme auf die ‚Buddhas und Patriarchen‘ und die häufige Versicherung, mit diesen ‚Augenbraue an Augenbraue‘ zu stehen (d.h. in der Lehrdarlegung kein Jota von ihnen abzuweichen). Auch bei Dogen - so originell er in vielerlei Hinsicht ist - ist dies nicht anders.
Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs findet sich in der zentralen Aussage der Chantradition, dass die Doktrin des Chan / Zen (Dharma, Ho - nicht einfach nur eine Doktrin, sondern das ‚Weltgesetz‘ selbst) sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten weit übersteigt; „jenseits von Worten und Schriften“ ist, wie es in der klassischen Formel heisst. Jeder Ansatz, den Dharma (oder einen seiner Aspekte) zu kommunizieren (sei es durch Sprache oder Handlung), ist somit nur upaya (‚geschicktes Mittel‘), ist nur mittelbar. D.h. Ausdruck von Wahrheit nur im Sinne eines perlokutionären Aktes, der als Effekt eine unmittelbare Einsicht in das ‚Unsagbare‘ provozieren soll. ‚Modelle‘ solcher Akte sind natürlich die sog. Gongan / Koan, doch prinzipiell findet sich dies auch in anderen Formen der Lehrüberlieferung dieser Tradition, das Plattform-Sutra und insbesondere Dogens Schriften eingeschlossen. Daraus folgt, dass die schriftliche Lehrüberlieferung zum einen in hohem Maße individuell (d.h. von der Persönlichkeit des Lehrenden) und zum anderen situativ (von den Umständen und der Persönlichkeit des bzw. der zu Belehrenden) geprägt ist. Von daher ist es natürlich unvermeidlich, dass die Herangehensweise verschiedener Meister an bestimmte Aspekte des Dharma ganz erheblich differieren kann. Insofern hat auch Huinengs Auffassung von ‚wu nian‘ nicht den Status eines Dogmas, sie steht auch in der Chan-Tradition weder am Anfang der Behandlung dieses Dharma-Aspektes noch an seinem Ende, wie etwa D.T. Suzuki (in ‚Essays in Zen Buddhism, Third Series‘) schon 1953 gezeigt hat, wo er die Auffassungen von wu nian bzw. wu xin von Bodhidharma, Huineng, Shenhui und Huihai einer vergleichenden Untersuchung unterzieht.
In diese ‚Tradition‘, die jedoch - wie soeben angedeutet - genauer besehen eine Tradition permanenter Neudefinition der Tradition um nicht zu sagen eine Tradition des Traditionsbruchs ist, stellt z.B. Carl Bielefeldt auch Dogen:
„Whether or not Dogen’s practice of fixed sitting inherits the true transmission of the Buddhas, his preference here for metaphysical mystery over mental mechanics succeeds to the orthodox tradition of the Patriarchs, at least from the Sixth Patriarch on. Indeed there seems little to choose between Wei-yen’s „nonthinking“ (fei-ssu-liang) and the Patriarch’s „no-thought“ (wu-nien). Here and elsewhere in the literature the term seems to operate much like its more famous cousin to express the inexpressible state of enlightened cognition. Where the Southern school texts like to define their „no-thought“ as nondiscriminatory thought of suchness, Wei-yen chooses to describe his „nonthinking“ as thinking of not thinking. Where Dogen identifies the „right thought“ of the nondeluded mind with nonthinking, a classical author like Hui-hai prefers to call it no-thought. To this extent the essential art of zazen seems to have become, in the vulgate Fukan zazen gi, nothing more (or less) than fixed sitting in sudden enlightenment.“
(Carl Bielefeldt, Dogen’s Manuals of Zen Meditation, University of California Press 1988, p.148)
Ich persönlich lege bei Dogens ‚hishiryo‘ mein Augenmerk jedoch nicht wie Bielefeldt in diesem Zitat auf die Kontinuität, sondern auf den Traditionsbruch, der sich mir schon in der Wahl des Begriffs zeigt. Dogen verwendet nicht Huinengs eingeführten; das ‚hishiryo‘ (chin. fei siliang) nimmt vielmehr (wenn auch nicht explizit) Bezug auf Jianzhi Sengcans Xinxinming, wo das ‚hishiryo‘ (mW erstmals) als Begriff eingeführt wird. Auch hier beruft sich der Traditionsbruch bezeichnenderweise unausgesprochen auf die Tradition, geht Sengcan als 3. Patriarch doch dem 6. Patriarchen Huineng voran … Überhaupt scheint Dogen das Plattformsutra nicht übermäßig geschätzt zu haben. Auch wenn er (vermutlich als Mitbringsel aus China) eine (heute noch erhaltene) Kopie des Werkes besaß, die entwicklungsgeschichtlich zwischen der frühen Dunhuang-Fassung und der mingzeitlichen Edition des Plattform-Sutras steht und für die Erforschung der Textgeschichte des Sutra von erheblicher Bedeutung ist, so hat er doch in seinen eigenen Schriften kaum Bezug darauf genommen.
Vor allem sollte man meiner Auffassung nach nicht außer Betracht lassen, dass Dogen den hier in Frage stehenden Dharmaaspekt nicht nur mit dem Begriff des ‚hishiryo‘ umreisst, sondern dass dieses ‚hishiryo‘ eng mit Dogens ‚shinjin datsuraku‘ korrespondiert, dem ‚Abfallen von Körper-und-Geist‘ und insbesondere mit Dogens ‚jijuyu zanmai‘. ‚Hishiryo‘ wird in Dogens Schriften in der bekanntesten ‚Fundstelle‘, dem Fukan Zazen Gi, nur fast beiläufig erwähnt. Tiefer gehende Hinweise findet man in Shobogenzo Zazen Shin - dort allerdings auf eine sehr hermetische Weise anhand eines klassischen Koan (mit dem oben von Bielefeldt genannten Yuehshan Weiyen) erörtert, das Dogen freilich wiederum auf sehr ‚unklassische‘ Art interpretiert und kommentiert. Verweise auf ‚shinjin datsuraku‘ (wenig ergiebige freilich) finden sich verstreut in Dogens Werk, meist unter Bezugnahme auf Dogens Meister Juching, dem er dies als zentrale Lehre zuschreibt (wofür sich allerdings keine Belege finden lassen). Den (zumindest aus meiner Sicht) aufschlussreichsten Zugang bildet jedoch ‚jijuyu zanmai‘ - auch dies ein Paradebeispiel für Dogens sehr eigenwilligen Umgang mit der Tradition. ‚Zanmai‘ ist die japanische Entsprechung von ‚Samadhi‘ (grob: geistiger Versenkung), während 'der Begriff ‚jijuyu‘ wiederum der Trikaya-Lehre entlehnt ist, die bei Dogen sonst kaum eine Rolle spielt, schon gar nicht in irgendeiner Weise systematisch ausgestaltet wird. ‚Jijuyu shin‘ bezeichnet den ausschließlich auf sich selbst bezogenen / sich selbst ‚genießenden‘ (in Sartre’scher Diktion: nicht-thetischen) Aspekt des Sambhogakaya Buddhas. Das - die Definition von Zenpraxis als das Samadhi des jijuyu shin - ist nun Dogen pur, ohne (außer in der Begriffswahl) Rekurs auf die Tradition und sie ist eben auch die zentrale Idee im Dogen’schen Denken: der Zusammenfall von Zenpraxis und (ursprünglichem) Erwachen bzw. Zenpraxis als Aktualisierung des Erwachens Buddhas. Es ist die zu Ende gedachte Konsequenz aus der Doktrin allumfassender Buddhanatur. Wenn man nun die Aussagen von Dogens Schriften Shobogenzo Zazen Shin und Shobogenzo Jijuyu Zanmai zueinander in Beziehung setzt, dann stellt sich das ‚hishiryo‘ als zentrales Merkmal des Jijuyu Zanmai dar. Wenn man das traditionelle Konzept wu nian / wu xin mit Dogens ‚hishiryo‘ identifiziert, wofür es zweifellos gute Gründe gibt, so steht es bei Dogen doch in einem neuen, sehr unkonventionellen Kontext.
Mit freundlichen Grüßen,
Ralf