Frage zum Rilke Gedicht 'Kindheit'

Hallo Wissende,

vorweg: Ich schreibe keine Interpretationen mehr, gehe noch nicht mal mehr zur Schule. Ich bin nur hobbymäßig interessiert. Es geht um das Gedicht „Kindheit“ von R.M. Rilke. Darin heißt es in der ersten Strophe:

und auf den Plätzen die Fontänen springen
und in den Gärten wird die Welt so weit -.
Und durch das alles gehn im kleinen Kleid,

Was ist das „kleine Kleid“, von dem Rilke hier spricht?

Gruß

Hermann

Also ich könnte mir vorstellen,
das diese Umschreibung „kleines Kleid“
nur eine andere Ausdrucksforum für
Kindheit ist. Kleid muss ja nicht unbedingt
das Kleid für Mädchen sein. Kleid war früher
einfach eine Umschreibung für Kleidung.
LG

Hallo, Hermann,

ein Interpretationsansatz für das „kleine Kleid“ in diesem traurigen „Erinnerungsgedicht“ wären auch die Mädchenkleider, die Rilke bis zu seinem sechsten oder siebenten Lebensjahr tragen musste und die ihn
„ganz anders als die andern gehn und gingen“ machten.

Gruß, jenny

Hallo Jenny,

ein Interpretationsansatz für das „kleine Kleid“ in diesem
traurigen „Erinnerungsgedicht“ wären auch die Mädchenkleider,
die Rilke bis zu seinem sechsten oder siebenten Lebensjahr
tragen musste und die ihn
„ganz anders als die andern gehn und gingen“ machten.

Ah, das macht irgendwie richtig Sinn, wenn man das so sagen kann. War es vielleicht eine besondere Form der seelischen Folter, die die Eltern Rilke ausgesetzt haben?
Auch dieses „ganz anders als die andern gehn und gingen“ bekommt damit wohl die richtige Einfärbung- unter der Voraussetzung, dass es so verstanden werden muss.
Dazu wäre es ja nicht schlecht, man wüsste was über die Kleider, die man damals, im ausgehenden 19. Jahrhundert, den Jungen „normalerweise“ auf die Pelle gedrückt hat… Weißt du dazu was?

Gruß

Hermann

Hallo,

Also ich könnte mir vorstellen,
das diese Umschreibung „kleines Kleid“
nur eine andere Ausdrucksforum für
Kindheit ist. Kleid muss ja nicht unbedingt
das Kleid für Mädchen sein. Kleid war früher
einfach eine Umschreibung für Kleidung.

Also für mich ist das, was Jenny schreibt, erst mal einsehbarer, aber vielleicht stimmt’s auch nicht?!?

Gruß

Hermann

Hallo Jenny,

habe gerade mal ein wenig „geforscht“. Kleider für Kinder im ausgehenden 19. Jahrhundert- da gibt’s eine glaube ich ganz gute Seite:

http://www.lorkande.de/Allgemeines/Kinder/jungen.htm

Unter anderem, deiner These widersprechenden Interpretation, findet sich aber dort auch der Satz:
„…die Literatur kennt zahlreiche Beispiele, in denen sich Jungen dafür schämten, die Röcke ihrer Schwester auftragen zu müssen und/oder sich die erste Hose herbeisehnten, damit sie endlich ein richtiger Junge wurden.“

Gruß

Hermann

Hallo Hermann und Jenny,

Unter anderem, deiner These widersprechenden Interpretation,
findet sich aber dort auch der Satz:
"…die Literatur kennt zahlreiche Beispiele, in denen sich
Jungen dafür schämten, die Röcke ihrer Schwester auftragen zu
müssen…

Rilke mußte Mädchenkleidung tragen, weil seine
Mutter den Tod der älteren Schwester nicht verkraftet
hat. Daher auch der Name Renè, der „Wiedergeborene“.
Insofern ist schon was dran an Jennys Aussage.

Das „kleine Kleid“ wird aber auch symbolisch
für das kindliche Gemüt sein, indem diese
noch stecken, bevor sie daraus herauswachsen
und erwachsen werden.

Gruß
Junktor

Servus, Hermann

Unter anderem, deiner These widersprechenden :Interpretation, findet sich aber dort auch der Satz:
"…die Literatur kennt zahlreiche Beispiele, in denen :sich Jungen dafür schämten, die Röcke ihrer Schwester auftragen zu…

Vielleicht habe ich jetzt was nicht verstanden, aber wieso widerspricht das meiner „These“ (die ganz sicher nicht „meine“ ist…*lach*…da waren G’scheitere am Werk)?

Dass Rilke lange, wenn nicht sein ganzes Leben lang unter anderem darunter gelitten hat, dass seine Mutter wohl lieber ein Mädchen gehabt hätte und ihn nicht nur Kleider tragen, sondern auch Zöpfe flechten ließ, ihn verhätschelte und den Umgang mit anderen Kindern einschränkte, ist aus vielen Schriften und Briefen belegt und fließt m.E. auch in dem Gedicht metaphorisch/biographisch ein. Auch das Hin- und Hergerissensein zwischen Mutter und Vater trug nicht zu einer glücklichen Kindheit bei.

Über das Verhältnis zwischen Rilke und seiner Mutter, sowie alle möglichen Folgen daraus auf Leben und Werk, gibt es ausreichend Literatur.

Lieben Gruß aus Wien, jenny

1 Like

Hallo Junktor,

Rilke mußte Mädchenkleidung tragen, weil seine
Mutter den Tod der älteren Schwester nicht verkraftet
hat. Daher auch der Name Renè, der „Wiedergeborene“.
Insofern ist schon was dran an Jennys Aussage.

Vielen Dank für dieses Info, das erhellt das Ganze wohl! Dass René der „Wiedergeborene“ ist, darauf bin ich- 4 Jahre Schulfranzösisch zum Trotz- dennoch nicht gekommen.

Gruß

Hermann

nicht ot
Dieses Gedicht, 1915 geschrieben - also mit 40(!) - und knapp 10 Jahre vor seinem Tod, erschüttert mich immer wieder:

Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.
Da hab ich Stein auf Stein zu mir gelegt,
und stand schon wie ein kleines Haus, um das sich
groß der Tag bewegt,
sogar allein.
Nun kommt die Mutter, kommt und reißt mich ein.

Sie reißt mich ein, indem sie kommt und schaut.
Sie sieht es nicht, daß einer baut.
Sie geht mir mitten durch die Wand von Stein.
Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.

Die Vögel fliegen leichter um mich her.
Die fremden Hunde wissen: das ist der.
Nur einzig meine Mutter kennt es nicht,
mein langsam mehr gewordenes Gesicht.

Von ihr zu mir war nie ein warmer Wind.
Sie lebt nicht dorten, wo die Lüfte sind.
Sie liegt in einem hohen Herz-Verschlag
und Christus kommt und wäscht sie jeden Tag.

Gruß, jenny

2 Like

Servus Jenny,

schönen Gruß nach Österreich :smile:. Da muss ich einfach Servus schreiben :smile:.

Unter anderem, deiner These widersprechenden :Interpretation, findet sich aber dort auch der Satz:
"…die Literatur kennt zahlreiche Beispiele, in denen :sich Jungen dafür schämten, die Röcke ihrer Schwester auftragen zu…

Vielleicht habe ich jetzt was nicht verstanden, aber wieso
widerspricht das meiner „These“ (die ganz sicher nicht „meine“
ist…*lach*…da waren G’scheitere am Werk)?

Na ja, zumindest erscheint dir das doch richtig und sinnig, diese These :wink:. Das ist doch auch eine gedankliche Leistung und Arbeit, oder etwa nicht :smile:?

Also: Soweit ich das bislang erblicken konnte nach dem Gelesenen über Kinderkleider des ausgehenden 19. Jahrhunderts war es wohl durchaus nicht ganz unüblich, Jungen und Mädchen in - zunächst zumindest- recht ähnliche Kleidung zu stecken. Dann wäre deine These hinfällig, denn dann wäre Rilke so wie andere ‚herumgelaufen‘. Aber ich zweifle da auch sehr dran, denn auch wenn es Ähnlichkeiten gab, so war es doch wohl so, dass Jungen und Mädchen irgendwann dann unterschiedlich gekleidet waren. Und sicher spricht Rilke hier nicht von einem Alter zwischen 1 u. 3 Jahren, wenn er von der Schulzeit spricht.
Aber das Thema Kleidung ist für mich jetzt auch nicht soooo wichtig, und es interessiert mich auch nicht sooo sehr, dass ich nun die Seiten, die es darüber gibt, inhaliere. Ich schätze, du liegst richtig damit, und es ist ja auch schon bestätigt worden.

Dass Rilke lange, wenn nicht sein ganzes Leben lang unter
anderem darunter gelitten hat, dass seine Mutter wohl lieber
ein Mädchen gehabt hätte

Na ja, also meine Eltern wollten auch ganz gerne ein Mädchen nach zwei Jungs, und dann kam noch ein Junge- ich nämlich :wink:. Da stehen mir ja noch 10 Jahre Psychoanalyse ins Haus. Herrschaftszeit, wer soll das wieder alles bezahlen *g*. Oder ich muss jetzt auch künstlerisch tätig werden, und dann ergeht es mir wie vielen: Ich werde erst nach meinem Tode geehrt. . . . Aber ich denke, ich mache nichts dergleichen und arbeite weiter als Trainer :smile:.

und ihn nicht nur Kleider tragen,
sondern auch Zöpfe flechten ließ, ihn verhätschelte und den
Umgang mit anderen Kindern einschränkte, ist aus vielen
Schriften und Briefen belegt und fließt m.E. auch in dem
Gedicht metaphorisch/biographisch ein. Auch das Hin- und
Hergerissensein zwischen Mutter und Vater trug nicht zu einer
glücklichen Kindheit bei.

Das war sicher alles emotional recht belastend, danke für die Infos, ich frage mich so wieso schon länger, woher diese ungeheure Sprachgewalt und Kraft bei Rilke herkommt.

Über das Verhältnis zwischen Rilke und seiner Mutter, sowie
alle möglichen Folgen daraus auf Leben und Werk, gibt es
ausreichend Literatur.

Ja, danke für den Hinweis, vielleicht äug’ ich da mal rein, wenn ich Zeit und Lust habe.

Es grüßt

Hermann

Hallo Jenny,

sag’, hat dieses - wie du mit Recht sagst- erschütternde Gedicht auch einen Titel?

Gruß

Hermann

Servus,

das Gedicht wird, wenn ich mich nicht irre, unter dem Titel: „Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein…“ geführt.

Es müßte im Band "Gedichte 1910-1922(?) drin sein.
Kann ich aber jetzt nicht „bücherlich“ rausfinden. Im Netz finde ich es nur ohne Titel.

Noch einen lieben Gruß, jenny