Zuerst einmal vielen Dank für die rege Teilnahme im Thread „Franco lebt“. Bevor ich auf diverse einzelne Beiträge dort eingehe und mich dabei wiederholen müsste, nachfolgend eine Widerrede zu verbreiteten Auffassungen, dass die spanische Verfassung eine Unabhängigkeit einzelner Autonomer Gemeinschaften (AG) verbiete (Teil 1). Und ein paar Anmerkungen zu Rajoys Maßnahmen, „Diktatur einer Demokratie“, Mehrheiten usw. aus den Antworten, in einem später nachzureichenden Teil 2 (der Länge und Übersicht wegen in einem separaten Thread).
Am Freitag konnte ich mir stundenlang die live übertragenen Debatten im spanischen und katalonischen Parlament reinziehen, und Befürworter und Gegner der Unabhängigkeit in beiden Parlamenten und ihren Argumenten zuhören. Es war sehr interessant. Auch aus diesen Debatten heraus die Anmerkungen und Überzeugungen von mir ausführlicher darstellend. Hilfs- und notwendigerweise zuerst der viel zitierten Art. 155 der spanischen Verfassung in deutscher Übersetzung:
Art. 155. (1) Wenn eine Autonome Gemeinschaft die ihr von der Verfassung oder anderen Gesetzen auferlegten Verpflichtungen nicht erfüllt oder so handelt, daß ihr Verhalten einen schweren Verstoß gegen die allgemeinen Interessen Spaniens darstellt, so kann die Regierung nach vorheriger Aufforderung an den Präsidenten der Autonomen Gemeinschaft und, im Falle von deren Nichtbefolgung, mit der Billigung der absoluten Mehrheit des Senats die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Gemeinschaft zur zwangsweisen Erfüllung dieser Verpflichtungen anzuhalten oder um das erwähnte Interesse der Allgemeinheit zu schützen.
(2) Zur Durchführung der in Absatz 1 vorgesehenen Maßnahmen kann die Regierung allen Behörden der Autonomen Gemeinschaften Weisungen erteilen.
Weder dieser Artikel noch andere Artikel der spanischen Verfassung - die in vielen Punkten und im Wesen übrigens dem GG abgekupfert ist - schließen den Austritt einer Autonomen Gemeinschaft (diese entspricht einem Bundesland hierzulande) ausdrücklich aus. In D kann beispielsweise ein Bundesland aus der Gemeinschaft austreten.
Rajoy und Co. berufen sich daher ausschließlich auf die oben von mir hervorgehobene Formulierung „die allgemeinen Interessen Spaniens“. Dies bedeutet, nach Interpretation der spanischen Regierung, die Deutungshoheit dieser in Summe, Praxis und Realität ständig wechselnden Interessen, läge ausschließlich, unabänderlich, dauerhaft und als einzige Wahrheit bei ihnen. Und gleichzeitig wird die Deutungshoheit einer betreffenden/betroffenen AG ausgeschlossen.
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Weshalb sollte aber diese Deutungshoheit bei einer gerade zufällig regierenden Gruppe liegen? Eventuell wechselnd zur nächsten Legislaturperiode?
Dieses Bestreben nach Unabhängigkeit besteht selbstverständlich auf Seite der Katalanen (oder Basken, oder Venetien, oder…). Es ist aber doch nicht Gegenstand einer Bundeswahl, die alle paar Jahre stattfindet, sie kann es gar nicht sein. Über derartige Bestrebungen müsste, wenn die Verfassung hier Interpretationsspielraum lässt, durch eine bundesweite Abstimmung aller Wähler - völlig losgelöst von Gesamtinteressen im Rahmen einer Bundeswahl - abgestimmt werden. Man kann aber nicht einfach, nur weil man gerade regierend ist, ein „Ich will das nicht!“ vortragen, wenn die Verfassung den Ausstieg einer AG doch nicht ausdrücklich verbietet. -
Ein wesentliches Problem scheint mir daher auch, dass diese „Interessen Spaniens“ nicht definiert und daher unglaublich offen und in alle Richtungen interpretierbar sind. Wenn es grundsätzliches und allgemeines Interesse Spaniens sei, dass der Austritt ausgeschlossen ist, wäre dies sicherlich so formuliert. Und ebenso gut könnte es im konträren Interesse Spaniens liegen, eine AG auszuschließen. Diese Möglichkeit ist ebenfalls nicht in der spanischen Verfassung festgeschrieben.
Wenn nun beide gegensätzlichen Interessen möglich sind, weshalb sollte diese eine dann die einzig richtige sein?
Ich bestreite daher die Auffassung, dass eine einseitige Unabhängigkeitserklärung Kataloniens verfassungswidrig und nicht gerechtfertigt sei.
Franz
Für Anregungen, Gegenteiliges, Ergänzendes, Argumantatives, insbesondere zu Darlegungen, dass eine Unabhängigkeit verfassungsrechtlich nicht möglich sei - ich konnte hier keine konkreten nachvollziehbaren Ausführungen bislang in Erfahrung bringen - mit offenem Ohr lauschend…