Hallo,
zunächst mal kurz zu einer verbreiteten Begriffsverwirrung in diesem Zusammenhang: „Hypermnesie“ (engl. „Hypermnesia“) und „Hyperthymesie“ (engl. „Hyperthymesia“) aka „hyperthymestisches Syndrom“ (engl. auch HSAM = „highly superior autobiographical memory“) wird oft in einunddemselben Kontext vorgestellt und daher oft verwechselt. Es ist aber keineswegs dasselbe. Das kommt möglicherweise daher, daß die Termini, die ja Gräzismen sind, etymologisch irgendwann mal falsch abgeleitet wurden und alle plappern das nach, im deutschen ebenso wie im engl. Sprachraum.
„Hypermnesia“ < gr. „hyper“ = „übermäßig“ und „mnēmē“ = „Erinnerung/Gedächtnis“ (das Wort „mnesis“, wie oft behauptet, gibt es im Gr. überhaupt nicht) also „übermäßge Erinnerung“, bezeichnet das Phänomen, daß unter bestimmten Umständen, z.B. unter Hypnose, mehr Gedächtnisinhalte abgerufen werden können als im Normalzustand. Das ist ein „normales“ Phänomen der Gedächtnisfunktion und keineswegs pathologisch.
„Hyperthymesia“ < gr. „hyper“ + „thymēma“ = „Gedanke“ (!) (das Wort „thymesis“, das angeblich „Erinnerung“ bedeutet, wie abundant zitiert wird, gibt es ebenfalls im Gr. gar nicht). Wenn man will, könnte man es als „Gedankenflut“ verdeutschen. Und dies ist eben das hyperthymestische Syndrom, um das es bei den berühmten Fällen von Rebecca Sharrock und Jill Price (sie war in 2006 die erste Patientin, durch die dieses Syndrom bekannt wurde) geht:
Dabei handelt es sich um eine übermäßige (und zwar unwillkürliche) Präsenz von Erinnerungsinhalten jeder beliebigen Art, vor allem solchen, die mit dem jeweils aktuellen kognitiven Inhalt gar nicht unbedingt zusammenhängen. Vor allem sind dabei auch die jeweiligen emotionalen Valenzen der Erinnerungsszenen präsent. Dadurch werden dann eben auch die aktuellen emotionalen Dispositionen erheblich chaotisiert.
Das Phänomen ist offenbar ähnlich einem Flashback von Traumata, bei denen die Person quasi in die Gegenwart des traumatischen Erlebnisses subjektiv zurückgeworfen wird, also anders als bei einer „distanzierten“, „objektiven“ Erinnerung. Nur, dass in diesem Fall das Flashback durch einen aktuellen Trigger ausgelöst wird. I
m Gegensatz dazu ist die Erinnerung bei HSAM aber nicht an Traumata gebunden und braucht auch keine Trigger. Es kann (wie man vermutet und teils auch experimentell bestätigt hat) jede beliebige Erinnerung auch alltäglicher Art aus einer großen Lebensspanne bis ins belanglose Detail abgerufen werden und vor allem - darin besteht eben die Belastung für das gegenwärtige Alltagserleben - auch unwillkürlich, also ohne dezidiertes „Abrufen“.
Mit „Unbewußtem“ (weder im Sinne des Freudschen Begriffs, noch in dem von C. G. Jung oder Adler) hat das offenbar nichts zu tun. Es geht ja nicht um die Offenlegung von „Verdrängtem“, sondern um die nicht mehr willkürlich steuerbare Abrufung von Gedächtnisinhalten. Die Menge von Gedächtnisinhalten, die hirnphysiologisch gespeichert sind, ist tatsächlich, wie man schon lange weiß, erheblich größer als die, die willkürlich, gezielt, abgerufen werden können. Das wird ja durch die Hypermnesie (siehe oben) bestätigt. Aber normalerweise entziehen sich Unmengen „belangloser“ Details auch der gezielten Erinnerung. Das ist auch notwendig, damit die präsente kognitive Disposition nicht überflutet wird.
Mit der Nichterinnerbarkeit von Inhalten, die durch einen Verdrängungsprozess oder andere sog. „Abwehrmechanismen“ blockert werden, hat das nichts zu tun. Ein gesunder Mechanismus der Gehirnphysiologie verhindert lediglich normalerweise die aktuelle Überflutung mit Inhalten, die aktuell nicht gebraucht werden.
Und genau dieser „Filter“-Mechanismus ist bei HSAM gestört, bzw. fällt ganz aus, Die Physiologie dieses Mechanismus hat man bis heute noch nicht verstanden und hofft daher auch, durch diese HSAM-Phänomene darüber mehr Aufschluß zu bekommen. Denn, ja, die Hirnstrukturen bzw, die jeweiligen Zentrenaktivierungen sind bei HSAM-Patienten, wie man bereits herausgefunden hat, anders als bei Gesunden.
Gruß
Metapher