Hallo,
Wie ist das möglich? Warum wird das als eine Krankheit eingestuft?
Ist es nicht vielmehr ein Hinweis darauf, dass die Gehirne jedes Menschen viel leistungsfähiger sein könnten? Ist geklärt, ob in diesen Fällen mehr Bereiche des Gehirns aktiviert sind, als bei „gesunden“ Menschen?
Ich hatte schon immer den Verdacht, dass ganz tief im Gedächtnis sehr viel „gesperrt“ abgespeichert ist. Uralte TV-Serien oder Bücher werden z.B. erst als „bekannt“ bemerkt, wenn man die jeweilige Stelle aktuell wieder aufnimmt.
Gruß
rakete
Weil es eine echte Belastung ist.
Ich habe in mancher Hinsicht ein eidetisches Gedächtnis: habe ich einmal halbwegs interessiert etwas gelesen, bleibt es unwiederbringlich hängen. Zahlen gehen auch ganz gut, aber Gesichter kann ich mir überhaupt nicht merken.
Für Außenstehende klingt das toll, ist es auch manchmal.
Meist ist es aber eher eine Belastung. Was bringt es mir, wenn ich noch heute Herr Ribbeck von Ribbeck im Havelland rezitieren kann? Das Gedicht war im Lesebuch der 3. Klasse abgedruckt, ein paar Seiten weiter war ein Exkurs in Sütterlin zu finden. Klingt toll? Meine Grundschulzeit endete 1990…
Keine Ahnung!
Wirds das denn?
Ich wüsste nicht, dass das per se in einem der großen Diagnosemanuale enthalten ist. Allerdings kann es ein Symptom oder Teilbereich verschiedener Störungen sein. Im autistischen Bereich könnte ich mir das vorstellen oder auch im Trauma-Bereich.
Ich kann zu der im Link portraitierten Frau nichts sagen, stelle es mir aber -wie Littlescare schon gesagt hat- als ziemlich belastend und Aufwand-haft vor.
Ich glaube auch, dass das auf Kosten anderer kognitiver Funktionen geschieht.
Es ist ja nicht so, dass diese Frau allwissend ist, sondern da ist offenbar der episodische Gedächtnisanteil besonders ausgeprägt, das heißt, negativ formuliert, dass die Fähigkeit zur Abstraktion vom jeweiligen Erlebniskontext und zur Generalisierung der Erlebnisinhalte fehlt oder mangelhaft ausgebildet ist.
Ist natürlich dennoch ein sehr interessantes Phänomen, aber wohl eher kein beneidenswertes.
Das ist die Grundthese der „Tiefenpsychologie“ seit 150 Jahren.
Nur mal so nebenbei
Gruß
F.
Hallo,
zunächst mal kurz zu einer verbreiteten Begriffsverwirrung in diesem Zusammenhang: „Hypermnesie“ (engl. „Hypermnesia“) und „Hyperthymesie“ (engl. „Hyperthymesia“) aka „hyperthymestisches Syndrom“ (engl. auch HSAM = „highly superior autobiographical memory“) wird oft in einunddemselben Kontext vorgestellt und daher oft verwechselt. Es ist aber keineswegs dasselbe. Das kommt möglicherweise daher, daß die Termini, die ja Gräzismen sind, etymologisch irgendwann mal falsch abgeleitet wurden und alle plappern das nach, im deutschen ebenso wie im engl. Sprachraum.
„Hypermnesia“ < gr. „hyper“ = „übermäßig“ und „mnēmē“ = „Erinnerung/Gedächtnis“ (das Wort „mnesis“, wie oft behauptet, gibt es im Gr. überhaupt nicht) also „übermäßge Erinnerung“, bezeichnet das Phänomen, daß unter bestimmten Umständen, z.B. unter Hypnose, mehr Gedächtnisinhalte abgerufen werden können als im Normalzustand. Das ist ein „normales“ Phänomen der Gedächtnisfunktion und keineswegs pathologisch.
„Hyperthymesia“ < gr. „hyper“ + „thymēma“ = „Gedanke“ (!) (das Wort „thymesis“, das angeblich „Erinnerung“ bedeutet, wie abundant zitiert wird, gibt es ebenfalls im Gr. gar nicht). Wenn man will, könnte man es als „Gedankenflut“ verdeutschen. Und dies ist eben das hyperthymestische Syndrom, um das es bei den berühmten Fällen von Rebecca Sharrock und Jill Price (sie war in 2006 die erste Patientin, durch die dieses Syndrom bekannt wurde) geht:
Dabei handelt es sich um eine übermäßige (und zwar unwillkürliche) Präsenz von Erinnerungsinhalten jeder beliebigen Art, vor allem solchen, die mit dem jeweils aktuellen kognitiven Inhalt gar nicht unbedingt zusammenhängen. Vor allem sind dabei auch die jeweiligen emotionalen Valenzen der Erinnerungsszenen präsent. Dadurch werden dann eben auch die aktuellen emotionalen Dispositionen erheblich chaotisiert.
Das Phänomen ist offenbar ähnlich einem Flashback von Traumata, bei denen die Person quasi in die Gegenwart des traumatischen Erlebnisses subjektiv zurückgeworfen wird, also anders als bei einer „distanzierten“, „objektiven“ Erinnerung. Nur, dass in diesem Fall das Flashback durch einen aktuellen Trigger ausgelöst wird. I
m Gegensatz dazu ist die Erinnerung bei HSAM aber nicht an Traumata gebunden und braucht auch keine Trigger. Es kann (wie man vermutet und teils auch experimentell bestätigt hat) jede beliebige Erinnerung auch alltäglicher Art aus einer großen Lebensspanne bis ins belanglose Detail abgerufen werden und vor allem - darin besteht eben die Belastung für das gegenwärtige Alltagserleben - auch unwillkürlich, also ohne dezidiertes „Abrufen“.
Mit „Unbewußtem“ (weder im Sinne des Freudschen Begriffs, noch in dem von C. G. Jung oder Adler) hat das offenbar nichts zu tun. Es geht ja nicht um die Offenlegung von „Verdrängtem“, sondern um die nicht mehr willkürlich steuerbare Abrufung von Gedächtnisinhalten. Die Menge von Gedächtnisinhalten, die hirnphysiologisch gespeichert sind, ist tatsächlich, wie man schon lange weiß, erheblich größer als die, die willkürlich, gezielt, abgerufen werden können. Das wird ja durch die Hypermnesie (siehe oben) bestätigt. Aber normalerweise entziehen sich Unmengen „belangloser“ Details auch der gezielten Erinnerung. Das ist auch notwendig, damit die präsente kognitive Disposition nicht überflutet wird.
Mit der Nichterinnerbarkeit von Inhalten, die durch einen Verdrängungsprozess oder andere sog. „Abwehrmechanismen“ blockert werden, hat das nichts zu tun. Ein gesunder Mechanismus der Gehirnphysiologie verhindert lediglich normalerweise die aktuelle Überflutung mit Inhalten, die aktuell nicht gebraucht werden.
Und genau dieser „Filter“-Mechanismus ist bei HSAM gestört, bzw. fällt ganz aus, Die Physiologie dieses Mechanismus hat man bis heute noch nicht verstanden und hofft daher auch, durch diese HSAM-Phänomene darüber mehr Aufschluß zu bekommen. Denn, ja, die Hirnstrukturen bzw, die jeweiligen Zentrenaktivierungen sind bei HSAM-Patienten, wie man bereits herausgefunden hat, anders als bei Gesunden.
Gruß
Metapher
Nur kurz: Unmittelbar mit „Verdrängung“ hats natürlich nichts zu tun, mit den „tiefenpsychologischen“ Gedächtnistheorien aber hats aber natürlich nicht nichts zu tun hat.
Gruß
F.
Stellte eben überrascht fest, dass Sie nicht nur auf dem Gebiet des Jiddischen bewandert sind (Februar 2017). Zum Thema: das menschliche Hirn speichert (in der Regel) Informationen, die für den Alltag nützlich sind und in bestimmten Situationen abgerufen werden. Beispiel: an einer bestimmten Stelle befindet sich ein Schlagloch in der Strasse. Nähere ich mich der Stelle, wird die Information aktiviert. Nach Beseitigung des Schlaglochs kann die Information gelöscht werden, sie würde sonst zu „Datenmüll“ zusammen mit anderen veralteten Informationen. Etwas anderes ist die Speicherung der positiv besetzten Erlebnisse wie z. B. Kindheitserinnerungen oder der schönen Momente in einer vergangenen (eventuell auch traumatisch beendeten) Beziehung. Die behält das Gedächtnis „aus mental gesundheitlichen Gründen“.
Bleibt denn die These hier eine These? Man hat doch nun einen Beweis, auch wenn man von einzelnen Personen auf Alle schließen kann. Grundsätzlich KANN so eine Anlage vorhanden sein.
Die subjektive Einstufung als „Krankheit“ ist nachvollziehbar. Der vorgeschaltete Sperrmechanismus dient vermutlich gerade für den Zweck, dass der „Prozessor nicht heißläuft“. Ich kann mir vorstellen, das die betreffenden Personen entweder nicht sehr alt werden oder im Sanatorium landen.
Es stellt sich die Frage, warum die Evolution überhaupt diese verdeckte Fähigkeit produziert hat.
Gruß
rakete