Bei vielen Fragwürdigkeiten und widersprüchlich erscheinende Passagen des NT kommt man nicht weiter ohne Kenntnisse der zeitgenössischen Mythologie, d.h. der Abfassungszeit der jeweiligen Texte. Denn diese Mythologie erhellt sich nicht allein aus den ntl. Texten selbst. Sie ist auch nicht mehr allein eine jüdische, sondern sie ist in diesen ersten Jahrhunderten der Anfänge des Christentum sehr durchsetzt mit griechischen, ägyptischen, zarathustrischen und mesopotamischen Elementen.
So löst sich auch z.B. der Widerspruch auf, der auf den ersten Blick erscheinen mag, wenn man die folgenden beiden Aussagen nebeneinanderstellt:
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„abgestiegen in das Reich der Toten“ aus dem apostolischen Glaubenbekenntnis. Der ursprüngliche griechische Ausdruck lautet to katótaton: wörtlich „das unterste Unten“ oder „die tiefste Tiefe“. Dem entspricht auch wörtlich das lateinische infernum.
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„Amen ich sage dir: heute wirst du bei/mit mir im Paradies sein“ aus Lk. 23.44
Hier darf man nicht mit der erst sehr viel späteren christlichen Volksmythologie rückwärts interpretieren, in der mit „Paradies“ der Aufenthaltsort der (erlösten) Auferstandenen identifiziert wird. Also je nach Tradition mit dem „Himmelreich“, dem „Reich Gottes“, bzw. dem Ort, wo sich das „ewige Leben“ abspielt. Eine Vorstellung, die bereits zum Beispiel in Jesaia 65.17ff vorgeprägt war. Griech. παράδεισος, paradeisos, war jedoch in der frühjüdischen Zeit des AT und in der Septuaginta (LXX, die griechische Übersetzung des Tanach) die Bezeichnung für den hebräischen גן עדן gan eden („Garten Eden“) aus 1. Mose 2.4ff. Es ist die Gräzisierung des awestischen/alt-iranischen pairi-daeza („umgrenzter Raum“), mit dem die kunstvollen Gartenanlagen der achämenidischen Oberschicht bezeichnet wurden. Der alt-iranische pairi-daeza bzw. griechische paradeisos ging als פרדס, pardes, auch in die hebräische und aramäische Sprache ein.
IIn der jüdischen Thanatologie, d.h. der Topologie des Totenreiches bzw. der Frage, wo halten sich die Toten auf (egal, ob eine Auferstehung geglaubt wurde, wie z.B. von den Pharisäern, oder nicht, wie z.B. von den Sadduzäern), gilt in dieser Zeit: Die Toten befinden sich im שאול Scheol, der griechisch mit ᾍδης Haides (das ist verkürzt aus: Haus des Hades) wiedergegeben wird. Und dieser Scheol/Hades befindet sich tief in der Erde. Entsprechend auch Mt 12.40: εν καρδια της γης en kardía tês gês „im Herzen der Erde“.
Innerhalb der jüdischen Epoche zur Zeit des zweiten Tempels, speziell ab 2.-3. Jhdt. v. Chr. - am deutlichsten beschrieben in der (ursprünglich hebräisch verfassten) Textsammlung des „äthiopischen Henoch“ („äth. Hen“= „1. Hen“) - wurde dieser Scheol/Hades in mehrere Räume, Stufen, Regionen aufgeteilt vorgestellt, von denen vor allem zwei Regionen bedeutsam waren:
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der παράδεισος, parádeisos, das Paradies: Hier halten sich die Toten auf, die im Leben nicht oder nicht allzusehr gefrevelt hatten. Ein Ort relativer Glückseligkeit.
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die φυλακη, phylakê, das Gefängnis: Hier halten sich die Toten auf, die sich im Leben heftig was auf die Kappe geholt hatten. Ein Ort der Qualen. Hier sei aber dazugesagt, daß die „Qualen“ erst sehr viel später, genauer in der (äthiopischen Version der) Petrus-Apokalypse (Mitte 2. Jhdt. n. Chr.) zu jenem unglaublich sadistischen Szenarium ausgemalt wurden, wie es heute noch in der christlichen Volksmythologie (nicht in der kirchlichen offiziellen Lehre!) kursiert. Siehe dazu auch das FAQ : „Kurze Geschichte der Hölle“
Die „Phylake“ und der „Pardeisos“ (der btw. auch als „Schoß Abrahams“ bezeichnet wurde) sind dabei - nach einigen Traditionen - durch eine unüberwindliche Kluft („chasma mega“) getrennt, wie sie zB. in Lk 16.26 erwähnt wird: "καὶ ἐν πᾶσιν τούτοις μεταξὺ ἡμῶν καὶ ὑμῶν χάσμα μέγα ἐστήρικται …" („Und zu alldem ist zwischen uns und euch eine große Kluft eingerichtet …“ ). Die Toten erreichen nur entweder das eine oder das andere Gebiet. Das sieht durchaus wie eine Art Vorverurteilung aus, denn das Endgericht steht den Toten ja noch bevor. Nach anderen Traditionen, in denen das „Gefängnis“ das „Paradies“ ringförmig umgibt, müssen auch die „guten“ Gestorbenen durch dieses hindurch, aber ihr Aufenthalt ist dort nur sehr kurz, nur ein Übergang. Und genau darauf ist die Aussage „heute wirst du mit mir im Paradies sein“ mythologisch korrekt bezogen. Sie ist ein Zuversicht spendender Trost für den Aufenthalt des Mitgefolterten im Totenreich.
Damit ist zugleich die Frage beantwortet, wo Jesus, bzw. seine Seele - deren Trennung vom griech. soma, dem Körper, gerade das Totsein nach dem Stand der meisten damaligen vorderasiatischen Thanatologien definiert - sich nach seinem Tot aufhält: In der als „Paradies“ bezeichneten glückseligen Abteilung des Hades.
Daß das so von den Autoren der Evangelien, konform mit der zeitgenössischen Thanatologie, gedacht wurde, bestätigt sich u.a. auch in Apg. 2.31: ου κατελειφθη [η ψυχη αυτου] εις αδου ουδε η σαρξ αυτου ειδεν διαφθοραν „Weder wurde er (nach einigen HS „seine Seele“) zurückgelassen im Hades, noch hat sein Fleisch Verwesung gesehen“.
Wenn also Lukas in seinem Evangelientext Jesus den o.g. Satz sagen läßt, dann bezieht er sich auf diese Totenreichskonzeption. Auch in den später (ab ca 2. Jhdt. n. Chr.) niedergeschriebenen talmudischen Textsammlungen (vor allem im Talmud Bavli) sind diese, wie oben erwähnt, schon früher (z.B. im äth. Hen.) vorhandenen Vorstellungen festgehalten, z.B. im Bereshit Rabba usw. Auch dort werden die Bereiche des Scheol bzw. Hades auch noch genauer in je 7 Unterabteilungen strukturiert.
Man sieht: Die Evangelientexte halten sich durchaus in der allgemeinen Mythologie bzw. Thanatologie der damaligen jüdischen Umgebung auf. Sie sind durchweg nicht erst durch die Evangelienautoren etwa „erfunden“ worden. Wie sich diese Vorstellungen aus dem kulturellen Austausch mit den obengenannten anderen religösen Vorstellungen entwickelten (der äth. Henoch steht in enger Verbindung zu der alt- und jungawestischen Literatur und Religion des Zarathustrismus!), steht auf einem anderen Blatt.
zusammengefasst von Metapher aus /t/glaubensbekenntnis/6066614/28