Geisteswissenschaftliches Studium. Gut?

Liebe Leute,

nach etwa zwei Jahren Selbstreflektion, Studieneignungstests und Recherche, habe ich scheinbar meine Traumfach gefunden: Literaturwissenschaft( deutsche, englische, russisch). Ich lebe die Literatur um es vorab zu sagen. Liebe die theoretische Auseinandersetzung, als auch das literarische Schreiben, dass ich seit meinem siebten Lebensjahr betreibe. Die Auseinandersetzung fast mehr als die kreative Umsetzung.
Doch alles schön und gut. Ich habe riesige Zweifel diesbezüglich. Mein Traumberuf ist und bleibt die Wissenschaft. Mit Ehrgeiz und Fleiß im überdimensionalen Ausmaß, ist dies auch schaffbar. Aber ich überlege nicht doch in eine andere Richtung zu gehen, weil die finanzielle Sicherheit nicht gegeben ist. Was denkt ihr?

Herzlichste Grüße,

Viktor

Hallo,

also, wenn es dir um finanzielle Sicherheit geht, wäre ich vorsichtig mit nem geisteswissenschaftlichen Studium. Nach dem Studium sind meist erstmal gar nihct oder schelcht bezahlte Praktika angesagt, und was danach kommt, ist auch nihct immer ein kontinuierlich laufendes berufsleben. Also sollte man immer Durststrecken miteinplanen. Oder neben dem Studium irgendwo anfangen zu arbeiten, so dass man frühzeitig Berufspraxis hat und den andern Studi-Abgängern etwas voraus ist. Oder man hat später wirklich Glück und ist Quereinsteiger bei ner guten Firma, die gut bezahlt.

MFG

Hi Viktor,

ich selbst habe vor einigen Jahren aus Interesse an den Hintergründen menschlichen Handelns Soziologie studiert. Dazu muß ich aber sagen, dass ich nie so von dem Fach geschwärmt habe wie Du.
Nach langem Überlegen habe ich mich nach Abschluss des Studiums dazu entschieden, meine anderen zwei großen Interessen (Wirtschaft & Technik) zu verwirklichen - ich bin nun angehender Wirtschaftsingenieur und auch froh darüber, diesen Schritt gegangen zu sein.
Du musst für Dich selbst wissen, wo Deine Interessen und Stärken liegen. Es hat meiner Meinung nach keinen Sinn, etwas zu studieren, was nicht zu 100% Deine Interessen widerspiegelt. Du kannst nur in etwas wirklich gut sein, wenn Du es wie Du gerade so schön geschrieben hast „lebst“.
Worauf ich hinaus will: Du wirst es Dir vielleicht ein Leben lang vorwerfen, wenn Du es nicht probierst und das Literaturstudium antrittst. Noch einmal die Richtung zu wechseln ist zwar aufwendig, manchmal frustrierend und auch eine finanzielle Belastung, doch es ist generell möglich und unterm Strich kein Beinbruch sondern eine wertvolle Erfahrung auf der Suche nach dem Traumjob.

Ich hoffe meine Erfahrungen bringen Dich ein bisschen weiter.

Viele Grüße und alles Gute,

Ingmar

Es ist immer gut, wenn jemand ein Fach aus Begeisterung oder Interesse studiert. Leider sieht es auf dem Arbeitsmarkt für Geisteswissenschaftler nicht gut aus. Allerdings ist ja Wissenschaft möglich, wofür die Promotion Beding ist. Also nun zum eigentlichen. Wenn dir das Fach Spaß macht, studiere es und versuch dann im Ausland Fuß zu fassen. Dort wird sowas sicher mit besseren Chancen sein.

Lieber Viktor,
wer Dir schreibt, ist ein 76-jähriger Rentner, der als Schweizer seit 1956 in Brasilien lebt und so wie Du, zu der Literatur seit jeher eine besondere Beziehung hat und pflegt. Deshalb kann ich micht recht gut in „Deine Schuhe“ versetzen, habe ich doch als junger Mann ebenfalls schreibend davon geschwärmt, mich schreibenderweise in der realen Welt behaupten zu können. Doch, wie in vielen Lebenssituationen, zwingen getroffene Wahlen zu einer kohärenten Verhaltensweise und führen nach einer gewissen Zeit zu einer ganz anderen Lebensrichtung. (Man lernt eine Frau kennen, man verliebt sich, man heiratet, man bekommt Kinder, man erhält ein neues Verantwortungsbewusstsein für die gegründete Familie…Man schreibt weiter, immer wenn man Lust hat; man liest nach wie vor dutzenderweise gute Bücher; man liest erneut schon viel gelesene Bücher, die man liebt…aber der Unterhalt kommt von einer ganz anderen Seite, von dem Beruf für den man sich voll und ganz eingesetzt hat und in dem man es sogar recht weit gebracht hat, aber den man nicht im eigenen Herzen gewählt hat: er hat sich lediglich er-
geben.) - Viktor, ich nehme an, dass Du ein junger Mensch bist, etwas über 20, und eben vor dem wichtigen Dilemma der Berufswahl stehst. - Aus meiner Erfahrung kann ich Dir nur folgendes sagen:

  1. Ganz ideal ist immer jene Berufswahl, welche dem innersten Bedürfnis des Menschen gleichkommt. Ich glaube jedoch, dass diese Situation nur bei einer Minderheit eintritt.
  2. Mir scheint sehr wichtig zu sein, dass man sich nicht in eine Idee verbohrt, man muss stets flexibel bleiben und mehr noch in unserer heutigen Zeit und mit der gegebene Voraussicht der nahen und ferneren Zukunft. (Die Dinge auf dieser Welt verändern sich inzwischen mit der Geschwindigkeit des Lichtes = dieselbe Geschwindigkeit, mit der heutzutage die Infor-
    mation verkehrt.)
  3. Du hast eine angeborene Neigung zur Sprache, zum Wort. Denn Literatur ist nichts anderes als die „Grosse Neigung zum Wort“, und angemerkt sei, dass sich dies nicht ausschliesslich auf das geschriebene Wort begrenzen muss. Für Dich wäre es mit Sicherheit ratsam, eine berufliche Tätigkeit anzustreben, die mit dem „Wort“ etwas gemein hat.
  4. Du sagst die „Wissenschaft“ zieht Dich über alles an und glaubst, dass Literaturwissenschaft beide Deiner Neigungen ideal verbinden würde. Vielleicht. Und vielleicht doch nicht. Denn Literaturwissenschaft ist ein rein akademischer Beruf, der Dich zu einer Katheder führen würde. Und denke daran, dass die von allen grossen Männern gedachten Gedanken und geschriebenen Worte im Grunde tot sind, auch wenn sie noch so wahrheitsnahe erscheinen oder unglaublich schön klingen.
  5. Versuche Dein Inneres auf die Probe zu stellen: Was ist Dir wichtiger, der Wohllaut des literarischen Werkes oder die Originalität des Gedankens. Oder noch
    strenger: Was ist Dir wichtiger, die Form oder der Inhalt ?
  6. Sollte die Form überwiegen, so solltest Du einen Beruf wählen, in dem Du Deine Wortästhetik zum Aus-
    druck bringen kannst. - Sollte anderenfalls der Inhalt, also die Essenz Dir wichtiger erscheinen, so
    solltest Du kohärent sein, und einen dynamischen Beruf wählen, in dem Du mit Worten Gefechte führen kannst.
    Dabei kommen mir zwei völlig unterschiedliche Tätigkeitsrichtungen in den Sinn: zum ersten, der Anwalt, der mit dem Wort die Gerechtigkeit auszuüben versucht und der Wahrheit auf den Grund kommen will oder aber der Journalist, der mit Worten die von ihm interpretierte Realität schildert. Und solltest Du je-
    doch zum Schluss kommen, dass Du im Grunde „kreativ“ wirken möchtest (trotz Deiner Aussage…), so meine ich, dass in der Werbung eine ungemein anregende, dynamische und gleichzeitig lebendig-fröhliche Tätigkeit gefunden werden kann, wo das „Wort“ und die Beziehung zum „Wort“ eine Kernbedeutung hat.

Dies sind keinesfalls Empfehlungen oder Ratschläge. Die kann und soll man in dieser „kritischen“ Situation, in der Du Dich befindest, nicht erteilen.
Aber vielleicht kann das eine oder andere ein kleines Licht anzünden oder gar eine Aha-Erkenntnis auslösen.
Mit meinen besten Wünschen, dass Du bei der Wahl eine „glückliche Hand“ haben mögest.
Liebe Grüsse,
Paolo

Vielen Vielen Dank für die Antworten. Sie haben mich unglaublich weitergebracht, mich in meinem Entschluss gefestigt. Von den vielen Denkanstößen angeregt blinzel ich schon mal in Richtung Großbritannien, einem Land, dass die Geisteswissenschaft fördert und pflegt.
ich denke, dass die besten entscheidungen von den größten ängsten getragen werden. sei es das ansprechen der zukünftigen mutter/vater der kinder oder dem auswandern mitsamt ganzer familie in ein anderes land. wir haben nur ein leben, welches wir investieren können in eine schöne zeit. da kann ich nur ein buch empfehlen: herr blanc von roman graf. es hat einen nicht wesentlichen beitrag dazu geleistet mein leben in vollen waggons zu genießen. ich wünsche euch nicht allzu trübe januartage und danke für eure antworten.

herzlichste grüße,

viktor

Hallo Viktor,

ich persönlich habe BWL studiert und danach standen mir sehr viele Möglichkeiten offen. Du hast ja jetzt schon lange überlegt und Dein Herz sagt Dir ganz bestimmt das Richtige. Und wenn Du soviel Energie reinsteckst, wie Du in Deinem Text durchscheinen lässt: „Go for it!“. Warum sollte es dann nicht klappen. Du bist sehr zielorientiert und überzeugt. Wäge für Dich persönlich ab, was Dir mehr bedeutet - Deinen Traum zu erfüllen, mit dem Risiko, dass Du scheiterst oder etwas Vernünftiges zu machen, wo Du nie die 120% geben kannst.

Viel Erfolg bei Deiner Entscheidung, die Dir keiner abnehmen kann! :wink:

Beste Grüße,
Nina