Lieber Viktor,
wer Dir schreibt, ist ein 76-jähriger Rentner, der als Schweizer seit 1956 in Brasilien lebt und so wie Du, zu der Literatur seit jeher eine besondere Beziehung hat und pflegt. Deshalb kann ich micht recht gut in „Deine Schuhe“ versetzen, habe ich doch als junger Mann ebenfalls schreibend davon geschwärmt, mich schreibenderweise in der realen Welt behaupten zu können. Doch, wie in vielen Lebenssituationen, zwingen getroffene Wahlen zu einer kohärenten Verhaltensweise und führen nach einer gewissen Zeit zu einer ganz anderen Lebensrichtung. (Man lernt eine Frau kennen, man verliebt sich, man heiratet, man bekommt Kinder, man erhält ein neues Verantwortungsbewusstsein für die gegründete Familie…Man schreibt weiter, immer wenn man Lust hat; man liest nach wie vor dutzenderweise gute Bücher; man liest erneut schon viel gelesene Bücher, die man liebt…aber der Unterhalt kommt von einer ganz anderen Seite, von dem Beruf für den man sich voll und ganz eingesetzt hat und in dem man es sogar recht weit gebracht hat, aber den man nicht im eigenen Herzen gewählt hat: er hat sich lediglich er-
geben.) - Viktor, ich nehme an, dass Du ein junger Mensch bist, etwas über 20, und eben vor dem wichtigen Dilemma der Berufswahl stehst. - Aus meiner Erfahrung kann ich Dir nur folgendes sagen:
- Ganz ideal ist immer jene Berufswahl, welche dem innersten Bedürfnis des Menschen gleichkommt. Ich glaube jedoch, dass diese Situation nur bei einer Minderheit eintritt.
- Mir scheint sehr wichtig zu sein, dass man sich nicht in eine Idee verbohrt, man muss stets flexibel bleiben und mehr noch in unserer heutigen Zeit und mit der gegebene Voraussicht der nahen und ferneren Zukunft. (Die Dinge auf dieser Welt verändern sich inzwischen mit der Geschwindigkeit des Lichtes = dieselbe Geschwindigkeit, mit der heutzutage die Infor-
mation verkehrt.)
- Du hast eine angeborene Neigung zur Sprache, zum Wort. Denn Literatur ist nichts anderes als die „Grosse Neigung zum Wort“, und angemerkt sei, dass sich dies nicht ausschliesslich auf das geschriebene Wort begrenzen muss. Für Dich wäre es mit Sicherheit ratsam, eine berufliche Tätigkeit anzustreben, die mit dem „Wort“ etwas gemein hat.
- Du sagst die „Wissenschaft“ zieht Dich über alles an und glaubst, dass Literaturwissenschaft beide Deiner Neigungen ideal verbinden würde. Vielleicht. Und vielleicht doch nicht. Denn Literaturwissenschaft ist ein rein akademischer Beruf, der Dich zu einer Katheder führen würde. Und denke daran, dass die von allen grossen Männern gedachten Gedanken und geschriebenen Worte im Grunde tot sind, auch wenn sie noch so wahrheitsnahe erscheinen oder unglaublich schön klingen.
- Versuche Dein Inneres auf die Probe zu stellen: Was ist Dir wichtiger, der Wohllaut des literarischen Werkes oder die Originalität des Gedankens. Oder noch
strenger: Was ist Dir wichtiger, die Form oder der Inhalt ?
- Sollte die Form überwiegen, so solltest Du einen Beruf wählen, in dem Du Deine Wortästhetik zum Aus-
druck bringen kannst. - Sollte anderenfalls der Inhalt, also die Essenz Dir wichtiger erscheinen, so
solltest Du kohärent sein, und einen dynamischen Beruf wählen, in dem Du mit Worten Gefechte führen kannst.
Dabei kommen mir zwei völlig unterschiedliche Tätigkeitsrichtungen in den Sinn: zum ersten, der Anwalt, der mit dem Wort die Gerechtigkeit auszuüben versucht und der Wahrheit auf den Grund kommen will oder aber der Journalist, der mit Worten die von ihm interpretierte Realität schildert. Und solltest Du je-
doch zum Schluss kommen, dass Du im Grunde „kreativ“ wirken möchtest (trotz Deiner Aussage…), so meine ich, dass in der Werbung eine ungemein anregende, dynamische und gleichzeitig lebendig-fröhliche Tätigkeit gefunden werden kann, wo das „Wort“ und die Beziehung zum „Wort“ eine Kernbedeutung hat.
Dies sind keinesfalls Empfehlungen oder Ratschläge. Die kann und soll man in dieser „kritischen“ Situation, in der Du Dich befindest, nicht erteilen.
Aber vielleicht kann das eine oder andere ein kleines Licht anzünden oder gar eine Aha-Erkenntnis auslösen.
Mit meinen besten Wünschen, dass Du bei der Wahl eine „glückliche Hand“ haben mögest.
Liebe Grüsse,
Paolo