Theater und Katharsis
Hi Paul,
wie erklärt sich denn die Fachwelt diese Phänomene?
das kommt auf die Fachwelt an. Der ideengeschichtliche Ausgangspunkt liegt in der Erfindung der griechischen Tragödie, speziell bei Sophokles, Aischylos und Euripides, in der der Proband ohne Möglichkeit der freien Wahl von den Göttern in einen ausweglosen Konflikt (aporia) versetzt wird, den er nicht lösen kann, ohne auf die eine oder andere Weise schuldig zu werden („unschuldig schuldig“, Sophokles: Antigone). Dabei werden die Versuche, sich aus der Verstrickung zu lösen, von einem Chor kommentiert und aus verschiedenen Gesichtpunkten beurteilt. Die Frage von Schuld und Vergebung wird dann oft als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Göttern (z.B. Athena und Apoll) abgehandelt.
Dem Chor kommt dabei eine sehr entscheidende Rolle zu. Er rahmt das Geschehen nicht nur rein choreographisch ein, sondern stellt zu dem Geschehen zugleich verschiedene Außenperspektiven dar. Ähnlich wie bei Brechts Verfremdungseffekt steigt er oft aus dem Geschehen aus und schaut es sich von außen an.
Aristoteles interpretiert dann in seiner Poetike (Buch VI) dieses Bühnengeschehen mit Hilfe seiner Katharsis-Theorie (katharsis = Reinigung, Befreiung) in hauptsächlich zwei Momenten: Die Transposition des affektschwangeren Geschehens und Handelns auf die Bühne (als Reflexionsebene) einerseits, und die Teilhabe (methexis) des Zuschauers durch Identifikation mit dem Probanden, in den er metaphorisch eigenes Affektgeschehen projizieren kann.
Durch diese doppelte Funktion (auch wenn das SO deutlich bei Aristoteles noch nicht zur Sprache kommt) der Tragödie:
- die Bühne, die aus der geografischen Landschaft transzendiert wird in ein Nirgendwo (outopia)
- das Bühnengeschehen, das aus der Historie transzendiert wird in eine universelle (also metaphorisch für jeden Zuschauer gültige) Zeitebene
wird das Theater zu einem Ritual in einem therapeutischen „Hier und Jetzt“, in dem Befreiung von belastenden Affekten stattfinden kann. Insofern hat das Theater dieselbe Funktion wie in religiösen Kontexten die Rituale.
Diese Theorie macht dann in der gesamten Geistesgeschichte Karriere. Wikipedia gibt in den Artikeln „Katharsis (Literatur)“ und „Katharsis (Psychologie)“ recht gute Überblicke. Jedenfalls bleibt die aristotelische Interpretation dabei im Großen und Ganzen eine Konstante. Hierzu ganz wichtiges Beispiel: Die Theateraufführung des Hamlet mit seinen Freunden innerhalb des Dramas „Hamlet“. Dort macht Shakespeare diese wahrheitsfindende und therapeutische Valenz des Schauspiels deutlich.
Erst Stanislawski bringt mit seiner Schule der Schauspielkunst neue Momente herein (für den Schauspieler und auch für den Zuschauer), indem er aus der bloßen formellen mimischen Nachahmung emotionaler Konturen zur aktuellen Identifizierung übergeht: Der Spieler HAT in actu der Aufführung die entsprechenden Emotionen. Er ahmt sie nicht nur mimisch und gestisch nach.
Mit der Umkehrung dieser Struktur ist der Weg frei für die psychotherapeutische Variante: Tatsächlich vorhandene Affekte können als Theaterstück inszeniert werden und öffnen sowohl dem Probanden als auch, auf demselben Wege, den Mitspielern durch die Transposition auf die „Bühne“ und in das „Hier & Jetzt“ des aktuellen Spielens einen Weg zur Befreiung.
Soweit mal aus meiner Sicht das story board.
Gruß
Metapher