Hallo,
Ich sehe in meinem Aufgabenbereich täglich die wildesten
Auswüchse, aber sollte mir DAS einmal in der Öffentlichkeit
unterkommen würde das Ergebnis - neben dem sofortigen
Abstellen des Mangels - wohl verstärkter Schriftverkehr sein.
Du bist da als Feldjäger ja auch sozusagen einigermassen fein raus. In weiten Teilen der Truppe ist es jedoch so, dass man sehr dazu neigt, Unvorschriftsgemässes zu tolerieren, weil es vielen Soldaten einfach bequemer (oder sicherer) erscheint, an Missständen vorbeizulaufen, da sie sich auf diesem Wege Mehrarbeit ersparen und die Gefahr gebannt sehen, als Unruhestifter und Erbsenzähler darzustehen. Toleranz von Fehlern also um des lieben Friedens willen. Dadurch kommt es einerseits zu einem solchen Wildwuchs an unmöglichen Uniformen, andererseits aber auch wieder zu solchen Auswüchsen wie in Coesfeld.
Wie heisst es? Wer Undiszipliniertheit duldet, sie selbst verschuldet.
Und, lieber Andreas, das ist nicht erst seit einigen Wochen so. Als ich als junger Leutnant zur See im Jahre 1993 sah, wie ein Wehrpflichtiger im Hangar gemütlich eine rauchte und ich ihm sagte, er solle mal ganz schnell die Fluppe ausmachen, damit er nicht von 2.000 Litern explodierenden Kerosins verdampft würde, grinst mich der Typ auch noch rotzfrech, worauf ich ihn mit einem schlichten „Raus“ aus dem Hangar verwies. Kurze Zeit darauf stand ich im Büro meines Chefs und durfte mir dessen Ansichten zur „modernen Menschenführung“ anhören. Als ich ihm dann sagte, dass aber in einem Hangar, in dem wegen verbotener Raucherei 2.000 Liter Kerosin explodieren, jedoch schon bald niemand mehr zum modernen Menschenführen vorhanden wäre, war ich derjenige, der rausgeworfen wurde.
Wenn Vorgesetzte, die noch wenigstens halbswegs daran interessiert sind, eine Dienstaufsicht durchzuführen, dann auf eine solche Art und Weise verprellt werden, nur weil jeder zweite Kommandeur Angst hat, es könnte ja der WB eingeschaltet werden, dann kommen wir von der „Führung von vorn“ zur „Führung von unten“. Dann fragen sich nämlich die Betroffenen, warum sie sich die Mühe mit dem Führen machen sollen, wenn sie am Ende selbst noch eins dafür auf die Mütze kriegen, wenn sie im Militär versuchen, militärische Ordnung durchzusetzen. Dann lassen sie es irgendwann halt ganz und schon sind wir auch wieder schnell mal bei solch schrecklichen Dingen wie Coesfeld, wo m. E. auch ein Mangel an Dienstaufsicht zu den auslösenden Faktoren zählte.
Mittlerweile ist ja der Begriff der modernen Menschenführung so überstrapaziert worden, dass jeder Dritte, dem die ordentliche Richtung seines Anzuges befohlen wird, schon im Katalog der Menschenrechte nachblättert und danach sucht, ob ihm nicht ein petitionsfähiges Verbrechen angetan wurde. Und dass führte wiederum dazu, dass der Wehrbeauftragte, der unbestritten eine unverzichtbare Instanz für richtige Vergehen ist, ganz viele kleine Mitarbeiter eingestellt hat, die nun auch irgendwie ihren warmen Arbeitsplatz begründen müssen und sich mancher Kommandeur nun auch in der Ermittlungspflicht dafür sieht, dass einer seiner Unteroffiziere einem Soldaten befohlen hat, das von dem Soldaten selbst weggespuckte Kaugummi wieder aufzusammeln. Da wird dem Unteroffizier dann doch schonmal gesagt, dass er zwar recht habe, aber beim nächsten Mal doch lieber höflich den Soldaten bitten solle, das Kaugummi doch wieder aufzusammeln. Und wenn dem nicht danach wäre, solle der Uffz es doch dann halt einfach selbst machen? Ich stelle mir das fast so vor, als würde der Uffz dann gesagt bekommen: „Wir sind hier bei ‚Wünsch‘ dir was’, und wenn der Gefreite etwas nicht zu tun wünscht, dann haben Sie, Herr Unteroffizier, dem zu entsprechen.“
Aber das ist dann immer auch noch ein Stück weit eine Frage der Wirbelsäulenstärke, ob man als Offizier oder Unteroffizier bereit ist - auch ob der Gefahr, sich rechtfertigen zu müssen - einem sich fehlverhaltenden Soldaten mal in angepasster militärischer Form den Scheitel zu fönen. Denn eine Metapher sagt, dass kein Schiff, das ankommen will, überhaupt erst den Hafen verlässt, ohne zuvor den Kompass eingenordet zu haben. Somit habe ich die Erfahrung gemacht, dass es sich lohnt, solche Soldaten, die mir neu unterstellt sind, erstmal, selbst bei relativen Kleinigkeiten, das Unterstellungsverhältnis vor Augen zu führen und ihnen immer wieder solange auf die Finger zu schauen, bis sie aus eigenem Antrieb heraus ein Interesse daran haben, im Sinne der übergeordneten Führung zu handeln. Und wenn das läuft, kann man einen Gang zurückschalten, weil man dann weiss, dass der Kompass eingenordet ist und man sich auf ihn verlassen kann, ohne sich ständig Sorgen darüber machen zu müssen, ob man nur aufgrund dessen auch heil ankommt.
Grüsse
Tom