Gerechtigkeit bei Platon und Aristoteles

Hi,

ich bin noch neu in der Philosphie (2. Semester) und beschäftige mich gerade mit der Frage, worin die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Gerechtigkeitstheorien bei Platon (POliteia) und Aristoteles (Nikomachische Ethik) bestehen. Leider habe ich erst recht wenig Vergleichspunkte. Vielleicht kennst du dich mit den beiden Gerechtigkeitsbegriffen aus und kannst mir noch ein paar Anreize geben? Das wäre super - ist meine erste HA!

(Habe die Theorien bzw. Begriffe dargestellt und mir zu den Gemeinsamkeiten / Unterschieden bislang notiert :

  • beide sehen die Gerechtigkeit als Metatugend an (sie vereinigt in sich alle anderen Tugenden)
  • bei Platon ist die Gerechtigkeit jedoch auf das innere Verhältnis bezogen (Person selbt im Mittelpunkt bzw. die Harmonie der Seelenteile; gerecht ist, dass jeder Teil seiner Aufgabe nachkommt etc.), während es bei A. um gerechte Handlungen geht (andere Personen im Mittelpunkt bzw. das Bezogensein der Tugenden auf den anderen)
  • Aristoteles fügt die besondere Gerechtigkeit hinzu -> differenzierteres Verständnis mit Verteilungs- und ausgleichender Gerechtigkeit -> kommt dem heutigen Verständnis näher )

Vielleicht fallen dir noch andere wesentliche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede auf?

LG,
Inga

Hallo!

Aristoteles fügt die besondere Gerechtigkeit hinzu ->

also etwa ab 1131 a

differenzierteres Verständnis mit Verteilungs

distributive G.:
Da sind die Proportionsgleichungen sehr anschaulich, die Ar. anstellt:
Person X : Person Y wie Anteil x : Anteil y
und ebenso gelten dann die Umformungsmöglichkeiten.
Nur besteht dabei, auch von Ar. gesehen, für diese, als die geometrische bezeichnete, auf der Verhältnismäßigkeit beruhenden Gleichheit das Problem des Maßstabs. Ar. sagt, dass dieser der Definition durch die Gesellschaft unterliegt und durchaus am gleichen Ort zur gleichen Zeit strittig sein kann. Er belässt es bei der Formulierung proportional gleich „im Hinblick auf eine bestimmte Wertigkeit/Würdigkeit“ (kat’ axían tiná).
Im Zusammenhang mit dieser Stelle, auch mit 1132 a 23, bietet sich der Bezug zu Platon und der suum-cuique Formel an.

[…] und
ausgleichender Gerechtigkeit

die ordnende G. (tò diorthotikón): Gerechtigkeit als die Mitte zwischen Einbuße (zemía) und Gewinn (kérdos).

-> kommt dem heutigen Verständnis
näher ),

übrigens auch die Polemik in 1132 1ff gegen die Pythagoreer zugunsten der proportionalen Vergeltung.
Im Ganzen ist das aber ein weites Feld, weil bis in die frühe Neuzeit herein Übereinstimmung darin bestand, dass es die Hauptaufgabe des Staates (nicht nur der Judikative), wenn nicht überhaupt das Staatsziel, sei, für die Gerechtigkeit zu sorgen.
Ich wünsche viel Erfolg.
H.

Danke für deine Antwort, Hannes!

Ich habe bei Aristoteles ein ganz grundsätzliches Verständnisproblem, das ich gerne kurz schildern würde - vielleicht kann mir jemand diesbezüglich weiterhelfen?!

A. sagt, dass jemand dann gerecht ist, wenn er sich an die Gesetze hält (allgemeine/universale Gerechtigkeit). Zugleich spricht er von ihr als einer Metatugend, die die anderen Tugenden unter sich vereint und auf den anderen Menschen bezieht. Wie genau ist das zu verstehen? Eine Tugend ist ja eine Haltung (hexis) und es kommt darauf an, dass man sie um ihrer selbt willen ausführt (hatte er glaub ich so im 2. Buch definiert)- wie kann es dann sein, dass bloße Gesetzeskonformität ausreicht? Das passt doch nicht in eine Tugendethik wie die Aristotelische?! Würde Aristoteles tatsächlich meinen, dass der, der sich an die Gesetze hält, weil er z. B. keine Strafe erleiden möchte, gerecht ist? Reicht die bloße Legalität aus?

Hoffe, jemand kann helfen?

LG,Philo

Hallo Philoneuling,

ja, und zwar im um so größeren Maße, je mehr der Mensch in der Lage ist, die Gemeinschaft (Familie oder Staat) zu schädigen.

Grüße _ mki _

Hallo!

A. sagt, dass jemand dann gerecht ist, wenn er sich an die
Gesetze hält (allgemeine/universale Gerechtigkeit)

Falls du dich da auf NE 1129 a beziehst: Da ist nur nebenbei vom Gerechten die Rede; angekündigt ist die Darlegung, wievielerlei Arten, ungerecht zu sein, es gibt (eilephtho de ho adikos posachos legetai). Da sind dann als erste der Gesetzwidrige (paranomos), der Mehrhaben-Wollende (pleonektes/unersätlich) und der priviligiertsein-Wollende (anisos/ungleich) genannt. Dann wird abstrahierend auf das Gegenteil verwiesen: Das Gesetzeskonforme und das Gleiche sind das Gerechte/die Gerechtigkeit, das Ungerechte/die Ungerechtigkeit sind das Widergesetzliche und das Ungleiche. Nocheinmal: Es geht hier und weiterhin im Kontext um die Erscheinungsformen der Ungerechtigkeit, nicht um eine Definition von Gerechtigkeit.
Der dient die lange und gründliche Auseinandersetzung um die Gerechtigkeit als maßvolle Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig einer jeglichen ethischen Haltung. Das kennst du ja aus Buch II.
[Für die Anhänger der Bergpredigt („Selig sind die Friedfertigen…“) ziemlich schockierend, dass in diesem Zusammenhang auch der Zorn im rechten Maß eine Tugend ist (1105 a).]

Würde Aristoteles
tatsächlich meinen, dass der, der sich an die Gesetze hält,
weil er z. B. keine Strafe erleiden möchte, gerecht ist?
Reicht die bloße Legalität aus?

Das, meine ich, wäre also geklärt.
Gruß!
H.