Modernisierung; Dahrendorf: Ligaturen und Optionen
Hallo,
Ich lese gerade, „durch den gesellschaftlichen Wandel
entstünden neue Probleme für das medizinische Handeln“
Ein verschärftes Problem entstünde durch
neue Medizintechnologien einerseits und
Wertewandel und Pluralismus andererseits.
Zu dem zweiten Punkt wird das Stichwort
„Abnahme an Ligationen“ genannt und mit Ralf Dahrendorf in
Verbindung gebracht.
es heißt Ligaturen!
Ich bin nicht ganz sicher, was hier alles unter Ligationen zu
verstehen ist. Bindungen an was? Werte vermutlich
es geht nicht (nur) um Werte, sondern viel weiter gefasst um gesellschaftliche „Vorgegebenheiten“, „Zwänge“;
ich erkläre das am besten ganz allgemein nach Schema Faq:
in der Vormoderne war (angeblich) fast alles vorgegeben;
seine Herkunft, sein Geschlecht, seine Religion, der Beruf des Vaters, bestimmte alles;
es war schon zum Zeitpunkt der Geburt klar, dass man Ehemann, Müller wie der Vater, Kirchgänger, etc. werden würde;
alle sozialen „Rollen“ waren vorgegeben, man konnte da nicht raus; und die Rollen passten alle gut zusammen, ließen sich problemlos miteinander vereinbaren.
Die Moderne sprengte das ein Stück weit auf:
man konnte einen anderen Beruf ergreifen als der Vater;
die Herkunft bestimmte den Schulerfolg nur noch statistisch (Stichwort: geringere Bildungschance der bildungsfernen Schichten), aber nicht mehr zwingend;
man konnte aus der Kirche austreten, etc.;
viele Rollen waren noch vorgegeben, aber es bestehen Spielräume, auch Unklarheiten und Brüche zwischen den Rollen, d.h. die verschieden Rollen-Anforderungen passten teilweise nicht mehr richtig zusammen (man musste als Chef im Büro autoritär sein, als Vater liebend, etc.), es entstand so eine Rollen-Pluralität;
der Einzelne musste schauen, wie er diese verschiedenen und gegensätzlichen Anforderungen unter einen Hut brachte; aber es ging noch relativ reibungslos.
Die Postmoderne oder „zweite Moderne“ (Ulrich Beck) radikalisiert die Moderne:
die sog. „Normalarbeitsbiographie“ (klar vorgegeben: Geburt-Schule-Lehre-Arbeit-Rente-Tod; und das nur für Männer) wird ersetzt durch ein wildes Durcheinander (Geburt-Schule-Lehre-Arbeit-Schule-Arbeit-…-Lehre-Tod-Rente; „Bastelbiographie“);
große kollektive Einordnungen wie Gewerkschaften, Klassenverbundenheit, „bürgerliche Weltsicht“, „gehobener Kulturgeschmack“, etc. bestehen nicht mehr selbstverständlich;
die Form der Familie (Mama, Papa, Kind; monogam, heterosexuell) ist nicht mehr die alleinig-mögliche, sondern alle möglichen „Patchwork-Familien“ (Keupp) pilzen hervor;
nicht mal mehr das Geschlecht ist eine zwingende Vorgegebenheit, es wird (chirurgisch) wählbar, wird zur Option;
Letzteres ist der Punkt:
der Gegenbegriff bei Dahrendorf zu Ligaturen ist Optionen, und alle möglichen „Modernisierungstheorien“ (guter google-Begriff zum Vertiefen!) konstatieren diese historische Entwicklung von traditionaler „Vorgegebenheit“ hin zu Pluralisierung (der gesellschaftlichen Rollen) und Individualisierung (d.h. alle möglichen Dinge, die früher unverrückbar vorgegeben waren, werden zur Wahl des Einzelnen; der Einzelne wird zum Verantwortlichen für sein Leben gemacht, im Guten wie im Schlechten; auch ein guter google-Begriff!);
Dahrendorf drückt diesen soziologischen Allgemeinplatz eben als „Rückgang der Ligaturen, Erhöhung der Optionen, Wahlmöglichkeiten“ aus;
jeder Soziologe hat da sein eigenes Vokabular.
Viele Grüße
Franz