Gesucht: Grammatische Regel (Altgriechisch)

Hallo liebe Altphilologen bei w-w-w,

es geht bei meiner Frage zwar um die Übersetzung eines Verses aus dem Johannesevangelium (8,58), im Religionsbrett hier wären aber kaum verständliche Antworten dazu zu erwarten: Es scheint kein Anhänger jener Sondergemeinschaft, um deren von allen traditionellen (wörtlichen) Übersetzungen abweichende angebliche Übertragung es geht, hier seinen „Pionierdienst“ zu leisten; bei Y!C werde ich mich deswegen nicht extra anmelden! Diese Sondergemeinschaft bietet den Lesern auch in ihren umfangreichen Druckwerken keine konkreten Informationen dazu, deutet als Rechtfertigung und Grund für ihre vom Text abweichende Lesung nur eine Grammatische Regel oder Formel im Altgriechischen an: „… das spiegelt genau die Bedeutung der griechischen Ausdrucksweise wider.“

Mein Problem wäre, dass ich großes Dummerle keine derartige grammatische Regel oder Floskel im Altgriechischen kenne.

Evangelium Johannes’ 8,58

Griechischer Wortlaut:
Εἶπεν αὐτοῖς Ἰησοῦς· ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν, πρὶν Ἀβραὰμ γενέσθαι ἐγὼ εἰμί.

Münchner Übersetzung:
(Es) sprach zu ihnen Jesus: Amen, amen, ich sage euch, ehe Abraham wurde, bin ich.

Unvoreingenommene (?) traditionelle Lesart von Johannes 8,58

Vetus Latina:
Dixit eis Jesus: Amen dico vobis, ante Abraham ego sum.

Abweichende Übertragung (?) von Johannes 8,58

Neue-Welt-Übersetzung:
Jesus sprach zu ihnen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham ins Dasein kam, bin ich gewesen.“

Dass ich mich in der profanen, klassischen altgriechischen Literatur nicht gut auskennen würde, wäre übertrieben, bin daher dankbar für jeden Hinweis darauf, dass eine derartige Satzkonstruktion tatsächlich ausschließlich auf die Vergangenheit bezogen werden könnte (bzw. muss).

LG
Semsi

Moin,
das kann sich sowohl auf die Vergangenheit beziehen - und das ist das Übliche - wi auch auf die Zukunft. Dass es sich bei der Johannes-Stelle auf die Vergangenheit bezieht, ist klar, denn Abraham hat in der Vergangenheit gelebt.
In Mt 26, 34 - der Ankündigung des Verrats des Petrus - aber bezieht es sich auf ein in der Zukunbft liegendes Ereignics:
ἀμὴν λέγω σοι ὅτι ἐν ταύτῃ τῇ νυκτὶ πρὶν ἀλέκτορα φωνῆσαι τρὶς ἀπαρνήσῃ με

Es gibt verschiedene mögliche Konstruktionen, so zum Exempel mit dem Konjunktiv Aorist, . mit einem Akkusativ und folgendem Imfinitiv des Aorist, aber auch mit bloßem Akkusativ - viele Möglichkeiten also.
Eine besondere grammatische regel dazu habe ich nicht finden können.

Gruß - Rolf

johanneische Grammatik
Hallo,

auch wenn wir es seit Jahren von deinen Fragen und Antworten im Reli-Brett kennen: Leider ist alles so kryptisch und elliptisch formuliert, daß man immer rätseln muß, was du eigentlich meinst, bzw, wissen willst. Und wenn ich es nicht aus deinen „Diskussionen“ mit Nicht-Experten ebendort ahnen würde, wonach du hier fragst, wäre es auch nicht zu entziffern. Ich versuche also mal zuerst deine Frage zu rekonstruieren.

Es geht um die Passage im Joh.-Ev. 8.58

… πρὶν Ἀβραὰμ γενέσθαι, ἐγὼ εἰμί.

und zwar speziell um die Übersetzung des ἐγὼ εἰμί.

Die grammatisch korrekte, also nicht ideologisch voreingenommene Übersetzung lautet:
„… bevor Abraham wurde, bin ich.“
und zwar nicht nur die der (semi-interlinearen) Ausgabe „Münchner Neues Testament“, Düsseldorf 1988.

Eine nicht ganz falsche, aber dem für die johanneische Literatur des NT charakteristischen und sehr häufigen Gebrauch des johanneischen γιγνομαι bzw. γιγνεσθαι nicht gemäße Variante des Nebensatzes ist:
„… bevor/ehe Abraham geboren wurde …“
denn die Extension von γιγεσθαι beinhaltet
„entstehen“ (Joh. 1.3),
„auftreten, in Erscheinung treten“ (Joh. 1.6)
„geschehen“ (Joh. 1.28)
„(etwas) werden“ (Joh. 1.14, 6.17), und durchaus auch
„gezeugt werden, geboren werden“ (Röm 1.3), aber der Joh.-Autor verwendet dafür durchweg konkreter γενναω (1.13, 3.3-5) und nicht γιγνομαι.

Andere Übersetzungen des Nebensatzes sind tendenziös oder vielmehr „didaktisch“, jedenfalls aber überflüssig und irreführend, gefärbt:
„… ehe Abraham in Erscheinung trat…“
„… ehe Abraham ins Dasein kam …“
„… ehe es einen Abraham gab …“
und werden dem johanneischen Gebrauch von γιγνομαι nicht gerecht.

Die Konstruktion mit πρὶν ist ein " A.c.I.": πρὶν (bevor/ehe) Ἀβραὰμ (Akkusativ) γενέσθαι (Infinitiv Aorist ), wobei der Aorist wie üblich mit dem Präteritum („wurde“), wiederzugeben ist. Seltener, und kontextabhängig, mit Perfekt („geworden ist“).

So, und nun zu deiner eigentlichen Frage, die das ἐγὼ εἰμί betrifft.
εἰμί („bin“) ist ja 1.Pers. Sing. Präs. Indikativ, und nun erwähnst du die „Neue Welt Übersetzung“ der Zeugen Jehovas

Diese Sondergemeinschaft

die hier das Präsens perfektisch übersetzt
„… ehe Abraham ins Dasein kam, bin ich gewesen.“ In der engl. Version:
„… before Abraham came into existence, I have been.

Und um diese Frage geht es dir: Wie begründet der Kommentarder ZJ die Wiedergabe des Präsens in seinen Übersetzungen mit dem Perfekt?

In der deutschen Version der NWÜ, Anhang 6F, wird so argumentiert:
„Die Handlung, die in Joh 8:58 ausgedrückt wird, begann „ehe Abraham ins Dasein kam“, und dauert noch an. In einer solchen Wortfügung wird eimí …richtigerweise im Indikativ Perfekt übersetzt.“ Und sie geben dazu Beispiele wie (ich nehme nur das am wenigsten fragwürdige):
Joh. 15.27: … ὅτι ἀπ’ ἀρχῆς μετ’ ἐμοῦ ἐστε.
„… weil ihr von Anfang (an) bei mir seid.“
wo ZJ aber übersetzt:
„… weil ihr bei mir gewesen seid , seitdem ich begann.“ (Auf den himmelschreienden Unsinn des letzten Satzteils gehe ich hier nicht ein.)

Der ZJ Kommentar zitiert auch noch einen G.B. Winer, Leipzig 1867 „Zuweilen schließt das Präsens ein Präteritum mit ein …“ (Hervorhebung von mir), der das begründet u.a ebenfalls mit Joh. 8.58. Mal abgesehen von dem Unsinn (Präteritum ist ja nicht Perfekt),

Diese Argumente gehen komplett an dem Wesentlichen und Spezifischen der johanneischen Zeit-Philosophie vorbei. Das Präsens in den Zitaten, die der Joh.-Autor Jesus in den Mund legt, hat systematischen theologischen Sinn: Das Präsens in den Aussagen Jesu, dessen „hier und jetzt“, interpretiert er (der Autor) nämlich als aus der Zeitlichkeit überhaupt, aus den Zeitdimensionen, Vergangenheit und Zukunft, herausgenommen. Daher gibt es auch kein „Werden“ für ihn (Jesus), und kein „Gewordensein“. Gerade das ist die Aussage in 8.58! Im Gegensatz zu jedem Gewordensein, welches ein Vergehen oder gar Vergangensein impliziert, ist Jesus (in dieser - speziell johanneischen - Konzeption als „Gesandter Gottes“!) nicht zeitlich. Viele Beipiele finden sich in diesem Ev.-Text: 1.1, 1.30, 3.36, 4.13-14, 4.23, 5.25, 8.23, 17.5, 17.24 usw. usw. Der Joh.-Autor spielt deshalb ganz raffiniert gerade mit zunächst (und nur vordergründig) paradox erscheinden Kombinationen der grammatischen Tempora.

Ich nehme mal nur das futurische Beispiel aus 4.23
… ἔρχεται ὥρα καὶ νῦν ἐστιν
„… die Zeit kommt und ist jetzt.“
Hier ist auch die übliche Ergänzung „… und ist schon jetzt“ bereits eine Freveltat an der Konzeption des Joh.-Autors, allein, um die bedeutungsschwangere Paradoxie für die heutigen Leser verdaulicher zu vertuschen. Auch die für Arbeit am Text eh völlig unbrauchbare Einheitsübersetzung macht das so:
„… die Stunde kommt und sie ist schon da.“
mit gleich zwei fatalen Fehlübersetzungen.

Die Argumentation der ZJ basiert, wie auch in dem Kommentar Anhang 7F deutlich gesagt, auf der Panik vor den im Joh.-Ev. recht eindeutigen Präexistenz-Aussagen. Das Präexistenz-Theologem wird ja von den ZJ abgelehnt. (Falls du mit diesem Theologem nicht vertraut bist, frag zurück). Sie basiert außerdem auf einer Ablehnung der These mancher Autoren, in diesen und ähnlichen Texten des NT werde von den Autoren Jesus unterstellt, Gott selbst zu sein bzw. dieser behaupte das von sich selbst. Dies ist aber eine These, die schon lange in der Johannes-Forschung (und diese füllt Bibliotheken, das kann ich dir versichern) nicht mehr ernsthaft diskutiert wird.

Und deshalb haben sie versucht, alle Aussagen, insbesondere die mit entsprechenden Tempus-Kennzeichen, durch entsprechende verfälschende oder irreführende Übersetzungen in die bloß relative Historizität zu verzerren. Alle Joh.-Interpreten, Bultmann z.B. (obwohl dessen Kommentar heute sehr kritisch betrachtet wird, aber aus anderen Gründen), Schnackenburg z.B., oder Martin Hengel und sein Schüler Jörg Frey (um die extensivsten und prominentesten heutigen Interpreten zu nennen), aber ebenso die Klassiker wie Origenes, Eriugena, Meister Eckhart, lassen keinerlei Zweifel, daß Joh 8.58 mit „bin ich“ wiederzugeben ist, wenn man nicht die zentralsten Aussagen des Joh.-Ev-Autor systematisch verfälschen will.

Und das ist eben gar keine Frage mehr der Grammatik. Ich erinnere an die Diskussionen zwischen dir und mir 2013 im Reli-Brett, wo du darauf hinwiesest, man müsse zwischen der „kleinen und großen semantischen Ebene“, m.a.W. zwischen einem lokalen und globalen Kontext, unterscheiden bei der Interpretation. Völlig richtig. Und gerade in der johannesischen Literatur ist das von besonderer Brisanz.

Die ZJ-Argumentation dürfte auch eine Eigenart der hebräischen Grammatik bei dem hiesigen Problem verwechseln: Das sog. Perfektum consecutivum: Wenn zwei durch „waw“ verbundene Verben im selben Satz stehen, das erste im hebr. sog. „Perfekt“ (= lat. Perfekt oder lat. Imperfekt), dann steht das zweite im hebr. sog. „Imperfekt“ (= lat. Präsens oder Futur), und letzteres ist daher ebenfalls perfektisch zu übersetzen. Aber das gilt nur, wenn beide Verben dasselbe Subjekt haben. Und gerade das ist ja in Joh. 8.58 nicht der Fall. Und in der griechischen Grammatik gibt es eine solche Regel eh nicht.

Gruß
Metapher

Hallo,

vielen Dank für den Hinweis auf Mt 26,34 für den Gebrauch des Altgriechischen als Weltsprache in der Ära nach der Zeitrechnung! Ein sehr wichtiges Detail für mich und mein Problem.

Eine Aorist & Futur Konstruktion, die nahelegen würde, dass es neben Aorist & Präsens (eben die fragliche Stelle Joh 8,58) auch eine Satzkonstruktion mit Aorist & Perfekt (o.ä.) geben könnte, falls die Vergangenheit zum Ausdruck gebracht werden sollte. Als u.U. mögliche Quelle käme mir z.B. Flavius Josephus in den Sinn.

Die Regeln einer Sprache können sich relativ schnell ändern, um vielleicht einen Gebrauch der Konstruktion Aorist & Präsens in einem Temporalsatz als Universalformel für alle Zeitformen erkennen zu können (Motto: Was im Einzelfall genau zutreffen würde, wäre dann aus dem jeweiligen Kontext erkennbar), wäre eine relativ genaue Kenntnis der echten altgriechischen Klassiker notwendig, die mir als Fachidiot aber hinten vorbeigingen. Hätten die Sprachwissenschaftler ein derartiges Phänomen in ihren Texten erkennen können, wäre solches vielleicht irgendwo festgehalten worden; aber auch nur vielleicht!

Die Watchtower GmbH hätte sich diese „zweite Spur“ besser sparen sollen, sie erinnert mich mit ihrer großen Ähnlichkeit fatal an eine übliche Betrugsmasche, wie z.B. die (auch) bei Bilanzfälschungen beliebten zwei Tabellen, wobei die eine absichtlich (dem Zweck entsprechend) unverständlich, irreführend und lückenhaft ausgearbeitet wird, die zweite, natürlich ebenso mit verwirrenden Transaktionen und Neugruppierungen, bei näherem Hinsehen aber nur für einen Teil die notwendigen Erklärungen liefern würde.
Uups, hoffentlich verpfeifst Du mich jetzt nicht beim Finanzamt!

Wahrscheinlich hat @Metapher mit seiner Vermutung recht, dass es sich bei dieser WTS-Sonderlehre (wieder!) nur um eine „Verwechslung“ handelt, diesmal nicht mit z.B. den unterschiedlichen Aussagen des hebräischen und aramäischen Teils eines bestimmten Wörterbuchs (zu Ex 3,15), sondern mit einer hebräischen und griechischen Grammatik, d.h. die Anspielung auf einen angeblichen altgriechischen Sprachgebrauch nur ein Holzweg für entsprechende Köpfe gewesen wäre …

Gruß
Semsi

spezifische Temporalkonstruktionen
Hallo,

Eine Aorist & Futur Konstruktion, die nahelegen würde, dass es neben Aorist & Präsens (eben die fragliche Stelle Joh 8,58) auch eine Satzkonstruktion mit Aorist & Perfekt (o.ä.) geben könnte, falls die Vergangenheit zum Ausdruck gebracht werden sollte.

Da brauchst du nicht weit zu suchen, um eine Konstruktion πριν + Infinitiv Aorist in Tempusfolge mit Perfekt zu finden. Du brauchst nur im selben Text ein paar Kapitel weiterzulesen:
Joh. 14.29:
καὶ νῦν εἴρηκα (1. Pers. Sing. Perf. Ind. Aktiv) ὑμῖν πρὶν γενέσθαι (Inf. Aor. Medium), ἵνα ὅταν γένηται (3. Pers. Sing. Aor. Konj. Medium) πιστεύσητε (2. Pers. Plur. Aor. Konj. Aktiv).
„Und jetzt habe ich (es) euch gesagt, bevor (es) geschieht (wrtl. geschehen ist), damit ihr, wenn (es) geschieht, glaubt.“

Das Ganze hat damit zu tun, wie der griech. Aorist sehr oft (aber nicht immer) gebraucht wurde: Er kennzeichnet weniger einen Zeitverlauf bzw eine Zeitspannen, als eher einen Zeitpunkt, bzw. den Anfang oder das Ende eines Zeitverlaufs, Wo dieser Zeitpunkt liegt, wird dann durch den Kontext des Gesprächsszenariums erst klar.

Aber alles das berührt das Problem des präsentischen „ego eimi“ in Joh 8.58 nur dann, wenn man es rein grammatisch betrachtet und komplett den Rahmen der speziell johanneischen Zeitkonzeptionen ignoriert und alle die damit verbundenen Techniken der Tempusfolge, mit denen der Autor gearbeitet hat. Ich habe ja aus diesem Grund extra einige Textbeispiele aus dem Joh.-Ev. angegeben.

Dies zu ignorieren ist aber keineswegs eine Besonderheit der ZJ-Übersetzungen! Es ist allen Traditionen zu eigenen, die die Präexistenz-Theologeme (mit ihren die Zeitlichkeit bzw Historizität aufhebenden Aussagen) ablehnen. Und diese Diskussion hat bereits im 2. Jhdt. begonnen. Mit „Betrug“ hat das nichts zu tun, sondern mit Christologie. Und das ist keine Thema mehr für das Fremdsprachenbrett.

Und es ist auch keine Angelegenheit der altgriechischen Klassiker (abgesehen davon, daß wir uns hier in der Koine, und nicht in der griech. Klassik befinden), sondern ein Spezifikum dieses Textes, bei dem die Zeitphilosophie eine entscheidende Rolle spielt. Ähnliche Beispiele von grammatisch schwierig aufzulösenden und zu interpretierenden Temporal-Konstruktionen finden sich (aus demselben Grund!) in der gathischen und der jungawestischen Literatur des Zarathustrismus.

Gruß
Metapher

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Hallo Metapher :wink:

ja, der Lack ist ab, auch meine Verkleidung als Mormone ist nun aufgeflogen; es lag vermutlich wieder am Garment …

Dass vielleicht nicht wenige Leute bei meinen Fragen nur „Bahnhof“ verstünden, wäre aber eine Frage des theologischen Niveaus und der Vorbildung (Betonung auf „Bildung“, nicht auf „Ohren“), und solches nicht bei mir, denn immerhin hattest auch Du meine Frage (z.T.) richtig verstanden!

Der Vers Joh 8,58 und dessen „Übersetzung“ der Wachtturmgesellschaft (mit „bin ich gewesen“ statt „bin ich“) wurde auch schon im Internet mehr als breitgetreten, hier aus Seiten mit sonst zweifelhaften Inhalten zu zitieren, wäre nicht nur überflüssig.

Der wichtige und zur treffenden Übersetzung notwendige Kontext dieses Verses handelt von den „Kindern Abrahams“, sowohl seiner leiblichen Nachkommenschaft als auch den Nachfolgern von Abraham als religiösem Vorbild; nur um Letztere ging es bei Jesus’ Gespräch mit einigen Juden, er selbst davon nicht ausgenommen. Jesus sagte nicht, dass Abraham ihn selbst gesehen, geschweige denn er selbst Abraham gesehen hätte (Joh 8,56). Es entspräche nicht dem Inhalt und der Aussage von diesem Kontext, wenn Jesus auf die Verdrehung des Sachverhalts nun plötzlich mit einer (wie auch immer gearteten) „materiellen Existenz“ seinerseits vor „Abrahams Geburt“ geantwortet hätte. Ein derart eindeutiges Zeugnis für eine körperliche Präexistenz entspräche ohne Zweifel dem Wunschdenken jener Menschen, die zweideutige Textstellen auf der Basis von Halbwissen und großen Ohren gedeutet, ohne Sinn und Grund deren Aussage für sich bereits festgelegt hatten, oder mit einem Wechsel der Konfession seitens vieler Anhänger von Joseph Smith („Buch Abraham“) rechnen konnten; aber auch bei diesem Vers wäre derartiges durch den Zusammenhang, die Wortwahl (und die Grammatik) ausgeschlossen.

Diese Spur, eine Sackgasse, sich wiederum in mehrere „Abstellgleise“ aufspaltend, dient offensichtlich nur dem Abfischen zahlungskräftiger Unterstützer, seien sie wahnsinnig („Gleis 1a“), unwissend, halbwissend oder nur eingebildet, denn als Rechtfertigung für die „Übersetzung“ von Präsens als Perfekt wurde letztlich
a) der englische Sprachgebrauch angeführt, der aber nicht relevant wäre, da es sich weder um Abrahams „Geburt“ handelt, noch die „Verständlichkeit“ im englischen Sprachraum nach dessen Grammatik einen Einfluss auf den vorhandenen griechischen Text hätte, und
b) der Sprachgebrauch „im Griechischen“, als Trumpfkarte mit dem letzten Wort zur Sache.

Bei „Gleis 2b“ hatte ich daher meine Frage angesetzt, trotzdem meinerseits zu erwarten gewesen war, dass auch bei den altgriechischen Klassikern (z.B. „Ööh“ und „Ääh“) keine Belege für die ausschließliche Lesung der Formel Aorist & Präsens als Aorist & Perfekt gefunden werden könnten, wie sie die Wachtturmgesellschaft für eine „Verwechslung“ auf dieser Grundlage aber gebraucht hätte. Deine Idee mit einer Verwechslung der Grammatiken ist wirklich nicht schlecht, wäre aber bei der Wachtturmgesellschaft ein Wiederholungsfall … ausgerechnet immer bei ihren Sonderlehren … so ein Pech!

Mit freundlichen Späßen
Semsi vom Salzsee

Hallo,

wenn ich ehrlich sein soll, müsste ich zugeben, dass ich bei Deinen Ausführungen nicht ganz mitkomme.

Joh. 14.29:
καὶ νῦν εἴρηκα (1. Pers. Sing. Perf. Ind. Aktiv) ὑμῖν πρὶν γενέσθαι (Inf. Aor. Medium), ἵνα ὅταν γένηται (3. Pers. Sing. Aor. Konj. Medium) πιστεύσητε (2. Pers. Plur. Aor. Konj. Aktiv).

„Und jetzt habe ich (es) euch gesagt, bevor (es) geschieht (wrtl. geschehen ist), damit ihr, wenn (es) geschieht, glaubt.“

Es ging hier eigentlich um die Konstruktion Aorist & Präsens in einem Temporalsatz mit der Konjunktion πρὶν (bevor) …

Joh 8,58 *
πρὶν Ἀβραὰμ γενέσθαι ἐγὼ εἰμι.

… dem Äquivalent mit der Kombination Aorist & Futur …

Mt 26,34
πρὶν ἀλέκτορα φωνῆσαι, τρὶς ἀπαρνήσῃ με.

… und einem evtl. möglichen Gegenstück mit Aorist & Perfekt

?
πρὶν …

* Interlinearübersetzungen hier nur Griechisch-Englisch, zur Orientierung aber ausreichend.
Mein im Religionsbrett beigegebener Link zu einer PDF-Unterseite funktioniert leider nur zusammen mit der Index.HTM, die dazu bereits im Browser-Cache vorhandenen sein muss.
Eine genauere Übersetzung (als „Before Abraham was“) hätte die von der Watchtower-Society aufgekaufte Interlinearübersetzung geboten (mit „Before Abraham to become“), jetzt leider nur noch mit deren Absurditäten und Fußnoten am Rand erhältlich. Musste wohl schnell aus dem Verkehr gezogen werden …
Ebenfalls leider nur Griechisch-Englisch eine Interlinearübersetzung der Septuaginta.

Anstelle eines Beispiels für einen Temporalsatz mit der Kombination Aorist & Perfekt wäre auch ein weiterer Beleg einer Konstruktion mit Aorist & Präsens interessant gewesen, dessen Handlung diesmal aber tatsächlich in der Vergangenheit hätte spielen müssen, denn die Erwählung der Frömmigkeit Abrahams (und seiner/s Nachkommen) als Norm für alle Menschen fand zwar ohne Zweifel in der Vergangenheit statt (laut biblischem Zeugnis ca. 2000 Jahre vor Jesus), die Erfüllung dessen aber wurde in die Zukunft verlegt, d.h. der Zeitpunkt vom „Werden Abrahams“ wäre stets aktuell (Präsens).

Dies zu ignorieren ist aber keineswegs eine Besonderheit der ZJ-Übersetzungen! Es ist allen Traditionen zu eigenen, die die Präexistenz-Theologeme (mit ihren die Zeitlichkeit bzw Historizität aufhebenden Aussagen) ablehnen.

… und bereits in Deiner ersten Antwort:

Das Präexistenz-Theologem wird ja von den ZJ abgelehnt. (Falls du mit diesem Theologem nicht vertraut bist, frag zurück).

Die Watchtower-Society vertritt die Hypothese von einer Präexistenz Jesu, dieses himmlische Vorleben allerdings nicht als „Gott“, sondern als „Erzengel Michael“: Ein Entgegenkommen an die mormonischen Lehren.

Gruß
Semsi

Ganz einfach.

wenn ich ehrlich sein soll, müsste ich zugeben, dass ich bei Deinen Ausführungen nicht ganz mitkomme.

Das ist ganz einfach. Du müßtest dich bloß an deine eigene Fragestellung erinnern. Zumal du sie ja hier nochmal explizit wiederholst:

Es ging hier eigentlich um die Konstruktion Aorist & Präsens in einem Temporalsatz mit der Konjunktion πρὶν (bevor) …

Joh 8,58
πρὶν Ἀβραὰμ γενέσθαι ἐγὼ εἰμι.

Das weiß ich. Darauf hab ich dir a.a.O. im hiesigen Thread ausführlichst geantwortet. Und ich betrachte das daher auch als ebendort hinreichend geklärt.

Dann bekamst du von Rolf ein Beispiel für die Temporalfolge

… Kombination Aorist & Futur

Mt 26,34
πρὶν ἀλέκτορα φωνῆσαι, τρὶς ἀπαρνήσῃ με.

und fragtest dann nach

… einem evtl. möglichen Gegenstück mit Aorist & Perfekt

Und darauf ich so:

Da brauchst du nicht weit zu suchen, um eine Konstruktion πριν + Infinitiv Aorist in Tempusfolge mit Perfekt zu finden. Du brauchst nur im selben Text ein paar Kapitel weiterzulesen:
Joh. 14.29:
καὶ νῦν εἴρηκα ( ← Perfekt ) ὑμῖν πρὶν γενέσθαι ( ← Aorist ) …

Jetzt alles klar?

Alles andere war hinreichend diskutiert, meine ich, und gehört dann auch eh nicht mehr ins Fremdsprachenbrett.

Gruß
Metapher

Von der Suche nach etwas Unbekanntem …

… oder: Das große Geheimnis der Watchtower-Society

Das zum Verständnis von Joh 8,58 nicht unwichtige nähere und weitere Umfeld wurde hier nun hinreichend durchleuchtet, auch der innere Aufbau von diesem Bibelvers wäre für einen mit wissenschaftlichem Arbeiten vertrauten Altphilologen keine große Hürde gewesen: Ein Temporalsatz mit der im Evangelium relativ selten verwendeten Konjunktion πριν - „bevor“ am Anfang der Konstruktion, einem darauf folgendem Verb im griechischen Aorist (hier von γινομαι abgeleitet → das bei dem Autor Johannes im Zusammenhang mit dem Patriarchen Abraham nicht auf dessen „Geburt“, d.h. an keine physische Begebenheit in der Vergangenheit verweisende γενεσθαι - „werden“) und einem Verb im Präsens.

Ein nach diesem Schema (Konjunktion + Infinitiv Aorist + Präsens) aufgebauter Satz bzw. Teilsatz soll nun angeblich, ungeachtet dieser v.g. temporalen Vorgaben und seiner spezifischen Inhalte, stets eine Vergangenheit zum Ausdruck bringen (bzw. gebracht haben), d.h. müsste mit Konjunktion + Präteritum + Perfekt übersetzt werden; ich frage mich dabei, wie dann wohl ein Satz konstruiert sein müsste, der eine solche Begebenheit in der Gegenwart zum Ausdruck bringen soll.

Mein Versuch, durch hilfreiche Vorarbeit wenigstens die im theologischen Bereich i.d.R. nicht unbekannte Koine und das byzantinische Griechisch als mögliche Quelle für diesen Nonsens auszuschließen war gescheitert; ich gebe die Hoffnung aber nicht auf!

Ernsthafte Beiträge dazu sind jederzeit willkommen.

Grüße
Zomsie