Guten Morgen!
Ein Blick ins Fernsehprogramm, in irgendwelche Piratenfilmchen, wo der säbelschwingende Held reihenweise Leute umbringt; ein Blick in die Welt Karl Mays, wo Hundertschaften von Pfeilen durchbohrt der Skalp abgeschnitten wird; ein Blick in Grimms Märchen, in Kindergeschichten aller Art, zeigt, daß die Darstellung der Gewalt keineswegs neu ist, sondern nur ihr Gesicht verändert hat.
Kinder, die in diese Märchen- und Filmwelt eintauchen, können unter Alpträumen leiden, Ängste entwickeln. In den meisten Fällen lernen sie, Filmgeschichte und Realität zu unterscheiden. Auch in späteren Lebensjahren kann sich der entsprechend konditionierte Jugendliche und Erwachsene von Film- und Mediendarstellungen ins Irreale ziehen lassen.
Unsere Welt ist voller Grausamkeiten gegenüber der lebenden und fühlenden Kreatur. Manche Fotos von Tierversuchen können auch dem Hartgesottenen Tränen in die Augen treiben, Bilder von Hinrichtungen oder das tatsächliche Erleben bei einem Verkehrsunfall mit zerfetzten Leibern, leeren, blutigen Augenhöhlen und blankgelegten Knochen bringen psychisch schwer Verdauliches. In keiner Überlieferung mittelalterlicher Geschichte und in keinem entsprechenden Museum fehlt Anschauliches zu allerlei Foltermethoden. Christen finden es angemessen, in Schulklassen, an Straßenrändern und an allen erdenklichen Orten einen an Händen und Füßen angenagelten Menschen darzustellen. Wem das alles nicht reicht, dem sei ein Blick in einen Schlachthof empfohlen. Hilfsweise reicht auch das Studium eines Urteils des Verfassungsgerichts, wo dargelegt wird, auf welche Weise man aus rein rituellen Gründen einem Lebewesen die Kehle durchschneiden darf.
Blumige religiöse Geschichten voller Blut und Grausamkeit und deren festspielmäßige Aufführung gehen anstandslos durch. Jeder junge Mann muß und jede junge Frau darf zur Bundeswehr. Dort wird nicht Polonäse geübt, sondern den noch jugendlichen Menschen beigebracht, wie man anderen Menschen auf Befehl Hirn und Eingeweide mit dem Schießeisen zerfetzt. Zu Weihnachten, dem christlichen Fest der Liebe, fehlen in keinem Supermarkt fein säuberlich aufgereiht in Blisterpackungen die Schießprügel und Panzer aus Plastik, damit die lieben Kleinen etwas zum Spielen haben. Vom Erlös kassiert der Fiskus die Umsatzsteuer und beim Gewinn aus diesem Handel ist er mit der Körperschaftssteuer dabei. Auch die Gemeinde wird nicht vergessen. Sie bekommt die Gewerbesteuer aus dem Gewinn, der mit dem Ballerzeuchs erwirtschaftet wurde. Dann ist alles gut. Was wird mit dem Spielzeug wohl gemacht? Liebesspiele? Es sind Gewaltspiele!
Erfurt ist wieder einmal eine sprudelnde Quelle von Patentrezepten. Politiker können mit saurer Trauermine verkünden, wo die Ursache des Übels zu suchen ist. Es folgt eine kurze Liste aus 3 oder 4 Punkten, aber nie fehlt: Das Internet! Wir brauchen - glaubt man den Damen und Herren - eine Kontrolle dieses Mediums. Wir brauchen die Kontrolle, weil von ein paar Millionen Jugendlichen einer ausgerastet ist. Wir brauchen diese Kontrolle, um ein paar Pädophile, die ihrem Drang auch früher schon nachgingen, dieses Medium benutzen. Es läßt sich in der Bevölkerung vermitteln, daß man alles gegen Kinderschänder tun muß und gegen die Wiederholung des Erfurter Vorfalls. Ja, und deshalb müssen wir das Internet kontrollieren. Wie platt müssen die Argumente noch werden, damit wenigstens ein paar Bürger bemerken, wie traurige Anlässe instrumentalisiert werden?.
Der Erfurter Vorfall muß herhalten, um dem schon länger verfolgten Ziel ein Stück näher zu kommen: Kontrolle über ein suspektes Medium, das vorbei an staatlichen Stellen und beamteten Überwachern von ganz alleine funktioniert. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder Bürger wie in diesem Forum Zugang zur Öffentlichkeit hat!?
Die Bochumer Studie kenne ich nicht, kann deren Qualität deshalb nicht beurteilen. Nur so viel: In einer von Grausamkeit durchdrungenen Geschichte und Religion, in einer von Gewalt durchsetzten Realität, ist das Herausnehmen einzelner Gewaltdarstellungen gerade so, als wollte man durch Abschöpfen eines Teelöffels Seewasser aus der Nordsee die nächste Sturmflut verhindern.
Gerade höre ich den Kanzler schwadronieren, daß der Erfurter Vorfall nun entschlossenes Handeln des Staates erforderlich mache. Ich muß nun aufpassen, daß mir angesichts solcher oberflächlichen Dummheit an der Staatsspitze nicht die Sachlichkeit abhanden kommt.
Dem Vernehmen nach war der Erfurter Täter zwar formal volljährig, lebte aber wie viele seiner Altersgenossen noch im Elternhaus. Dort war bis zuletzt nicht bekannt, daß der junge Mann von der Schule verwiesen wurde. Man hatte offenkundig zu wenig Kontakt zueinander, ein isolierter, ratloser junger Mensch ohne Gesprächspartner, mit der Eigenverantwortung überfordert. Das ist das sich zumindest nach außen bietende Bild. Somit ein familiäres Problem, möglicherweise in einem schwierigen Umfeld, aber allemal nichts, was „entschlossenes staatliches Handeln“ erfordert, es sei denn, man verstünde darunter langfristiges Handeln zu Gunsten von Bildung, Jugend und Familie.
Gruß
Wolfgang