Hallo Igeline.
Ich habe das jetzt recht zugespitzt und einfach formuliert, und ich hoffe, verständlich, aber für mich tut sich da eine Lücke auf. Die Lücke zwischen „autoritativer“ Erziehung und „keiner“ Erziehung wohl.
Ja, Du hast mit Deiner gekonnten Zuspitzung genau auf den Punkt getroffen; mal sehen, ob es mir ebenso gut gelingt, ohne allzuviele Umschweife auf das Wesentliche zu kommen.
Für den Einstieg etwas zum historischer Hintergrund der Antiautoritärenerziehungs-Bewegung: Die ging in den 68er Jahren aus vom Internat Summerhill, dessen Konzept von Freuds Erkenntnis inspiriert wurde, welche verheerenden Schäden die Erziehung in der kindlichen Seele anrichten. Auf Grundlage dieser erschütternden Entdeckung, beschlossen die Gründer des Internats, den Versuch zu wagen, auf alle Erziehung vollständig zu verzichten, mit großartigen, heute immer noch jederzeit erkennbaren Erfolgen: Die Kinder fangen an, sich zusehends von den Schäden ihrer familären Erziehung zu erholen, indem sie sich in erstaunlich konstruktiver, rundum lebensbejahender Weise gegenseitig sozialisieren. Und dies betrifft nicht nur das zwischenmenschliche Miteinander (Verständnis haben für die Sorgen anderer, sich einsetzen für die jeweils ein wenig jüngeren, vergleichsweise rat- und hilfloseren Kinder…), sondern genauso die angeborene Wissbegierde auf alles andere Neue, Unbekannte, dem die Kindern in ihrem jungen Leben begegnen. Also alles, was die Gebiete der Künste, naturwissenschaftlichen Forschung, Philosophie, Technik und Psychologie ihnen anzubieten haben zum Lernen, jeweils aufbereitete in altersgerechter Weise. 100 Jahre nach Einstein etwa, gibt es ‚Comiks‘, die schon Kindern im Alter von 8 Jahren die Grundlagen der Relativitätstheorie vermitteln.
So nennt die Naturwissenschaft, um ein Beispiel zu nennen, dasjenige Prinzip, nach dem sich Summerhills Kindergemeinschaft untereinander sozialisiert, „Selbstorganisation“, eine Gesetzmäßigkeit, der nach sich Blumen, Bäume und Ameisenhaufen oder kurz gesagt alle Arten von Lebewesen ihre jeweiligen Gestalten und das dazugehörige Verhalten geben…
Zu dieser Entwicklung kommt es bei Menschenkindern allerdings nur unter der Voraussetzung, dass wenigstens 20 Kinder in möglichst allen Altersstufen dauerhaft (Tag und Nacht) als Gruppe zusammen wohnen, daher kann das Selbstorganisationsprinzip seine Wirkung zwar in einem Internat entfalten - sofern dessen Leitung gewillt ist, auf Eingriffe durch jegliche Erziehung zu verzichten, es stellt jedoch nichts dar, was sich auf die Situation innerhalb der „Familie“ übertragen ließe. Auch nicht auf Kindergärten oder Schulen, in denen die Kinder abgesehen davon, dass man sie sowieso meisst nach Altersstufen trennt (um sie besser „unter Kontrolle“ halten zu können), nur halbtagsweise zusammen bleiben…
Demnach stehen die „Erziehungsberechtigten“ im
Prinzip vor der Wahl zwischen diesen beiden Alternativen:
>> Wer will, dass ‚sein‘ Kind in der Familie aufwächst, der kommt nicht umhin, es seelisch zu schädigen, denn die erwachsene Person muß Sorge tragen, dass es erzogen wird. Andernfalls ‚entwickelt‘ sich das Kind zu einem anpassungsunfähigen, eigenbröttlerischen Egoist, so wie sehr viele derjenigen Kinder, deren Eltern zur „68er“-Generation gehören und die das Summerhillprojekt gründlich mißverstehend das naive Experiment unternahmen, die ‚Konzeption‘ der Null-Erziehung auf die Gegebenheiten innerhalb der Familien oder ihrer Kinderläden zu übertragen…
>> Wer will, dass sein Kind seelisch so gesund bleibt wie es zur Welt kam, und sich weiterhin zu einer emotionell reifen, verantwortungsfähigen Persönlichkeit entwickelt, der muß sich für zweierlei einsetzen: Zunächst dafür, dass das Kind ab ca. seinem 3. Lebensjahr (Erwachen des „Eigenwille“) dauerhaft mit Kindern aller Altersstufen zusammen leben kann, beispielsweise in einer genügend großen, extra angemieteten Wohnung, deren eigentliche Besitzer von jeweils 2 oder dreien der Erwachsenen betreut werden, sie mit Nahrung versorgend usw (vielleicht im „Schichtdienst“, alle 2 Tage das Betreuungsperso-nal wechselnd)… Genauso selbstverständlich ist außerdem der Einsatz dafür, dass die sich aus ihrer Seele heraus selbstorganisierende Kindergruppe nicht von erzieherischen Eingriffen in ihrer naturgemäßen Entwicklung gestört wird…
Jetzt frage ich mich, wie das mit einer Moralerziehung zusammengeht.
Die Kinder, die so frei aufwachsen, wachsen doch in einer künstlichen,
heilen Welt auf, die mit der „Erwachsenen-Welt“ mit seinen Notwendigkeiten
und schlimmen Seiten nicht viel zu tun hat. Wie kann sich da, wenn es nur ums
eigene Wohlergehen geht, das Gewissen entwickeln?
Das Vorangesetze zusammenfassend kann man sagen, dass Kinder, die in jenen zwei völlig verschiedenen Daseins’modellen’ heranwachsen, zwei dementsprechend unvereinbarte Arten von „Gewissen“ (ÜberIch-Inhalte) entwickeln: Die erzogenen Kinder eines, das sich gegen die angeborenen Interessen der Seele / = Freuds ES) richtet, und die selbstorganiserten Kinder eines, dass im Unterschied dazu mit diesen kooperiert, so wie sie während ihrer gesamten Kindheit selbst ausleben und erfahren.
Letzere Kinder haben also weder irgendwelche psychischen Probleme (Minderwertigkeitsgefühle, Neurosen, Depressionen…), noch leiden sie an den dazu ausbrechenden „psycho-somatischen“ Symptomen, mögen sich diese nun autodestruktiv äußern („Schnippeln“ usf.), oder anhand von Gewalt gegen kleinere Kinder oder Haustiere…
Um so mehr lässt sich also erwarten, dass sie Konflikte mit ihrer gesellschaftlichen Umgebung haben, und zwar mit den gut erzogenen, neurotischen Bürgern ebenso wie mit den unerzogenen, egostisch-skrupellosen Eigenbröttlern und Desperados…
Genauso lässt es sich alledrings vorhersagen, dass sie für diese Konflikte eine jeweils angemessene Lösung entwickeln… der Logik ihres „sozial“ selbstorganisierten Lebens nach eine, die nicht wie üblich auf die Vernichtung ‚des Gegners‘ zielt, noch darauf, sich ihm zu unterwerfen, sondern wird sie vernünftiger Weise daraus bestehen, dem Nachbar und lieben Mitmenschen das Angebot einer kostenlosen Therapie zu unterbreiten.
So weit meine Erwägungen zu der von Dir herausgearbeiteten Frage;
ist mein Versuch für Dich ungefähr nachzuvollziehen?
Ich freue mich sehr auf Deine kritischen Anregungen, ggf weitere Fragen, Ergänzungen!