Goethe, Spinoza, Beethoven
Hi London-calling.
„Niemand ist mehr Sklave, als der, der sich für frei hält ohne es zu sein“
Das steht in den „Wahlverwandschaften“, Teil 2, Kapitel 5, „Aus Ottiliens Tagebuch“, eine Passage mit locker aufgereihten Aphorismen, wozu auch der von dir zitierte Spruch gehört.
Wovon bin ich denn laut Goethe versklavt? Doch wohl nicht von mir selbst, denn ich bin ja der Meinung ich sei frei.
Goethe war, wie viele seiner intellektuellen Zeitgenossen, ein ausgeprägter Spinozist, also Anhänger der Lehre Spinozas. Das erklärt den Aphorismus bereits hinreichend, denn für Spinozas gab es keine individuelle Freiheit des Willens. Was der einzelne fühlt, denkt und will, ist für ihn eine Wirkung der Einen Substanz, die S. auch „Gott“ nennt, und die alles hervorbringt und allem immanent ist (Pantheismus). Es gibt in dieser Sicht keine Ziele, die ein Verhalten bestimmen könnten (also keine Teleologie), sondern nur Kausalität. Und die basiert einzig auf „Gott“, der einen Substanz. Bekannt ist die Metapher vom Dreieck, aus der die Winkelsumme mit Notwendigkeit hervorgeht. Analog dazu resultieren alle Taten und Wünsche mit Notwendigkeit aus Spinozas „Gott“.
Kein Ich darf sich also einbilden, Herr in seinem Haus zu sein, es handelt aus dem Unbewussten heraus – so sah es auch Sigmund Freud, der in diesem Punkt ebenfalls unter Spinozas Einfluss stand.
Hier sind zwei Aphorismen, die deinem Zitat im Originaltext vor- und nachgestellt sind:
_Freiwillige Abhängigkeit ist der schönste Zustand, und wie wäre der möglich ohne Liebe.
Es darf sich einer nur für frei erklären, so fühlt er sich den Augenblick als bedingt. Wagt er es, sich für bedingt zu erklären, so fühlt er sich frei._
Bei alldem ist zu berücksichtigen, dass in jenen Zeiten die philosophische Position des Subjektes (Person, Individuum) in höchsten Maße diskutiert wurde, nicht zuletzt im Kontext der politischen Erdbeben (Amerikanische und Französische Revolution) und dem Aufkommen des Menschenrechtsgedankens.
Goethe gehörte aber noch zur progressiven Oldschool, die eine fatalistische Abhängigkeit vom göttlichen Willen akzeptierte, er erkannte also eine Grenze zwischen Subjekt und Gott an. Sein jüngerer Zeitgenosse Beethoven war da ganz anders, der akzeptierte keine Grenze, das war die romantische Newschool, er intendierte nämlich die typisch romantische Verschmelzung des Göttlichen mit dem Subjektiven, seine Sinfonien sind der beredteste Ausdruck dafür. Beethoven war, ganz anders als die Spinozisten, ein Verfechter des freien Willens und der Einheit von Subjekt und „Gott“. Das ganze Gelaber vom absoluten Determinismus musste einen Feuerkopf wie ihm übel anätzen
Und das war auch gut so.
Deshalb konnten die beiden größten Genies ihrer Zeit (neben Hegel)auch nicht so recht miteinander. Was sie einte, war Spinozas Pantheismus, was sie trennte, sein Fatalismus.
Chan