Golo Manns Wallenstein: historisch korrekt?

Hallo Leute,

um nicht völlig zu verblöden, lese ich gerade Golo Manns Wallenstein. Das Buch ist sehr anekdotisch geschrieben und enthält viele Fakten, eingestreut, auch viele Wertungen, nicht immer sauber zu trennen. Die Biographie wird ja auch gerne als Roman apostrophiert.

Als Physiker bin ich in der naturwissenschaftlichen Methodik geschult. Auf dieser Grundlage habe ich den Eindruck gewonnen, dass Golo Mann Wallenstein mit sehr viel Sympathie begegnet und seine Erklärungen Wallensteins Verhaltens allzu oft in Entschuldigungen abgleiten. Seine Missetaten, wie zum Beispiel die Holkiaden, werden relativiert und aus dem allgemeinen Zeitgeist heraus erklärt, die Missetaten seiner Gegner, wie z.B. der Schweden, z.T. ausführlich in ihrer Grausamkeit geschildert. Seine Gegenspieler werden entweder als tumb oder überschlau gezeichnet, das geht bis in die Wortwahl. Bei der Bewertung der Fakten werden mündliche Zeugnisse zugunsten Wallensteins hoch gelobt, schriftliche Zeugnisse, die an den hehren Motiven Wallensteins zweifeln lassen, in ihrer Bedeutung jedoch herabgemindert.

Andererseits bin ich als Physiker weder mit der geisteswissenschaftlichen Methodik noch mit der Sache an sich vertraut, noch habe ich die Zeit, mir ein so fundiertes Bild vom Thema zu machen, als dass ich mit einiger Berechtigung die Darstellung Manns, der sich ja als Historiker lange, intensiv und ausschließlich damit beschäftigt hat, kritisieren könnte. Auch die Wikipediadarstellung Wallensteins bringt mich bezüglich der Bewertung seiner Person nicht wirklich weiter.

Daher wollte ich diejenigen von Euch, die sich mit Wallenstein oder dem dreißigjährigen Krieg vielleicht schon intensiver befasst haben, fragen, ob die Darstellung Golo Manns nach heutigem Stand halbwegs objektiv ist oder, um den problematischen Begriff „objektiv“ zu vermeiden, ob sie dem heutigen Stand historischer Forschung zum Thema entspricht. Ich will mir ja kein falsches Bild machen. Vielleicht hat jemand von Euch ja auch einen (kurzen, ich bin berufstätig) Lesetipp für mich, der auf die Motive der damals Beteiligten eingeht.

Grüße, Thomas

Hallo Thomas,
zunächst einmal - Golo Manns Wallenstein-Biographie ist sauber und sehr detailreich recherchiert, in Hinsicht der Fakten also durchaus „historisch korrekt“. An den dargestellten Fakten gibt es absolut nichts zu bekritteln und diese Fakten werden auch nicht durch frei ‚hinzuerfundene‘ ergänzt, was nun wiederum das Grundmodell des historischen Romans ist. Hier von einem ‚Roman‘ zu sprechen, ist also völlig abwegig - Mann selbst hat lediglich die Forderung aufgestellt, Geschichtsschreibung müsse lesbar sein „_ wie ein Roman_“. Das heisst nun nicht, dass diese Biographie ohne literarischen Ehrgeiz wäre - schon der Untertitel („Sein Leben erzählt von Golo Mann“) verweist auf das erzählerische Moment, wo sich Historiographie und epische Kunst begegnen. Wobei ‚erzählerisch‘ ja nun nicht notwendig ‚fiktiv‘ bedeutet. Das ist nun freilich weder ungewöhnlich noch neu - es hat schon immer Geschichtsschreiber von hohem literarisch/erzählerischem Rang gegeben. Das beginnt schon mit dem Vater der Geschichtsschreibung (Herodot) und findet seinen ersten (und nur von sehr wenigen erreichten) Höhepunkt mit Thukydides. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen und Winston Churchill - aber auch ältere (und immer noch höchst lesenswerte) Autoren wie Friedrich Schiller, Edward Gibbon, Johann Gustav Droysen sowie an Golo Manns Zeitgenossen Emmanuel Le Roy Ladurie, Jacques LeGoff, Barbara Tuchman und Iris Origo. Man hat allerdings Golo Mann - zu recht, wie ich finde - den Vorwurf gemacht, zu weit gegangen zu sein und heute gültige Standards der Geschichtsschreibung zugunsten einer ‚Popularisierung‘ (oder positiver ausgedrückt: ‚Literarisierung‘) verletzt zu haben.

Es ist sicherlich begreiflich, dass Historiographie, wo sie Geschichte darstellt - also Quellen auswählt(!), deutet und interpretiert, statt sie nur zu sammeln und zu edieren - in starkem Maße subjektiv ist und von daher einen grundsätzlich anderen Ansatzpunkt verfolgt als die Naturwissenschaften. ‚Subjektiv‘ darf hier freilich nicht als willkürlich verstanden werden; auch Hermeneutik, das ‚Verstehen‘ (von dem oben erwähnten Gustav Droysen in die geschichtswissenschaftliche Methodik eingeführt), ist durchaus Wissenschaft, wenn auch keine exakte. Mann selbst bemerkt dazu (Plädoyer für die historische Erzählung, in: Theorie und Erzählung in der Geschichte, hg. Kocka / Nipperdey, München 1979): „Keine Theorie gibt uns oder erklärt uns oder entschlüsselt uns die Fülle geschichtlicher Wirklichkeit; man bekommt sie niemals ganz in die Hand, sie ist unerschöpflich; darum muß man sie immer von verschiedenen Seiten angehen, um möglichst viele und weite Gegenden des unbekannten Kontinents zu erkunden.

Es mag nun sein, dass Golo Mann mit seinem ‚Kontinent Wallenstein‘ zu apologetisch umgeht (übrigens durchaus auch mein Eindruck); aber wie schon angedeutet, ist das eine Frage der Interpretation der Fakten und der Einfühlung in die psychologische Dimension geschichtlichen Handelns, wobei letzterer Bereich nun einmal exakten Methoden entzogen ist. Diese psychologische Dimension leuchtet Mann durchaus einfühlsam und nachvollziehbar aus, wobei „nochvollziehbar“ nicht zwangsläufig bedeutet, dass man ihm immer und jederzeit folgen muss. Ein Autor von literarischem Rang zeichnet sich auch in der Geschichtswissenschaft unter anderem dadurch aus, dass er zum Widerspruch herausfordert.

Grundsätzlich gilt bei der Person Wallenstein das Wort eines Älteren und Größeren, an den Mann unverkennbar anknüpft, nämlich Friedrich Schillers. Natürlich nicht des Autors der „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“, sondern der des Wallenstein, wo die Geschichte zum Material ästhethischer Erziehung wird und die Charakterdeutung gegenüber den historischen Fakten in den Vordergrund tritt. Im Prolog schon verweist Schiller auf das faszinierende, aber widersprüchlich-schillernde (pun intended) des wallenstein’schen Charakters:

Auf diesem finstern Zeitgrund malet sich
Ein Unternehmen kühnen Übermuts
Und ein verwegener Charakter ab.
Ihr kennet ihn – den Schöpfer kühner Heere,
Des Lagers Abgott und der Länder Geißel,
Die Stütze und den Schrecken seines Kaisers,
Des Glückes abenteuerlichen Sohn,
Der von der Zeiten Gunst emporgetragen,
Da Ehre höchste Staffeln rasch erstieg,
Und ungesättigt immer weiter strebend,
Der unbezähmten Ehrsucht Opfer fiel.
Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt
Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte

Mann hätte für sein berühmtes Diktum „Die Historie ist eine Kunst, die auf Kenntnissen beruht, und weiter ist sie gar nichts“ (‚Plädoyer für die historische Erzählung‘, a.a.O.) sicher die Zustimmung Schillers gefunden. Allerdings beruht Manns Historie vom Wallenstein eben nicht ausschließlich auf Kenntnissen und deswegen, so vermute ich, hätte Schiller Manns Wallenstein als Bastard empfunden, der vorwiegend die nachteiligen Eigenschaften seiner Eltern als Erbe vereint. Wo sich das suggestive erzählerische Moment mit dem Anspruch historisch exakter Darstellung mischt, ist der Übergang zur Manipulation fließend. Diese mag erzieherischer Absicht entspringen - doch trat diese Absicht bei Schiller unmissverständlich (auch in seinen Geschichtsdramen) im Gewand der Fiktion auf, nicht in dem der Wissenschaft.

Nichtsdestotrotz ist Manns Wallenstein ein hervorragend geschriebenes, spannendes und lehrreiches Buch und steht (wie schon erwähnt) mit seiner Faktendarstellung nicht im Widerspruch zum aktuellen Stand der Wissenschaft. Was nun Deine Nachfrage nach einem Lesetipp, „der auf die Motive der damals Beteiligten eingeht“ angeht, so ist Dir wohl kaum mit einer anderen Charakterdeutung Wallensteins gedient - Du hättest damit ein anderes Urteil, nicht notwendig ein eigenes. Um selbst zu dem zu kommen, was ich oben „Einfühlung in die psychologische Dimension geschichtlichen Handelns“ genannt habe, wäre eine intensive Beschäftigung mit Mentalitätsgeschichte unabdingbar - wobei es meines Wissens keine auf das Mitteleuropa der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts spezialisierte Arbeit gibt. Mit einem „kurzen“ Lesetip kann ich da also leider nicht dienen.

Freundliche Grüße,
Tychiades

Hi
Wie bereits erwähnt, ist der Historische Hintergrund bei Golo Manns wallenstein-Biographie soweit korrekt.
Die Deutung der Beweggründe von Wallenstein ist ein Riesenproblem, da Wallenstein sowohl eine erratische als auch ziemlich megalomane Persönlichkeit war.

Einen Gesamtüberblick über den 30-jährigen Krieg bietet Wedgwood: Der 30-Jährige Krieg
ISBN-13: 978-3517090177 Buch anschauen
(wobei Frau Wedgwood Wallenstein eher negativ sieht)

LG
Mike

Hallo Tychiades,

An den dargestellten Fakten
gibt es absolut nichts zu bekritteln und diese Fakten werden
auch nicht durch frei ‚hinzuerfundene‘ ergänzt, was nun
wiederum das Grundmodell des historischen Romans ist. Hier von
einem ‚Roman‘ zu sprechen, ist also völlig abwegig - Mann
selbst hat lediglich die Forderung aufgestellt,
Geschichtsschreibung müsse lesbar sein „_ wie ein Roman_“.

je nun, so hätte auch ich dies gesehen, würde das Buch nicht in seinem eigenen Vorklapp als „historischer Roman“ vorgestellt - was ich als Unbedarfter zunächst glauben muss. Und ist das Schlechteste nicht, denn menschliche Wahrheiten sind nur selten aus Fakten zu ziehen. So vermittelt doch auch die Kunst Wahrheiten - und vielleicht ehernere als die Wissenschaft - ganz ohne Formeln und Fakten.

Sehe ich mir an, wie intelligente Menschen in diesem Forum Diskussionen über den Nahostkonflikt, einen Konflikt unserer Tage, wohl dokumentiert, führen und so unterschiedliche Sichten auf ein und dieselbe Sache haben, mag ich daran verzweifeln, die Handelnden im dreißigjährigen Krieg verstehen zu wollen. Da muss man dann sicherlich unterscheiden zwischen den Fakten, den Fakten, wie wir sie kennen, den Fakten, wie sie den damals Handelnden im Moment einer Entscheidung bekannt waren und dem Bild der Welt, das diese Menschen sich auf der Grundlage der ihnen bekannten Fakten und ihrer Bewertung machten und das Grundlage ihres Handelns war. Diese innere Repräsentanz der Welt, dieses interne Modell, das ich Wirklichkeit nenne, weil es die Motive für das weitere Handeln und Wirken enthält, ist ein je eigenes für jeden Akteur des dreißigjährigen Krieges. Und so kommt es, dass zweie glauben können, vom jeweils anderen betrogen worden zu sein. Mit Recht?
Um dies zu fassen:

Es ist sicherlich begreiflich, dass Historiographie, wo sie
Geschichte darstellt - also Quellen auswählt(!), deutet und
interpretiert, statt sie nur zu sammeln und zu edieren - in
starkem Maße subjektiv ist und von daher einen grundsätzlich
anderen Ansatzpunkt verfolgt als die Naturwissenschaften.
‚Subjektiv‘ darf hier freilich nicht als willkürlich
verstanden werden; auch Hermeneutik, das ‚Verstehen‘ (von dem
oben erwähnten Gustav Droysen in die
geschichtswissenschaftliche Methodik eingeführt), ist durchaus
Wissenschaft, wenn auch keine exakte. Mann selbst bemerkt dazu
(Plädoyer für die historische Erzählung, in: Theorie und
Erzählung in der Geschichte, hg. Kocka / Nipperdey, München
1979): "Keine Theorie gibt uns oder erklärt uns oder
entschlüsselt uns die Fülle geschichtlicher Wirklichkeit; man
bekommt sie niemals ganz in die Hand, sie ist unerschöpflich;
darum muß man sie immer von verschiedenen Seiten angehen, um
möglichst viele und weite Gegenden des unbekannten Kontinents
zu erkunden.
"

Und darum hat man als Historiker vermutlich keine andere Wahl, als diesen Weg zu gehen. Nur wenn wir versuchen, die innere Wirklichkeit der Akteure zu verstehen, haben wir eine Chance, die geschichtliche Wirklichkeit als Folge der Entscheidungen dieser Akteure zu verstehen. Darum finde ich den Ansatz lobenswert - auch wenn ich nicht vom Fach bin.

Es mag nun sein, dass Golo Mann mit seinem ‚Kontinent
Wallenstein‘ zu apologetisch umgeht (übrigens durchaus auch
mein Eindruck);

Man (sic!) merkt die Absicht und man ist verstimmt.

aber wie schon angedeutet, ist das eine Frage
der Interpretation der Fakten und der Einfühlung in die
psychologische Dimension geschichtlichen Handelns, wobei
letzterer Bereich nun einmal exakten Methoden entzogen ist.
Diese psychologische Dimension leuchtet Mann durchaus
einfühlsam und nachvollziehbar aus, wobei „nochvollziehbar“
nicht zwangsläufig bedeutet, dass man ihm immer und jederzeit
folgen muss. Ein Autor von literarischem Rang zeichnet sich
auch in der Geschichtswissenschaft unter anderem dadurch aus,
dass er zum Widerspruch herausfordert.

Vielleicht beruht meine Enttäuschung darauf, dass ich dies nicht genügend bedacht und mir von Manns Ausführungen letzte Wahrheiten erwartet habe. Hat er mich aber zum Nachdenken und Widerspruch geführt, ist er aber doch recht eigentlich mehr zu loben als zu schelten.

Mann hätte für sein berühmtes Diktum "Die Historie ist eine
Kunst, die auf Kenntnissen beruht, und weiter ist sie gar
nichts
" (‚Plädoyer für die historische Erzählung‘, a.a.O.)
sicher die Zustimmung Schillers gefunden. Allerdings beruht
Manns Historie vom Wallenstein eben nicht ausschließlich auf
Kenntnissen und deswegen, so vermute ich, hätte Schiller Manns
Wallenstein als Bastard empfunden, der vorwiegend die
nachteiligen Eigenschaften seiner Eltern als Erbe vereint.

Nimm meine Aussage zur Kunst oben zusammen mit dem Diktum Manns, so hast Du den Ursprung für den Bastard. Interessanterweise hatte ich bei meiner Aussage zur Kunst diesen Abschnitt noch gar nicht durchdacht - sollte ich doch etwas gelernt haben? Oder hat das Diktum Manns nach dem ersten Lesen in meinem Unterbewußtsein weitergearbeitet, bis ich begann, die Antwort zu schreiben? Und wenn ich dies nicht weiß, wie kann Mann dergleichen über Wallenstein mit Sicherheit wissen? Diese Anmerkung nun eher zur Verteidigung Manns.

Nichtsdestotrotz ist Manns Wallenstein ein hervorragend
geschriebenes, spannendes und lehrreiches Buch und steht (wie
schon erwähnt) mit seiner Faktendarstellung nicht im
Widerspruch zum aktuellen Stand der Wissenschaft. Was nun
Deine Nachfrage nach einem Lesetipp, „der auf die Motive der
damals Beteiligten eingeht“ angeht, so ist Dir wohl kaum mit
einer anderen Charakterdeutung Wallensteins gedient - Du
hättest damit ein anderes Urteil, nicht notwendig ein eigenes.
Um selbst zu dem zu kommen, was ich oben „Einfühlung in die
psychologische Dimension geschichtlichen Handelns“ genannt
habe, wäre eine intensive Beschäftigung mit
Mentalitätsgeschichte unabdingbar - wobei es meines Wissens
keine auf das Mitteleuropa der ersten Hälfte des 17.
Jahrhunderts spezialisierte Arbeit gibt. Mit einem „kurzen“
Lesetip kann ich da also leider nicht dienen.

Ich bin ein unpolitischer Mensch, vielleicht auch a-sozial: ich verstehe nicht mal die Motive meiner Mitmenschen. Vermutlich bin ich nicht umsonst Physiker geworden. Eine intensivere Beschäftigung mit der Mentalität der Menschen des 17. Jahrhunderts erscheint mir, offen gesagt, aus Zeit- und Mentalitätsgründen illusorisch. Was schade ist, denn ich vertrete in meinem privaten Umfeld die Ansicht, es sei mitunter ganz nützlich, auch die Zeitgeschichte von einem historischen Standpunkt zu betrachten, um manches zu relativieren. Weiter halte ich die Geschichtswissenschaften für wichtig, um uns in unserer heutigen Zeit Rat und Anleitung zu geben. Denn des Menschen Natur, allen technischen Veränderungen zum Trotz, ändert sich nicht (weshalb uns auch die großen Dramen immer noch was zu sagen haben, als „Romeo und Julia“ oder als „West Side Story“). Oder, cum grano salis: Scheiße schwimmt immer oben.

Und sind die Dinge heut meist nicht so fein gesponnen wie noch zu Zeiten Wallensteins. Bei vielen politischen Entscheidungen, die mir auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, reicht meist ein simples „cui bono?“ um die Dinge und Motive ins rechte Licht zu rücken. Und diese einfache Frage ist zum ersten Mal nachweislich vor 2092 Jahren öffentlich gestellt worden.

Grüße, Thomas

Hallo Thomas,

Das Buch ist sehr anekdotisch geschrieben und
enthält viele Fakten, eingestreut, auch viele Wertungen, nicht
immer sauber zu trennen.

Kurze Anmerkung von einem, der Manns Wallenstein nicht bzw. nur bruchstückhaft vot längerer Zeit gelesen hat.
Golo Mann scheint den „anekdotischen“ Stil zu mögen. So ist auch seine „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ geschrieben - so ein bisschen im Plauderton. Aber durchaus auch fakten- und kenntnisreich!

Gruss
Laika

Faktuale Erzählung
Hi.

Das Buch ist sehr anekdotisch geschrieben und
enthält viele Fakten, eingestreut, auch viele Wertungen, nicht
immer sauber zu trennen. Die Biographie wird ja auch gerne als
Roman apostrophiert.

Was sie aber, wie Ralf schon ausführlich herausstellte, nicht ist. Sie ist der Typ der „faktualen Erzählung“ im Unterschied zur „fiktionalen Erzählung“, siehe Wiki ´Erzähltheorie´:

Es ist schwierig, eine klare Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Texten zu finden. Einerseits wird in vielen faktualen Textsorten mit Techniken gearbeitet, die als charakteristisch für fiktionale Literatur gelten (z. B. in Reportagen, Geschichtsschreibung). Andererseits beziehen sich die meisten fiktionalen Texte auf Orte, Zeiten und Sachverhalte der Wirklichkeit, d.h. die Fiktion besteht fast ausschließlich aus fiktionalisiertem Realem.

Mann selbst bestätigt auf Seite 9 seines Werks, dass er „erzählt“:

Ausnahmen gibt es, die gibt es immer, und wir werden im Laufe unserer Erzählungen noch ein paar von ihnen kennenlernen.

Seine Missetaten, wie zum Beispiel
die Holkiaden, werden relativiert und aus dem allgemeinen
Zeitgeist heraus erklärt, die Missetaten seiner Gegner, wie
z.B. der Schweden, z.T. ausführlich in ihrer Grausamkeit
geschildert.

Einen gewissen Subjektivitätsgrad haben solche Darstellungen immer, auch wenn sie sich um historische Präzision bemühen. Die Geschichtswissenschaft fällt nämlich in den Bereich der Geisteswissenschaften, die seit Dilthey die Gegenkategorie zu den Naturwissenschaften bilden. Letztere beruhen auf objektiver Exaktheit der Daten, erstere implizieren, über die äußerliche Faktenerhebung hinaus, auch hermeneutische Prozesse der Interpretation. Zum Beispiel ist schon die Auswahl von Daten und Ereignissen ein interpretativer Akt, wie auch die Auswahl und Einordnung handelnder Figuren. Allein aus einem Buch, sei es auch so hochkarätig wie das von Mann, kannst du keine zuverlässigen Einsichten gewinnen. Solche Lektüre sollte immer ergänzt werden durch die parallele Lektüre weiterer einschlägiger Literatur.

Ich selbst habe gerade Robert Harris´ sehr gut recherchierten historischen Roman „Titan“ hinter mir, der Ciceros Konsulatszeit und die folgenden zwei Jahre aus der Sicht seines Dieners Tiro schildert. Auch hier war es hilfreich und nötig, andere Quellen heranzuziehen, um ein möglichst genaues Bild über Cicero und andere geschilderte Figuren, z.B. Caesar, zu gewinnen, da Harris, wohl unvermeidlich, gewisse subjektive Wertungen vornimmt.

Um ein Feeling für das Innenleben der Menschen der Wallenstein-Zeit zu bekommen, sollte man einiges über die damaligen Sitten und das religiöse Empfinden wissen. Einblicke gibt z.B. Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ (geschrieben um 1930), die als Geniestreich gilt.

Mann selbst macht eine wichtige Andeutung, wenn er auf S. 8-9 schreibt:

Man legte wenig Gewicht auf das, was wir Gefühle nennen, um die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert.

Einen ersten Einblick kann der Wiki-Artikel „Frühe Neuzeit“ geben, Abschnitt ´Mentalität´:

_Mentalität

Das Leben des Einzelmenschen in der Frühen Neuzeit war viel stärker als in der Gegenwart eingebettet in ein umfassendes Kollektiv, das sein Handeln und seine Identität maßgeblich bestimmte. Dieses Kollektiv war zusammengesetzt aus der direkten Verwandtschaft, der Hausgemeinschaft, Nachbarn, der Dorfgemeinschaft, Freunden und Handwerksvereinigungen. Das Individuum bestand nur im Kontext mit diesen Einflussgrößen, das Überleben in schweren Zeiten war nur durch die pragmatische Verbindung mit anderen möglich. So ist Solidarität bzw. Geselligkeit das grundlegende Prinzip frühneuzeitlicher Lebensformen. Die wichtigen engen Kontakte und das Zusammenleben verliefen nicht kontinuierlich harmonisch und daher bildeten sich genaue Umgangsregeln, die das weitgehende Funktionieren der Gemeinschaft gewährleisten sollten. Die Missachtung dieser Regeln führte zu Sanktion und Ausgrenzung. Der Integriertheit in die Gemeinschaft sowie dem Ansehen und der Position, die man einnahm, lag der Begriff der Ehre zugrunde. In kaum einer anderen Gesellschaft spielte diese eine so große Rolle wie in der Frühen Neuzeit. Ziel jeglichen Handelns war es, diesem Ideal gerecht zu werden und ein ehrenvolles Leben zu führen. Dieses Ansinnen besaß einen höheren Stellenwert als die Anhäufung von Vermögen, Macht oder das Überleben allein. Ehrenhaftigkeit war ein Maßstab, der sich in zahlreichen Facetten des Lebens und Alltags in der Frühen Neuzeit widerspiegelt, aber explizit nur in Konfliktsituationen hervortrat und Solidarität und Ausgrenzung schuf. Wer sich ehrenwidrig verhielt, wurde sanktioniert und auch von der Gemeinschaft ausgeschlossen._

Chan

Hallo Ch’an,

Die Biographie wird ja auch gerne als

Roman apostrophiert.

Was sie aber, wie Ralf schon ausführlich herausstellte, nicht
ist.

da ich nicht vom Fach bin, muss ich mich zunächst an das halten, was ich lese. Und im Klappentext des Buches, in dem Buch und Autor vorgestellt werden, auf Seite 2 der TB-Ausgabe, steht:

„Sein Handeln, Zögern und Scheitern, sein Charakter werden einfühlend erforscht und hinreißend dargestellt - der Gelehrte, der schon 1934 einen ersten Wallenstein-Essay veröffentlichte, geht dem Erzähler stets voraus, prüft Dokumente und Daten, erschließt unbekannte Quellen, zitiert und vergleicht, deckt Wirklichkeit und Wahrheit auf, durchmißt und veranschaulicht den Raum seiner Geschichte. Das Ergebnis ist ein historischer Roman, authentisch und groß.“ (Golo Mann: Wallenstein - Sein Leben erzählt von Golo Mann, Fischer Taschenbuch Verlag, 7. Auflage des Taschenbuches, 2006)

Was kann ich anders, als dies erst einmal für bare Münze zu nehmen?

Einen gewissen Subjektivitätsgrad haben solche Darstellungen
immer, auch wenn sie sich um historische Präzision bemühen.
Die Geschichtswissenschaft fällt nämlich in den Bereich der
Geisteswissenschaften, die seit Dilthey die Gegenkategorie zu
den Naturwissenschaften bilden. Letztere beruhen auf
objektiver Exaktheit der Daten, erstere implizieren, über die
äußerliche Faktenerhebung hinaus, auch hermeneutische Prozesse
der Interpretation. Zum Beispiel ist schon die Auswahl von
Daten und Ereignissen ein interpretativer Akt, wie auch die
Auswahl und Einordnung handelnder Figuren.

Es ging mir ja gerade nicht um die Korrektheit der Fakten, vielleicht war da der Titel meiner Frage irreführend. Ich würde Mann nicht unterstellen, dass er Fakten fälscht oder wichtige Fakten unterschlägt. Weil ich, wie Tychiades so schön formulierte, „apologetische Tendenzen“ in der Bewertung und Interpretation gesehen habe, ging es mir um eine Einschätzung Berufenerer (es soll hier ja, habe ich gerüchteweise gehört, Experten geben), ob dem so sei, ob mein Eindruck richtig ist und ob die aktuelle Wallenstein-Forschung das Handeln Wallensteins und seine Motive so sieht wie Mann - das Buch ist ja immerhin schon älter.

Um ein Feeling für das Innenleben der Menschen der
Wallenstein-Zeit zu bekommen, sollte man einiges über die
damaligen Sitten und das religiöse Empfinden wissen. Einblicke
gibt z.B. Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“
(geschrieben um 1930), die als Geniestreich gilt.

Seufz, da will man einfach mal was für seine Bildung tun und dann kommt ein Rattenschwanz hinterher. Gut, lese ich das auch noch, ich will ja nicht dumm sterben.

Mann selbst macht eine wichtige Andeutung, wenn er auf S. 8-9
schreibt:
Man legte wenig Gewicht auf das, was wir Gefühle nennen, um
die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert.

Wobei ich den Eindruck habe, dass es eine historische Sicht der Dinge nicht gibt. Im Mittelalter hat man bei der Darstellung biblischer Szenen die Protagonisten mittelalterlich bekleidet und auch wir heutigen, denn das ist es, was Mann mit „wir“ meint, sehen die Vergangenheit nur vor der Folie unserer Kultur und unseres Weltbildes. Cum grano salis: wir sehen nur die Differenzen und nicht das Ding an sich. Und dass Du dich mal nicht täuschst: Das gilt auch und besonders für die Naturwissenschaften. Während aber Geisteswissenschaftler für diese Problematik ein gewißes Bewusstsein haben, ist hier bei den Naturwissenschaftlern ein blinder Fleck. Oder wie erklärst Du dir die „wissenschaftlichen“ Rassenlehren? Wie erklärst Du dir, dass von Krankheiten immer in Metaphern von Krieg gesprochen wird? Es geht um die Wechselwirkung zweier unterschiedlicher Organismen, z.B. Virus und Mensch. Und der Tod eines Menschen ist doch wohl nicht die „böse Absicht“ des Virus. Man könnte alternativ auch sagen, es handele sich um eine Fehlanpassung des Virus, denn dem Virus ginge es doch besser, ließe er den Menschen am Leben. Aber das nur am Rande.

Einen ersten Einblick kann der Wiki-Artikel „Frühe Neuzeit“
geben, Abschnitt ´Mentalität´:
Mentalität
Das Leben des Einzelmenschen in der Frühen Neuzeit war viel
stärker als in der Gegenwart eingebettet in ein umfassendes
Kollektiv, das sein Handeln und seine Identität maßgeblich
bestimmte.

Auch hier wieder: ein Vergleich. Kein Blick auf das Ding an sich. Wenn es das überhaupt gibt. Aber: Immerhin macht uns dieser Vergleich die Relativität und „Beliebigkeit“ unserer Gesellschaft klar. Es könnte auch ganz anders sein. Mit welchen Folgen? Man weiß es nicht. Aber wenn uns ein Politiker erzählen will, dass nun dies und dies unabdingbar nötig sei, hilft ein Blick auf die Geschichte dabei, diese Zwangsrationalität als das zu begreifen, was sie ist: ein rhetorischer Trick.

Aber ich schweife ab. Danke jedenfalls für die Tipps.

Grüße, Thomas

Faktuale Erzählung vs. historischer Roman
Hi Thomas.

da ich nicht vom Fach bin, muss ich mich zunächst an das
halten, was ich lese. Und im Klappentext des Buches, in dem
Buch und Autor vorgestellt werden, auf Seite 2 der TB-Ausgabe,
steht:

„(…) Das Ergebnis
ist ein historischer Roman, authentisch und groß.“ (Golo Mann:
Wallenstein - Sein Leben erzählt von Golo Mann, Fischer
Taschenbuch Verlag, 7. Auflage des Taschenbuches, 2006)
Was kann ich anders, als dies erst einmal für bare Münze zu
nehmen?

Klar. Aber die Formulierung des Verlags ist irreführend. Die Kriterien eines „historischen Romans“ erfüllt Manns Werk nicht. Es gibt zwei Typen eines solchen Romans:

  1. Eine fiktionale Erzählung vor dem Hintergrund einer historisch korrekt dargestellten Epoche.

Das ist „Wallenstein“ auf keinen Fall.

  1. Eine auf Historizität basierende Erzählung mit vorwiegend historischen Figuren, wobei die Handlung mit erfundenen Details ausgeschmückt wird, welche die historischen Fakten nicht entstellen. Das kann z.B. durch Dialoge geschehen oder auch durch szenische Schilderungen, von denen man sagen kann: Ja, so könnte es gewesen sein. Ein historischer Roman dieses Typs respektiert das Skelett der historischen Fakten und füllt es mit erdachten Dialogen und Szenen an, um das Skelett zum Leben zu erwecken. Harris´ Cicero-Romane sind gelungene Beispiele dafür.

Auch dieser Romantyp entspricht nicht dem „Wallenstein“ Manns. Das liegt nicht an der Abwesenheit von Dialogen (Yourcenars Hadrian-Roman „Ich zähmte die Wolfin“ kommt ohne Dialoge aus), aber an der Abwesenheit detaillierter szenischer Darstellungen, wie sie romantypisch sind, und die Mann nicht liefern kann, ohne sie sich in der Phantasie auszumalen. Was bleibt, ist eine minutiöse Darstellung historischer Fakten auf einer un-szenischen Meta-Ebene. Natürlich gibt es Stellen, die romanhaft wirken - Einblicke in das Innenleben Wallensteins z.B. zu Beginn des letzten Kapitels -, oder gleich davor, am Schluss des vorletzten Kapitels, eine Schilderung „grinsender und tuschelnder“ Diener und eines Kurfürsten mit „blaurotem Gesicht“, aber das sind minimale Ausrutscher in das Romangenre und kein Beleg dafür, dass es sich um einen Roman handelt.

Auf dem Klappentext der mir zugänglichen Ausgabe von 1979 sprechen die zitierten Kommentare nur von einem „Meisterwerk der Geschichtsschreibung“, einem „Werk der historischen Forschung“ u.ä. Hervorgehoben wird Manns Fähigkeit, die Atmosphäre jener Zeit zu vermitteln, Geschichte „zum Sprechen zu bringen“ usw. Vielleicht hat das den Verlag dazu verleitet, dem Werk etwas Romanhaftes anzudichten.

und ob die aktuelle Wallenstein-Forschung das Handeln
Wallensteins und seine Motive so sieht wie Mann - das Buch ist
ja immerhin schon älter.

Hinweise kann folgender Link zum Thema „aktuelle Forschung über Wallenstein“ geben:

http://www.fassbaender.com/pdf/wallenstein_leseprobe…

Zitat:

Wenn man über eine Gestalt der Weltgeschichte schreibt, über die Schiller und Ranke, Srbik und Pekař, Golo Mann und Hellmut Diwald, zuletzt das Duo Polišensky und Kollmann große, ja monumentale Darstellungen geliefert haben, wäre es mehr als vermessen, dem geneigten Leser allzu viel Neues zu versprechen. (…) Doch gerade in ihrem heimischen Kontext, hat die Wallenstein-Forschung von den politischen Konjunkturen der Gegenwart profitiert, die seit 1989 zu einer Renaissance der böhmischen Geschichte geführt hat, mit Historikern, die ihre Befreiung vom Joch der marxistisch leninistischen Orthodoxie genießen, ohne deshalb notwendigerweise den modischen Torheiten ihrer westlichen Kollegen anheim zu fallen.

Einblicke gibt z.B. Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“
(geschrieben um 1930), die als Geniestreich gilt.

Seufz, da will man einfach mal was für seine Bildung tun und
dann kommt ein Rattenschwanz hinterher.

So ist das nun mal :smile:

Wobei ich den Eindruck habe, dass es eine historische Sicht
der Dinge nicht gibt. Im Mittelalter hat man bei der
Darstellung biblischer Szenen die Protagonisten
mittelalterlich bekleidet und auch wir heutigen, denn das ist
es, was Mann mit „wir“ meint, sehen die Vergangenheit nur vor
der Folie unserer Kultur und unseres Weltbildes. Cum grano
salis: wir sehen nur die Differenzen und nicht das Ding an
sich.

Was unvermeidbar ist. Mit diesem Problem schlägt sich hermeneutische Forschung immer herum. Gadamer sprach vom „hermeneutischen Zirkel“: Man hat ein ungenaues Gesamtbild, dessen Details verbesserungsbedürftig sind. Also erforscht man die Details, um das Gesamtbild aussagekräftiger zu machen. Mit dem veränderten Gesamtbild und einem damit verbesserten Gesamtverständnis geht man wieder an die Erforschung von Details heran usw. usf. Ein emphatisches Talent und eine Begabung zur Phantasie sind für den Forscher dabei eine große Hilfe. Ich denke, man kann gute Annäherungswerte erzielen, wenn man sich Mühe gibt. Das setzt aber voraus, dass man möglichst viel Material sichtet.

Und dass Du dich mal nicht täuschst: Das gilt auch und
besonders für die Naturwissenschaften. Während aber
Geisteswissenschaftler für diese Problematik ein gewißes
Bewusstsein haben, ist hier bei den Naturwissenschaftlern ein
blinder Fleck.

Das weiß ich auch, aber die Baustelle wollte ich hier nicht aufreißen. Grundsätzlich gilt Diltheys Einteilung jedenfalls immer noch.

Chan