Hallo Tychiades,
An den dargestellten Fakten
gibt es absolut nichts zu bekritteln und diese Fakten werden
auch nicht durch frei ‚hinzuerfundene‘ ergänzt, was nun
wiederum das Grundmodell des historischen Romans ist. Hier von
einem ‚Roman‘ zu sprechen, ist also völlig abwegig - Mann
selbst hat lediglich die Forderung aufgestellt,
Geschichtsschreibung müsse lesbar sein „_ wie ein Roman_“.
je nun, so hätte auch ich dies gesehen, würde das Buch nicht in seinem eigenen Vorklapp als „historischer Roman“ vorgestellt - was ich als Unbedarfter zunächst glauben muss. Und ist das Schlechteste nicht, denn menschliche Wahrheiten sind nur selten aus Fakten zu ziehen. So vermittelt doch auch die Kunst Wahrheiten - und vielleicht ehernere als die Wissenschaft - ganz ohne Formeln und Fakten.
Sehe ich mir an, wie intelligente Menschen in diesem Forum Diskussionen über den Nahostkonflikt, einen Konflikt unserer Tage, wohl dokumentiert, führen und so unterschiedliche Sichten auf ein und dieselbe Sache haben, mag ich daran verzweifeln, die Handelnden im dreißigjährigen Krieg verstehen zu wollen. Da muss man dann sicherlich unterscheiden zwischen den Fakten, den Fakten, wie wir sie kennen, den Fakten, wie sie den damals Handelnden im Moment einer Entscheidung bekannt waren und dem Bild der Welt, das diese Menschen sich auf der Grundlage der ihnen bekannten Fakten und ihrer Bewertung machten und das Grundlage ihres Handelns war. Diese innere Repräsentanz der Welt, dieses interne Modell, das ich Wirklichkeit nenne, weil es die Motive für das weitere Handeln und Wirken enthält, ist ein je eigenes für jeden Akteur des dreißigjährigen Krieges. Und so kommt es, dass zweie glauben können, vom jeweils anderen betrogen worden zu sein. Mit Recht?
Um dies zu fassen:
Es ist sicherlich begreiflich, dass Historiographie, wo sie
Geschichte darstellt - also Quellen auswählt(!), deutet und
interpretiert, statt sie nur zu sammeln und zu edieren - in
starkem Maße subjektiv ist und von daher einen grundsätzlich
anderen Ansatzpunkt verfolgt als die Naturwissenschaften.
‚Subjektiv‘ darf hier freilich nicht als willkürlich
verstanden werden; auch Hermeneutik, das ‚Verstehen‘ (von dem
oben erwähnten Gustav Droysen in die
geschichtswissenschaftliche Methodik eingeführt), ist durchaus
Wissenschaft, wenn auch keine exakte. Mann selbst bemerkt dazu
(Plädoyer für die historische Erzählung, in: Theorie und
Erzählung in der Geschichte, hg. Kocka / Nipperdey, München
1979): "Keine Theorie gibt uns oder erklärt uns oder
entschlüsselt uns die Fülle geschichtlicher Wirklichkeit; man
bekommt sie niemals ganz in die Hand, sie ist unerschöpflich;
darum muß man sie immer von verschiedenen Seiten angehen, um
möglichst viele und weite Gegenden des unbekannten Kontinents
zu erkunden. "
Und darum hat man als Historiker vermutlich keine andere Wahl, als diesen Weg zu gehen. Nur wenn wir versuchen, die innere Wirklichkeit der Akteure zu verstehen, haben wir eine Chance, die geschichtliche Wirklichkeit als Folge der Entscheidungen dieser Akteure zu verstehen. Darum finde ich den Ansatz lobenswert - auch wenn ich nicht vom Fach bin.
Es mag nun sein, dass Golo Mann mit seinem ‚Kontinent
Wallenstein‘ zu apologetisch umgeht (übrigens durchaus auch
mein Eindruck);
Man (sic!) merkt die Absicht und man ist verstimmt.
aber wie schon angedeutet, ist das eine Frage
der Interpretation der Fakten und der Einfühlung in die
psychologische Dimension geschichtlichen Handelns, wobei
letzterer Bereich nun einmal exakten Methoden entzogen ist.
Diese psychologische Dimension leuchtet Mann durchaus
einfühlsam und nachvollziehbar aus, wobei „nochvollziehbar“
nicht zwangsläufig bedeutet, dass man ihm immer und jederzeit
folgen muss. Ein Autor von literarischem Rang zeichnet sich
auch in der Geschichtswissenschaft unter anderem dadurch aus,
dass er zum Widerspruch herausfordert.
Vielleicht beruht meine Enttäuschung darauf, dass ich dies nicht genügend bedacht und mir von Manns Ausführungen letzte Wahrheiten erwartet habe. Hat er mich aber zum Nachdenken und Widerspruch geführt, ist er aber doch recht eigentlich mehr zu loben als zu schelten.
Mann hätte für sein berühmtes Diktum "Die Historie ist eine
Kunst, die auf Kenntnissen beruht, und weiter ist sie gar
nichts " (‚Plädoyer für die historische Erzählung‘, a.a.O.)
sicher die Zustimmung Schillers gefunden. Allerdings beruht
Manns Historie vom Wallenstein eben nicht ausschließlich auf
Kenntnissen und deswegen, so vermute ich, hätte Schiller Manns
Wallenstein als Bastard empfunden, der vorwiegend die
nachteiligen Eigenschaften seiner Eltern als Erbe vereint.
Nimm meine Aussage zur Kunst oben zusammen mit dem Diktum Manns, so hast Du den Ursprung für den Bastard. Interessanterweise hatte ich bei meiner Aussage zur Kunst diesen Abschnitt noch gar nicht durchdacht - sollte ich doch etwas gelernt haben? Oder hat das Diktum Manns nach dem ersten Lesen in meinem Unterbewußtsein weitergearbeitet, bis ich begann, die Antwort zu schreiben? Und wenn ich dies nicht weiß, wie kann Mann dergleichen über Wallenstein mit Sicherheit wissen? Diese Anmerkung nun eher zur Verteidigung Manns.
Nichtsdestotrotz ist Manns Wallenstein ein hervorragend
geschriebenes, spannendes und lehrreiches Buch und steht (wie
schon erwähnt) mit seiner Faktendarstellung nicht im
Widerspruch zum aktuellen Stand der Wissenschaft. Was nun
Deine Nachfrage nach einem Lesetipp, „der auf die Motive der
damals Beteiligten eingeht“ angeht, so ist Dir wohl kaum mit
einer anderen Charakterdeutung Wallensteins gedient - Du
hättest damit ein anderes Urteil, nicht notwendig ein eigenes.
Um selbst zu dem zu kommen, was ich oben „Einfühlung in die
psychologische Dimension geschichtlichen Handelns“ genannt
habe, wäre eine intensive Beschäftigung mit
Mentalitätsgeschichte unabdingbar - wobei es meines Wissens
keine auf das Mitteleuropa der ersten Hälfte des 17.
Jahrhunderts spezialisierte Arbeit gibt. Mit einem „kurzen“
Lesetip kann ich da also leider nicht dienen.
Ich bin ein unpolitischer Mensch, vielleicht auch a-sozial: ich verstehe nicht mal die Motive meiner Mitmenschen. Vermutlich bin ich nicht umsonst Physiker geworden. Eine intensivere Beschäftigung mit der Mentalität der Menschen des 17. Jahrhunderts erscheint mir, offen gesagt, aus Zeit- und Mentalitätsgründen illusorisch. Was schade ist, denn ich vertrete in meinem privaten Umfeld die Ansicht, es sei mitunter ganz nützlich, auch die Zeitgeschichte von einem historischen Standpunkt zu betrachten, um manches zu relativieren. Weiter halte ich die Geschichtswissenschaften für wichtig, um uns in unserer heutigen Zeit Rat und Anleitung zu geben. Denn des Menschen Natur, allen technischen Veränderungen zum Trotz, ändert sich nicht (weshalb uns auch die großen Dramen immer noch was zu sagen haben, als „Romeo und Julia“ oder als „West Side Story“). Oder, cum grano salis: Scheiße schwimmt immer oben.
Und sind die Dinge heut meist nicht so fein gesponnen wie noch zu Zeiten Wallensteins. Bei vielen politischen Entscheidungen, die mir auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, reicht meist ein simples „cui bono?“ um die Dinge und Motive ins rechte Licht zu rücken. Und diese einfache Frage ist zum ersten Mal nachweislich vor 2092 Jahren öffentlich gestellt worden.
Grüße, Thomas