Günter Grass, Literatur-Nobelpreisträger,
hat den folgenden Beitrag exklusiv für die Deutsche Presseagentur (dpa)
geschrieben. Er wurde in den Badischen Neuesten Nachrichten vom 17. Januar
2003 dokumentiert wie folgt:
Das vergebliche Warnen vor drohender Kriegsgefahr gerinnt mittlerweile zur
Routine; und dennoch gilt weiterhin zählebig, was Matthias Claudius zu
seiner Zeit reimte:
„'s ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede Du drein!
's ist leider Krieg und ich begehre,
Nicht schuld dran zu sein!“
Viele Ausrufezeichen stützen die erste Strophe dieses Gedichtes, dem die
Vergeblichkeit seiner Warnung Dauer garantiert hat. Deshalb, weil es so
viele Schlachten überdauert hat, setze ich es an den Anfang meiner Warnung -
„Und rede Du darein!“ -, die als Dreinrede, wie ich befürchte, überhört
werden wird.
Krieg droht. Wieder einmal droht Krieg. Oder wird nur mit Krieg gedroht,
damit es nicht zum Krieg kommt? Bedeutet das einschränkende Wort „nur“, daß
der seit Wochen auf der Arabischen Halbinsel und im Roten Meer inszenierte
Aufmarsch nordamerikanischer und englischer Truppen und Flottenverbände, der
die Medien mit Bildern militärischer Überlegenheit füttert, eine bloße
Drohgebärde ist, die schließlich - sobald der eine von zwei Dutzend weltweit
herrschenden Diktatoren sich ins Exil verkrümelt hat oder wünschenswert tot
ist - als friedenssichernde Machtdemonstration verbucht und abgeblasen
werden kann?
Wohl kaum. Dieser drohende Krieg ist gewollt. In planenden Köpfen, auf den
Börsen aller Kontinente, in wie vordatierten Fernsehprogrammen findet er
bereits statt. Der Feind als Zielobjekt ist erkannt, benannt und eignet
sich, neben anderen noch zu erkennenden und benennenden Feinden auf Vorrat,
für die Beschwörung einer Gefahr, die alle Bedenken nivelliert. Wir kennen
die Machart, nach der man sich einen Feind, sollte er fehlen, erfindet.
Bekannt ist gleichfalls jene bildgesättigte Spielart des Krieges, nach der
zielgenau daneben getroffen wird. Geläufig sind uns die Wörter für Schäden
und Verluste an Menschenleben, die als unvermeidbar hinzunehmen sind. Es ist
uns üblich geworden, daß nur die relativ wenigen Toten der herrschenden
Weltmacht gezählt und betrauert werden, während die Masse der toten Feinde
samt deren Frauen und Kindern ungezählt bleibt und keiner Trauer wert ist.
Also warten wir auf den Wiederholungsfall. Diesmal sollen neue
Raketensysteme noch genauer danebentreffen. Ein uns als Bildauswahl
vertrauter Krieg droht. Weil wir seine vom detaillierten Schrecken
gesäuberte Bilderflut kennen und auch die Fernsehrechte an den uns
bekannten Sender der drei abkürzenden Buchstaben vergeben sind, erwarten wir
eine Fortsetzung des Krieges als Seifenoper, unterbrochen nur von Werbespots
für friedliche Konsumenten. Am Rande geht es zurzeit allenfalls darum, wer
beim schon stattfindenden Krieg lautstark oder halbherzig mitmacht oder nur
ein bißchen dabei sein mag, wie die Deutschen, denen zwangsläufig das
Kriegführen vergangen ist oder sein sollte.
Gegen wen wird dieser Krieg, der so tut, als drohe er nur, geführt? Es
heißt: Gegen einen schrecklichen Diktator. Aber Saddam Hussein war, wie
andere Diktatoren auch, einst Waffenbruder der demokratischen Weltmacht und
ihrer Verbündeten. Stellvertretend - und mit Hilfe des Westens
hochgerüstet - führte der Irak acht Jahre lang Krieg gegen den Iran, weil im
Nachbarland des Diktators ein Diktator herrschte, der dazumal Feind Nummer
eins war.
Aber, heißt es weiter, Saddam Hussein verfügt - was nicht bewiesen ist -
mittlerweile über Massenvernichtungsmittel. Das sagt der Westen, der - was
zu beweisen wäre -über Massenvernichtungsmittel verfügt. Zudem wird
versprochen: Nach dem Sieg über den Diktator und sein System soll im Irak
die Demokratie eingeführt werden. Doch die dem Diktator benachbarten Länder
Saudi-Arabien und Kuweit, die dem Westen verbündet sind und ihm als
militärische Aufmarschbasis dienen, werden gleichfalls diktatorisch
beherrscht. Sollen diese Länder Ziel der nächsten demokratiefördernden
Kriege sein?
Ich weiß, diese Fragen sind müßig; die Arroganz der Weltmacht gibt Antwort
auf jede. Doch jedermann kann wissen oder ahnen, daß es ums Öl geht. Oder
genauer: Es geht wiederum ums Öl. Das Gespinst der Heuchelei, mit dem die
zuletzt verbliebene Großmacht und der Chor ihrer Verbündeten ihre Interessen
zu verdecken pflegen, ist im Laufe der Zeit so verschlissen, daß sich das
Herrschaftsgefüge nackt zeigt; schamlos stellt es sich dar und
gemeingefährlich in seiner Hybris. Der gegenwärtige Präsident der USA gibt
dieser Gemeingefährlichkeit Ausdruck.
Ich weiß nicht, ob die Vereinten Nationen standhaft genug sind, dem
geballten Machtwillen der Vereinigten Staaten von Amerika zu widerstehen.
Meine Erfahrung sagt mir, daß diesem gewollten Krieg weitere Kriege aus
gleichem Antrieb folgen werden. Ich hoffe, daß die Bürger und die Regierung
meines Landes unter Beweis stellen werden, daß wir Deutschen aus
selbstverschuldeten Kriegen gelernt haben und deshalb Nein sagen zu dem
fortwirkenden Wahnsinn, Krieg genannt.
Was sollt’ ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?
Diese Frage stellt die zweite Strophe des Gedichtes „Kriegslied“ von
Matthias Claudius. Eine Frage, die wir im Rückblick auf unsere Kriege und
deren „Erschlagne“ bis heute nicht gültig beantwortet haben. Jener ferne,
drohende Krieg, der bereits stattfindet, der nie aufgehört hat, stellt sie
uns abermals.