Habeck statt Baerbock: Macht das noch Sinn?

Servus,

die taz hat vor kurzem einen Artikel veröffentlicht, in dem ganz offen gefordert wird, dass Habeck statt Baerbock als Spitzenkandidat in die Wahl ziehen sollte:

Drei Gründe werden angeführt:

Erstens: Anders als die SPD mit Martin Schulz vor vier Jahren haben die Grünen mit Habeck eine herausragende Alternative. Hätte Baerbock als Frau entsprechend den grünen Statuten nicht das erste Zugriffsrecht gehabt, wäre ohnehin er Kanzlerkandidat der Grünen geworden. Der Baerbock-Zug müsste also nicht entgleisen, man kann ihn auch einfach anhalten.

Zweitens: Es ist immer klar gewesen, dass Habecks Reichweite weit über das grüne Milieu hinausgeht, er also auch Wäh­le­r*in­nen gewinnen kann, die bisher nicht grün gewählt haben. Das zeigen seit langem nicht nur die allgemein zugänglichen Umfragen, sondern auch detaillierte Befragungen, die die Grünen selbst in Auftrag gegeben haben. Es sind noch zweieinhalb Monate bis zur Bundestagswahl. Einfach wäre es nicht und trotzdem könnte die Zeit reichen, um das Ruder noch halbwegs herumzureißen.

Drittens: Habeck hat alles, woran es bei Baerbock mangelt. Er hat Wahlen gewonnen, bringt Regierungserfahrung mit, kann frei und ohne ständige Versprecher reden und hat auch noch seine Bücher selbst geschrieben. Vor allem aber verfügt er über das wichtigste Gut bei einer Wahl: Glaubwürdigkeit. Aus feministischer Sicht ist es bedauerlich, dass Baerbock gescheitert ist. Für die Sache der Frauen bedeutet es einen Rückschlag.

Ich persönlich weiß viel zu wenig über beide, um mir hier ein Urteil zu erlauben. Die drei Punkte klingen für mich schlüssig, aber ich kann mich nicht erinnern, dass so kurz vor der Wahl mal ein Spitzenkandidat ausgewechselt wurde. Kann das funktionieren? Oder wäre dann einfach Habeck an der Reihe mit ‚Enthüllungen‘ und die Grünen wären dann noch tiefer in der Patsche als jetzt?

Ich werde wohl wieder bei den Nichtwählern antreten.

Der Grund ist, dass sämtliche Parteien sich nur kurz vor der Wahl beim Bürger melden, also Stände auf Marktplätzen, Werbematerial im Briefkasten.

Und die Parolen lassen sich an Dümmlichkeit / Austauschbarkeit kaum unterbieten, habe extra die Flyer von der letzten Kommunalwahl aufbewahrt. Wer erkennt die Parteien?

a) „Gemeinsam für unser (Ortsname)“

b) „Stadt. Land. Schlau.“ und „Leben. Denken. Machen“

c) „Zuversichtlich eine nachhaltige und grüne Stadt gestalten!“

d) „Zukunft anpacken“

e) „Bürgerwillen durchsetzen mit Augenmaß sachbezogen handeln“

Unterstellt e), dass bisher der Wille des Adels durchgesetzt wurde?

Habeck hat aus meiner Sicht deutlich weniger persönliche Angriffsflächen (Kriegstreiberei; manche wissenslücke, seine großkotzige Art, Thüringen und Bayern für undemokratische Länder zu halten, weil sie nicht grün genug sind) als Baerbock.

Sein großes Problem wäre halt, dass er nur die ‚Zweitbesetzung‘ wäre, und noch dazu nur der, der von ‚Kühen und Schweinen her kommt‘.

Die Belastung Baerbock bliebe den Grünen also durchaus erhalten, und Probleme, andere strunznaive Grün*innen-Aussagen auszugraben, besteht für diejenigen (Sozialen) Medien nicht, die das tun wollen.

Leitmedien wie die Welt, der Focus und die BILD werden beispielsweise ein paar mal fragen, wieso ein Mensch Kanzler eines Landes werden will, mit dem er nach eigenen Aussagen noch nie etwas anzufangen wusste.

Es ist der Vorteil der Grünen, dass sie frisch von außen kommen können und nicht groß an Fehlern im Amt gemessen werden können (weil sie, wie auch immer, den superspießigen Kretschmann und die linksradikalen Berliner Grünen auslagern können)
Zugleich ist das halt auch ihr Nachteil, dass sich deshalb der Wahlkampf gegen sie eher auf die jeweiligen Personen und deren Naivitäten richtet.

Einen richtigen Sachwahlkampf wird es mE nicht geben, obwohl ich sehr dafür wäre, die Grünen in der Sache hart anzupacken, aber dafür hätte die CDU sich nicht so stark ‚vergrünen‘ (Atomausstieg, Klimapolitik, Flüchtlinge 2015 usw.) dürfen.

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So wenig finde ich das nicht…

Ich frag mich aber, was das für ein Signal an die Wähler wäre, wenn die Kanzlerkanditatin kurz vor der Wahl ersetzt wird wegen - ja wegen was eigentlich? Die paar Sachen?

Dazu kommt, dass man dann das Gefühl hätte, dass man Frauen ihre Chance nicht gönnen will sondern Gründe sucht, sie gegen einen Mann auszutauschen, so als wenn ein Kind eine schwierige Aufgabe beginnt und dann ein Erwachsener diese zu Ende führt.

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Das triffts exakt für mein Empfinden.
Ein Kind hat sich übernommen und ein Erwachsener soll es nun möglicherweise ausbügeln.

Sagt natürlich viel über eine Partei aus, die auf solche Art für „Kinder an die Macht“ steht.

Mit dem Geschlecht hat das wenig zu tun.
So wenig ich eine Göring-Eckardt mag oder eine Renate Künast, aber ‚Kinder‘ sind die sicher nicht.

Und es ist auch nicht meine Bosheit Baerbock gegenüber, dass die halbe deutsche Welt Annalena, Annalena plärrt.
Kein Mensch würde Göring-Eckardt oder Künast auf ihre Vornamen reduzieren.
Das Gefühl, dass die Baerbock nicht richtig ernst zu nehmen ist als wirklich erwachsen gewordene Person ist ganz offenbar ein kollektives, auch innerhalb der Grünen selbst, wie z.B. hier:

Mit Annalena in den Wahlkampf
‚Annalena kann Kanzlerin‘

https://gruene-rlp.de/2021/04/19/mit-annalena-in-einen-starken-gruenen-bundestagswahlkampf/

Dass Kanditaten mit Vornamen genannt werden hat eher damit zu tun, dass man eine Nähe zum Wahlvolk vorgaukeln möchte, das wurde schon bei etlichen Wahlkämpfen mit den verschiedensten Kanditaten getan - aber auch mit Personen, die man öffentlich negativ darstellen wollte, wie z. B. Saddam Hussein, der fast immer nur mit Vornamen medial erwähnt wurde. Ist also eine Gradwanderung, ob die Kalkulation der Grünen und der grün-affinen Medien in diesem Fall aufgeht zeigt sich im September.

Das natürlich auch, aber bei Baerbock war das für mein Empfinden schon besonders viel Vorname.
Ich will aber nicht ausschließen, dass mich mein Empfinden trügt.

Fragst du jetzt wieder das Forum um seine Meinung und hältst uns dann vor, wir hätten keine Belege für unsere Behauptungen?:rofl:
Ein Austausch kommt beim Wähler schlecht an. Das wäre das Eingeständnis des Versagens. Insbesondere Baerbock wäre danach karrieremäßig erledigt, da sie nach so einer unehrenhaften Absetzung kaum mehr unter Beweis stellen dürfen wird, wie sie „echte Krisen“ in einer Machtposition meistern würde.
Angreifbar wäre sicher auch Haveck, aber vermutlich nicht für seine Bücher und Kinderbücher. Ich denke trotzdem, dass er im Vergleich zu Baerbock zu schwach gewesen wäre. Die angeschlagenen Grünen werden sich daher um ihre Favoritin scharen und - wenn möglich - versuchen, von ihr weiteren scharfen Gegenwind abzuhalten.