Hi.
Wenn sich eine Mehrheit per Konsensbildung auf einen bestimmten Realitätsbegriff einigt, bedeutet das nicht automatisch, dass dieser Begriff absolut wahr ist, denn er könnte jederzeit falsifiziert bzw. durch bessere Argumente.
Siehst Du das nicht zu positivistisch? Das setzt voraus, dass es eine absolute Wahrheit gibt, oder? Auch die Wahrheiten der Wissenschaft sind durch Konsens erzeugt.
Nein, eine absolute Wahrheit wird eben gerade nicht vorausgesetzt, da wissenschaftliche Aussagen immer nur solange als wahr angesehen werden, bis sie widerlegt sind bzw. andere, überzeugendere Aussagen an ihre Stelle treten. Dass eine Aussage ´wahr´ ist, heißt einfach nur, dass die für sie sprechenden Argumente (Begründungen) in den Augen des überwiegenden Teils der Wissenschaftsgemeinde überzeugend sind und nicht von anderen Argumenten verdrängt werden. Das ist das Gegenteil von Positivismus.
Wissenschaft wird aber auch von Menschen gemacht und daher möchte ich im Wahrheitsdiskurs keine Dichotomie zwischen „alltäglich“ und „wissenschaftlich“ aufmachen.
Eine strenge Dichotomie behauptet auch keiner. In beiden Bereichen gelten die Geltungsansprüche (in der Wissenschaft vor allem der Wahrheitsanspruch). Zwar sind die Methoden der Begründung von Wahrheitsbehauptungen unterschiedlich, aber nur was den Feinheitsgrad betrifft. Die Wissenschaft fordert ein viel strengeres Maß an exakter Begründung und hat daher eine komplexere Methodik als der alltägliche Diskurs. In ´Erkenntnis und Interesse´, S. 153, formuliert Habermas den Sinn wissenschaftlicher Aktivität so: Sie dient der „Stabilisierung von Meinungen, der Eliminierung von Ungewissheiten und der Gewinnung unproblematischer Überzeugungen“. Diese Auffassung hat Habermas von Charles S. Peirce übernommen, dem amerikanischen Pionier des Pragmatismus Ende des 19. Jahrhunderts.
Ach so, conclusio: Daher halte ich dafür, dass es keine absolute Wahrheit oder Realität gibt und der beste Ersatz intersubjektive Schnittmengen subjektiver Wirklichkeiten sind und die Habermas’sche Kommunikationstheorie eine Handlungsanweisung zur Generierung solcher Schnittmengen ist, dass es also eine Art innerer Kongruenz gibt, wie z.B. zwischen Matrizenmechanik und Wellenmechanik oder den verschienenen Varianten der String-Theorie.
Intersubjektivität als Schnittmenge von Subjektivität zu definieren, ist meines Erachtens problematisch. Habermas macht keinen entscheidenden Unterschied zwischen Intersubjektivität und Objektivität - letzteres bedeutet für ihn: intersubjektiv geteilt. Ein Beispiel von mir: Dass der Mond nachts am Himmel steht, ist keine subjektive Erfahrung, sondern eine objektive in dem Sinne, dass andere Subjekte diese Erfahrung problemlos teilen (der Mond ist für alle Beobachter das gleiche Objekt). Gewisse Empfindungen oder Phantasien aber, die im Subjekt bei der Betrachtung des Mondes aufkommen, sind subjektive Erfahrungen, da sie einzig dem Subjekt zugehören. „Objektiv“ bedeutet aber nicht: absolut wahr, da alle beteiligten Subjekte gemeinsame kognitive Strukturen aufweisen, die das Objekt - konstruktivistisch gesprochen - ´konstruieren´ (aber kein Habermas´scher Term). Für einen entschiedenen Gegner der Korrespondenztheorie (scholastisch: adaequatio rei ad intellectum) bedeutet Objektivität natürlich nur die Übereinstimmung empirischer Daten in den Beobachtungsakten mehrerer Subjekte, nicht aber Übereinstimmung zwischen diesen Daten und der ´Wirklichkeit´.
Ich poste bei der Gelegenheit einen älteren Text von mir zu diesem Thema. Die Fußnoten zu den Zitaten sind mir verlorengegangen, sie könnten hier ohnehin nicht wiedergegeben werden.
+++
_Zu einer pragmatistischen Auffassung von Kognition angeregt wurde Habermas durch die Überlegungen von Ch.S. Peirce, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gegen die Einseitigkeiten eines objektivistischen Positivismus gerichtete Wissenschaftsphilosophie entwickelte, welche die positivistische Perspektive auf das Gewissheitsproblem beträchtlich verschiebt. Der pragmatisch orientierte Naturwissenschaftler kennt, nach Peirce, statt definitiv erschlossener Gewissheiten nur vorläufige Stationen auf dem unüberschaubar langen Weg zur endgültigen Erkenntnis eines Realobjekts. Träger des eigentlichen Forschungsprozesses ist ohnehin die Gemeinschaft der Wissenschaftler. Aufgrund der begrenzten Lebenszeit einzelner Wissenschaftler kann Wissen nur von Generation zu Generation akkumuliert werden, wobei es ständig der Kontrolle und der Revision seitens der gesamten Forschergemeinschaft ausgesetzt bleibt. Was der Forschungsprozess dabei anzielt, ist nicht die Anhäufung von Wissen per se, sondern das Lösen von lebenspraktischen Problemen. „Erkenntnis“ aus pragmatischer Sicht besteht insofern im Erwerb von zweckmäßigen Handlungsregeln und damit verbundener Handlungsbereitschaft, also aktualisierbaren wissenschaftlichen und technischen Methoden, die im Kontext der Lebenspraxis zufriedenstellende Resultate zeitigen. Peirce nennt diese Form der „Erkenntnis“ nicht, wie die Positivisten, Wissen, sondern Überzeugung: solange die erworbenen Methoden ihren Zweck erfüllen, besteht kein Grund, sie in Zweifel zu ziehen; der Konsens der Forschergemeinschaft und die Bewährung der Methoden an der Praxis bieten ein zweifaches Kriterium für die Haltbarkeit, d.h. im Sinne Peirce’ die „Wahrheit“, von Überzeugungen.
Das Vertrauen Peirce’ in die vollständige Erkennbarkeit des wissenschaftlichen Objekts „in the long run“ teilt heute kaum noch ein Naturwissenschaftler und kein Philosoph mehr. Dieser wie andere Aspekte seiner Philosophie darf zu den Akten der Ideengeschichte gelegt werden. Seine Einsicht in den pragmatischen Rahmen von naturwissenschaftlicher Forschung sollte aber unbedingt festgehalten werden. „Peirce hat gezeigt“, so Habermas, „dass die Anwendung theoretischer Sätze auf die Wirklichkeit nur innerhalb eines transzendentalen Rahmens möglich ist, der die Erfahrung in bestimmter Weise präformiert.“ Der Modus, in dem die Subjekte für gewöhnlich das, was Marx die „objektive Natur“ nennt, wahrnehmen, schematisiert diesen Bereich nach unbewusst wirksamen transzendentalen Prinzipien - die Natur ist kein Faktum, sondern ein Konstrukt.
(…)
Erkenntnisinteressen sind somit Grenzbegriffe, die auf Aspekte hinweisen, welche sich aus dem Gesamtfeld der kulturellen Praxis als fundamentale Bedingungen kulturellen Wachstums herausfiltern lassen. Es wurde zu Beginn dieses Abschnitts bereits angedeutet, dass die gesellschaftliche Arbeit der Allgemeinfall und die empirisch-analytische Forschung der Sonderfall eines Naturbezugs ist, der die ‘objektive Natur’ schematisch auf den Nenner technischer Verfügbarkeit zu bringen trachtet. Die spezifische Differenz zwischen beiden Bereichen wird durch den wissenschaftlichen Theoriebegriff markiert: „Wohl lässt sich die Konstituierung wissenschaftlicher Objektbereiche gewissermaßen als eine Fortsetzung der Objektivationen begreifen, die wir schon in der Lebenspraxis vornehmen. Aber der mit Wissenschaft genuin erhobene ‘Objektivitäts’-Anspruch stützt sich auf jene … Virtualisierung des Erfahrungs- und Entscheidungsdrucks, die uns erst die diskursive Prüfung hypothetischer Geltungsansprüche und die Kumulation begründeten Wissens, d.h. Theoriebildung ermöglicht.“ Im Unterschied zur Alltagspraxis bezieht sich die analytische Wissenschaft auf methodologische Grundsätze, die Erfahrung und streng logische Analysen verbinden. Zugleich intendieren wissenschaftliche Aussagen das Allgemeine, das Universale, das in der komplexen Vielfalt des Realen stets wirksam ist. Hypothesenbildungen, die Adern des wissenschaftlichen Denkens, zielen auf Voraussagbarkeit und und damit Verfügbarkeit von Ereignissen im Bereich „objektiver Natur“; selektive Beobachtungen und Experimente unterstützen dieses Unterfangen auf der empirischen Ebene. Äußerungen innerhalb der Alltagspraxis sind im Vergleich dazu oft vage, unsystematisch und von individuellen Kontexten mehr oder weniger eingefärbt. Dennoch sind die Denkmodi der alltäglichen technischen Praxis innerhalb des Produktionsprozesses die Urform des wissenschaftlichen Diskurses. In diesem kristallisieren sich weitgehend formalisiert die inneren logischen Strukturen eines technischen Lernprozesses, der sich auf der Ebene des gesellschaftlichen Produktionsprozesses kontinuierlich manifestiert. Wissenschaftliche Forschung hat, da sie nicht anders als die ökonomische Produktivität grundsätzlich im Dienst der Gattungsreproduktion steht, somit eine pragmatische Ausrichtung - sie konstituiert ihren Gegenstandsbereich eingewoben in Bezüge des gesamtgesellschaftlichen Lebenszusammenhangs. Das kognitive Interesse am Gegenstandsbereich der „objektiven Natur“ ist transzendentale Bedingung für den evolutionären Prozess der Menschengattung; die Konstituierung dieses Gegenstandsbereichs erfolgt auschließlich im Kontext technischer Verfügbarkeit. Dabei ist Verfügbarkeit durchaus umfassend zu verstehen: auch die Sterne am Firmament können als Orientierungspunkte im Dienst der Navigation stehen, gleichwohl weit davon entfernt, als Realobjekte verfügbar zu sein. Auf diese Weise ist die Konstituierung „objektiver Natur“ gleichbedeutend mit der Verwandlung nicht-menschlicher Natur in ein Arsenal funktionaler Objekte und Ereignisse. Berücksichtigt man diesen Zusammenhang nicht, so kann daraus ein Weltverständnis resultieren, das die naturwissenschaftlichen Erkenntnisschemata verabsolutiert und als alleingültigen Modus missversteht, in dem die Welt begriffen werden kann. Die früheren Positivisten waren in hohem Maße diesem Fehler verfallen. Dieses Problem stellt sich aber nicht nur auf der Ebene professioneller Wissenschaft: dass Propositionen „Wahrheit an sich“ transportieren bzw. abbilden können - was ja, neben dem Reduktionismus des Messbarkeitsdogmas, der objektivistische Fehlschluss vieler Wissenschaftler ist -, ist eine Vorannahme, die die kommunikative Praxis der Alltagssubjekte wie ein roter Faden durchzieht, ohne in der Regel jemals thematisiert zu werden._