AW:
Sei gegrüßt.
Gut, unter dieser Prämisse sehe ich die ganzen Vorsorgedinge
ein. Was jedoch m.E. nicht geht, ist der Zwang, sich
solchen Untersuchungen zu unterziehen, auch gegen den
ausdrücklichen Willen der Eltern.
Warum nicht?
Du hast sicher schon von folgendem Fall gehört. Das passiert vor einigen Jahren.
Mutter bringt Kind im Krankenhaus zur Welt; Eltern verweigern eine Reihe von Impfungen; Baby erkrankt; Baby steckt andere Babys an; eines der anderen Babys stirbt. Einsicht Null.
Wenn es sich um Gesundheit und Impfschutz dreht, ist Schluß mit Elternwille. Es wird heutzutage gerne so dargestellt, als ob die Eltern grundsätzlich den Durchblick besäßen und in allen Situationen weise und mit einem gigantischen Maße an Ratio salomonische Urteile träfen.
Ich beobachte das Gegenteil; viele Eltern sind zu dämlich oder zu desinteressiert, und erliegen der Einbildung, nur weil in irgendeinem Gesetz hierzulande der Elternwille so stark geschützt ist, wäre der Elternwille kongruent mit Vernunft, Verstand und Mündigkeit.
Stattdessen wirkt alles vielmehr wie ein Widersprechen, um des Querschießens Willen.
Bei der Gesundheit und dem gesundheitlichen Schutz der Bevölkerung halte ich die Beachtung des Elternwillens für nicht sinnvoll.
Im Allgemeinen, das gebe ich zu, klingt das durchweg positiv,
wenn man als Voraussetzung annimmt, dass die Eltern sich mit
der Prophylaxe nicht hinreichend auskennen.
Das klingt auch dann positiv, wenn die Eltern das können.
Der Staat ist kein diffuser, mafiöser Gegenspieler; das Volk ist nicht der weiße Spieler und der Staat ist nich der schwarze Gegenspieler am Schachbrett. Der Staat sind wir. Und warum soll ein abstraktes gesellschaftliches Ideal wie „Gesundheit“ nicht im großen Stil durchgesetzt werden?
Glücklicherweise bin ich nicht erkrankt.
Sowas kann Dir heute eher passieren als zu DDR-Zeiten. Denke eine Sekunde an die Pharmakonzerne und was wöchentlich an fragwürdigen Vorgängen und Korruption bei der Arzneizulassung ausgegraben werden.
Gut, ich bin wohl wirklich indoktriniert worden, obwohl ich in
den neuen Bundesländern aufwuchs
Wer parteilich formuliert, muß sich den Schuh auch anziehen.
Wenn Du die ermüdende politische Karte spielen möchtest, laß Dir wenigstens was Neues einfallen.
Hier spielten vor allem die persönlichen schlechten
Erfahrungen eine Rolle, die meine Familie in der DDR in jedem
Lebensbereich gesammelt hat.
Das ist kein Grund, nach meinen neutralen Ausführungen mit der politischen Keule zu schlagen. Von mir wirst Du hier niemals politische oder ideologische Dinge hören; mir sind die Strukturen und Ideen dahinter wichtig. Und die lassen sich entideologisieren. Wenn Du das zwanzig Jahre später noch immer nich sachlich und nüchtern sehen kannst, tut es mir herzlich leid.
Gegen den Zentralismus nimmt mich z.B. ein, dass auch die
Studienbewerbungen von der Schule (Klassenlehrer?
Schulleiter?) abgeschickt werden mussten.
Das ist Unsinn. Beziehungsweise: Begehe nicht den üblichen Fehler und erörtere die DDR als statisches Gebilde. Das Bildungssystem hat sich in seinen Gepflogenheiten oft geändert, und mit der Absetzung Walter Ulbrichts ging die übermäßige Belastung des Unterrichts mit politischen und ideologischen Sachen erst so richtig los.
Das gab es zu meiner Zeit bereits, war aber erträglich. Es fanden sich genügend Räume, um sich der Geschichte passabel entziehen zu können, ohne negativ aufzufallen.
Aber wenn ich an meine Kinder denke; die vormilitärische Ausbildung, der Wehrunterricht, die NVA-Zeit zwischen Abitur und Studium, die immer länger wurde; das Gesülze in Staatsbürgerkunde. Das schmeckte uns gar nicht.
Zu meiner Zeit jedenfalls mußte ich meine Bewerbung abschicken und die Planstellenzuweisung war unter Ulbricht flexibler als unter Honecker. Meine Kinder bekamen Schreiben, wo genau ein Beruf/ Studiengang festgelegt worden war. Ich durfte im offenen Gespräch drei Berufe gekoppelt an drei Studienfächer aussuchen plus einen Beruf aus einer längeren List für die Berufsausbildung während EOS.
ich kenne kein zentralistisches System mit
demokratischer Kontrolle
Und was der Bauer nicht kennt, frißt er nicht? Oder wie?
Frankreich ist als Staat alles in allem ziemlich zentralistisch organisiert. Sind die Franzosen jetzt schlechte Menschen oder nicht demokratisch?
In einem Fall wie dem eben geschilderten könnte
man den Rechtsweg einschlagen, aber verliert sicher ein Jahr,
bevor man sein Studium beginnen kann.
Du tust gerade so, als hättest Du im jetzigen System besseren und schnelleren Zugang zu solchen Entscheidungen.
Welche Demokratische Instanz die Effizienz eines Impfstoffes
überprüfen könnte, ist mir auch nicht klar. Informationen
verschleiern kann auch die Demokratie.
Das sind Töne.
Was denn nun; Demokratie oder keine? Wir wollten 1989 Demokratie. Daß wir nicht für den Kapitalismus sondern für einen reformierten Sozialismus auf die Straße gegangen sind, ist eine andere Geschichte.
Und was wir dann bekommen haben, weil die repräsentative Demokratie den Bürgern die gestalterische Macht entzogen hat, ist ebenfalls eine andere Geschichte.
Wie gesagt: Zentralismus ist ein Organisationsansatz für Systeme. Emotionalisierte einzelne Gegenbeispiele sind keine Argumente; ich werde auch nicht schwermütig, wenn ich über dezentrale Ansätze rede.
Was ist denn schlimm daran, wenn man sich selbst um die
medizinische Prophylaxe kümmern muss?
Was ist denn schlimm daran, wenn sich eine moderne Gesellschaft ein Gesundheitswesen leistet, was nicht nur die Lebensqualität aller Bürger sichert, unabhängig von ihrer Einsicht und ihrem trotzigen Verhalten gegen objektive Zwänge, sondern dadurch sogar viel Geld sparen kann?
Natürlich. Ist es denn aber in einer Demokratie möglich,
Schulen zu Nachmittagsangeboten zu zwingen?
Hier ist es sogar möglich, daß gegen meinen ausdrücklichen Willen Firmen meine Konsuminformationen systematisch sammeln und anonym für gutes Geld weitergeben.
Oh Überraschung: Die Stasi hat es nicht erfunden.
Warum sollten Schulen nicht gezwungen werden, für alle Kinder ein facettenreiches, professionelles Spektrum an Nachmittagsbetreuung zu bieten?
Nochmal: Die Schule ist der beste Platz, denn nur dort sind die Fachleute (Lehrer, Erzieher) vorhanden. Die Frage ist: Will man die Tagesschule zur Pflicht für alle Kinder machen?
In der DDR war es freiwillig.
Wenn ich mir allerdings den Zustand der Gesellschaft anschaue, die ständgesellschaftliche Auflösung der Bevölkerung, die exponentiell steigende Armut und Unfähigkeit zur Erziehung, die Einwirkungen der Wohlhabenden und der Wirtschaft – diese Risse und dieses Fehlverhalten vieler Menschen kann eigentlich nur eine Pflichttagesschule lösen.
halbherzige Nachmittagsangebote der Schulen
Halbherzig ist es, weil viele Westdeutschen es nicht einsehen und sich die alten Länder mit der Sache auf der Ebene maximaler Dummheit und Unfähigkeit auseinandersetzen.
Selbstverständlich ist es notwendig, Arbeitsgemeinschaften usw. professionell aufzuziehen.
dass das kostenlose Angebot solcher Aktivitäten den
wirtschaftlichen Kollaps der DDR zumindest gefördert hat.
Nicht bezüglich des Schulsystems. Honecker hat die Wirtschaft insgesamt mit dem Ansatz „Einheit von Wirtschaft und Sozialpolitik“ überfordert. Da die BRD aber bekanntermaßen sehr reich ist, ist die DDR gar kein Maßstab.
Aber die Alternative besteht für mich nicht im Angebot durch die
Eltern sondern in dezentralen außerschulischen Angeboten.
Daß Du Dich da nicht täuschst. Die Debatte läuft immer auf das Spannungsverhältnis staatliche Tagesschule gegen Eltern hinaus.
Dezentrale außerschulische Angebote gab es außerdem früher auch.
Der Punkt ist die intellektuelle Förderung; die moderne Schule sollte das Zentrum gesellschaftlichen Lebens sein. Eine Sichtweise, mit der andere Länder keine Berührungsangst haben. Und wenn ich schon die geballte Expertise engagierter und hervorragend gebildeter (allgemeingebildeter) Lehrer an einem Ort konzentriere, kann ich das logisch Fortführen in Arbeitsgemeinschaften, Interessenszirkeln usw. die Dinge anbieten, die keine Familie und keine dezentrale außerschulische Betreuung bieten kann.
Nicht dass ich dieses Angebot überhaupt als „Abschiebung“
bezeichnen würde, schließlich lässt sich kein Kind zum […]
Cellounterricht zwingen
Wie bitte? Da kennst Du die deutschen Eltern aber schlecht.
Mir ging es um den argumentativen Ansatz: Es wird gerne das Gefühl erzeugt, daß Kinderbetreuung, Nachmittagsbetreuung usw. ein Abschieben der Kinder sei. Wo ist dann der Unterschied, wenn die Eltern ihre Kinder nach der Halbtagsschule in irgendwelche privaten Freizeitangeboten stecken?
Richtig, der Unterschied ist: Die Eltern beruhigen ihr Gewissen und stärken ihre Hasch-mich-ich-bin-der-Frühling-Einbildung, sie erzögen ihre Kinder oder sie übten die Kontrolle aus.
Die Wahrscheinlichkeit, sich mit so
jemandem zu verstehen, ist ungleich höher als in einer Schule,
wo man entweder aufgrund der räumlichen Nähe zum Elternhaus
oder der besonderen Begabung in einem Schulfach landete.
Und was für einen Vorteil es haben soll, wenn die Lehrer da
sind, ist mir auch unbegreiflich.
Klingt konfus. Deine Durchmischungsvorstellungen in der Gesellschaft sind lange überholt. Die Schichten grenzen sich inzwischen ab, wo es nur geht. Davon sind weder Sportvereine noch Musikschulen geschützt.
Und was Du gegen die Lehrer vorbringst, klingt reichlich unreif und schülerzentriert. Nicht vergessen: Es war freiwillig, und wenn Dir ein Lehrer nicht paßte, hast Du mit der AG aufgehört.
Meine Lehrer waren meistens nett und es waren geachtete Leute.
Für das System ergeben sich weitere Vorteile: Die Lehrer sind länger mit den Schülern zusammen, so daß die objektiven Bedingungen für die Bewertung von Verhalten und Fachleistungen steigen.
Die Lehrer bekommen außerdem ein umfangreicheres Bild von ihren Schülern, erlangen belastbare Eindrücke über Verhalten und Charakter und mutieren eben nicht zu den technokratischen Beamten, die dann auf Grund von einer Wochenstunden Unterricht irgendwelche Urteile fällen und sich sonst einen Dreck für die Kinder interessieren.
Das gesellschaftliche Leben fand damals eben nicht mit
Rauchen, Saufen und Kiffen an der Bushaltestelle statt. Keine
entgleisenden Zusammenrottungen, die sich anziehen und
aufführen wie die letzten Affen aus dem Urwald und lautstark
die ganze Straße unterhalten wollen.
Wäre dies im Osten so ohne Weiteres möglich gewesen, dann hätte es
solche Zusammenrottungen ebenfalls gegeben.
Das halte ich für eine falsche Behauptung.
Uns wäre so ein Geaffe nie in den Sinn gekommen. Wir wußten uns besser zu benehmen, und mit unserer gemeinsamen Zeit Sinnvolleres anzufangen.
Diese schließen sich ja nicht zusammen, weil man keine anderen
Interessen hätte, sondern weil man einfach mal wild sein möchte.
Daß ich nicht lache. Da sieht und hört man tagtäglich anderes.
Nun ja, im besten Fall ergibt es keinen Unterschied; im
schlimmsten hat der Zentralismus auch in einer Demokratie
negative Auswirkungen, weil Einer über den Schüler nach seinem
Gutdünken bestimmen kann.
Daß Du immer wieder mit diesem Unfug anfängst. Niemand bestimmt über andere. Wie oft wurde jetzt gesagt, daß die Betreuung freiwillig war bzw. sein könnte. Ich verstehe nicht, was für Ungeheuer Dir durch den Kopf schießen, wenn Du das Wort Zentralismus hörst. Und ist er doch, der Punkt, den ich kritisierte: klischeehafte oder voreingenommene Assoziationen sind keine Diskussionsgrundlage, sondern das ist bescheuert.
Da kannst Du Dir ja vorstellen, dass mich Aussagen nach dem
Bauplan „in der DDR war alles besser (bis auf die Staatsform)“
zum Widerspruch reizen.
Das tue ich doch nicht. Ich zeige an meinen Lebenserfahrungen, wie es gewesen ist. Daß ich das Bildungssystem der DDR aus subjektiven und objektiven Überlegungen heraus für weit, weit überlegen halte, ist nicht schwer zu erraten; ansonsten äußere ich mich aber zur DDR kaum. Wo Du da „in der DDR war alles besser“ entfernt ableiten kannst, ist mir ein Rätsel. Das ist nicht mein Standpunkt. :-/
Tschüß