Ich meine allein die Aussprüche „Auge um Auge - Zahn um Zahn“ und „Wenn er dich schlägt halte ihm auch die andere Wange hin“ wiedersprechen sich ja zutiefst. Gibt es da von Seiten der Kirche eine Regelung wie mit den Wiedersprüchen innerhalb der Bibel umgegangen wird?
Dank & Gruß
Nein, da ist kein Widerspruch, da die Kontexte ganz verschieden sind. Das Talionsprinzip des AT, das schon lange vorher, in der Gesetzgebung des Hammurabi z.B., Geltung hatte, bezieht sich auf die Sphäre der Rechtsprechung, das ´Feindesliebe´-Prinzip auf die private Sphäre, also den privaten Umgang einer Person christlichen Glaubens mit anderen, ihm real oder vermeintlich feindlich gesinnten Personen.
Dass das Feindesliebe-Gebot von der Jesus-Figur selbst nicht immer eingehalten wird, zeigen einige drastisch-aggressive Äußerungen, z.B. jene, in der JC die Pharisäer als „Natterngezücht“ beschimpft und ihnen Höllenqualen bzw. Qualen in der Gehenna androht.
Chan
Ja? Aber warum sollte man im Privaten anders handeln als im Juristischen? Das macht doch gar keinen Sinn? Müsste nicht Beides (innerhalb einer Glaubensrichtung) einer moralischen Grundvorstellung unterliegen?
Oh das wusste ich gar nicht hast du vlt. die genau Stelle für mich?
Auge „für“ Auge …
Wenn du mal Matth 5.38 ff nachliest, dann siehst du, daß die beiden Aussagen zwar konfrontiert werden („zwar … aber“), aber nicht als ein Widerspruch. Allerdings wird das nur verständlich, wenn man weiß, daß die gewöhnliche deutsche Übersetzung „Auge um Auge …“ falsch ist. Die sogenannte „Einheitsübersetzung“ geht an dieser Stelle mal ausnahmsweise mit gutem Beispiel voran. Es heißt korrekt nämlich „Auge für Auge, Zahn für Zahn“.
Und dies ist ein Grundsatz schon der sehr frühen israelitischen (= vor-exilischen) Rechtsprechung, der in derselben Form auch bei den unmittelbren Nachbarn der israelitischen Stämme galt, in der zeitgenössischen kanaanäischen Hochkultur von Ugarit und generell wahrscheinlich auch in Kanaan überhaupt. In der Torah wird er in 2. Mose 21.23 ff formuliert und dort auch näher erläutert. Es geht darum, daß die Vergeltung (bzw. das Strafmaß) für ein Vergehen dem Vergehen angemessen sein soll.
Der hebr. Text lautet dort (Vers 24)
עין תחת עין שן תחת שן יד תחת יד רגל תחת רגל
Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß
Und das wird auch in der Septuaginta korrekt im Griechsiuchen wiedergegeben:
ὀφθαλμὸν ἀντὶ ὀφθαλμοῦ …
und auch die lat. Vulgata hat
oculum pro oculo …
In allen drei Sprachen (hebr. tachat, griech. anti, lat. pro) bedeutet das Wort „für“ im Sinne von „als Ausgleich für“. Leider hat Luther das mit seiner deutschen Übersetzung ("… um …") in die Nähe von Blutrache-Traditionen gebracht, und überhaupt in Rache-Mentalität, Blutrache war ja auch schon in der Antike - besonders in Volkstämmen um das Schwarze Meer herum, eine Tradition, wenn auch nicht auf der Basis niedergeschriebener Rechtsprechung. Aber weder bei den Israeliten, noch überhaupt bei den semitischen Völkern, und auch erst recht nicht im nachexilischen Judentum war Rache bzw Blutrache eine juristische Option.
Während aber der Satz eben ein juristischer Grundsatz ist, läßt der Autor des Matthäus-Evangeliums in der Wiedergabe der Jesus-Rede (die sogenannte Bergpredigt) dem einen moralischen Grundsatz (= eine Forderung zwischenmenschlichen Verhaltens) entgegensetzen. Ein Grundsatz, der eine Konkretisierung wiederum der ethischen Norm der Nächstenliebe (zumindest in der Formulierung der synoptischen Evangelien - das Joh-Ev formuliert das anders) ist. Damit ist gesagt, im Sinne auch vieler anderer extrem provokativen Formulierungen der Bergpredigt, daß es nicht genügt, sich bloß juristisch korrekt zu verhalten.
Da aber im Judentum juristische Grundsätze weitestgehend mit religiösen Normsetzungen zusammenfallen - die Torah ist ja in weiten Teilen ein Gesetzbuch - ist diese (und nicht nur diese) Passage in dem Text des Matthäus-Evangeliums eine extreme Herausforderung der zeitgenössischen jüdischen Zuhörer.
Noch ein Wort zu deinem „katholischen Glauben“. In der heutigen öffentlichen und journalistischen Ausdrucksweise wird „katholisch“ meist synonym mit „römisch-katholisch“ verstanden. Die Bezeichnung „römisch-katholische Kirche“ gibt es aber erst seit dem Konzil von Trient. Vormals war „katholisch“ die Bezeichnung für die westliche, lateinische Kirche - im Gegensatz gegen die östlichen Kirchen, also u.a. die griechischen, koptischen und syrischen Kirchen (in denen nicht lateinisch gesprochen wurde, aber wegen dogmatischer Differenzen). Und vordem wiederum war „katholisch“ („katholos“ = wörtlich „allgemein“) im ursprünglichen Sinne ein Attribut für die christlichen Kirchen überhaupt.
Das von dir aufgeworfene Problem, welche Rolle das AT im Christentum spielen sollte, wurde aber bereits zur Zeit des NT behandelt. Nämlich (und ausschließlich) in der paulinischen Literatur des NT. Dabei ging es aber um andere Inhalte, nicht um die spezielle Forumlierung deiner Frage.
Gruß
Metapher
Hallo,
zum Verhältnis des alten Gesetzes aus dem AT und dem neuen Gesetz des Evangeliums (im NT) gibt es selbstverständlich eine kirchliche Lehre. Man findet sie u.a. im Katechismus niedergelegt. Nur einiges daraus kurz zitiert:
„1963 Gemäß der christlichen Überlieferung ist das heilige [vgl. Röm 7,12], geistige [vgl. Röm 7,14] und gute [vgl. Röm 7,16] Gesetz noch unvollkommen. […]“
http://www.vatican.va/archive/DEU0035/_P71.HTM
„1965 Das neue Gesetz, das Gesetz des Evangeliums, ist die vollendete irdische Gestalt des natürlichen und geoffenbarten göttlichen Gesetzes. Es ist das Werk Christi und kommt vor allem in der Bergpredigt zum Ausdruck. […]“
„1967 Das Gesetz des Evangeliums „erfüllt“ [vgl. Mt 5,17-19], verfeinert, überragt und vervollkommnet das alte Gesetz. […]"
„1968 Das Gesetz des Evangeliums erfüllt die Gebote des Gesetzes. Die Bergpredigt schafft die sittlichen Vorschriften des alten Gesetzes keineswegs ab und setzt sie nicht außer Kraft, sondern offenbart die in ihm verborgenen Möglichkeiten und läßt aus ihm neue Forderungen hervorgehen; das neue Gesetz offenbart die ganze göttliche und menschliche Wahrheit des alten Gesetzes. Es fügt ihm nicht neue äußere Vorschriften hinzu, sondern erneuert das Herz, die Wurzel der Handlungen; hier wählt der Mensch zwischen Rein und Unrein [vgl. Mt 15,18-19]
und hier bilden sich der Glaube, die Hoffnung und die Liebe und mit ihnen die anderen Tugenden. So bringt das Evangelium das Gesetz zur Vollendung, indem es fordert, vollkommen zu sein wie der himmlische Vater [vgl. Mt 5,48] und der göttlichen Großmut entsprechend den Feinden zu vergeben und für die Verfolger zu beten [vgl. Mt 5,44].“
http://www.vatican.va/archive/DEU0035/_P72.HTM
Darüber hinaus sind viele kultische, Reinheits- und Speisegesetze des AT für Christen nicht mehr gültig: Denn auf sie kommt es nicht an. Das sogenannte Apostelkonzil von Jerusalem (Apg 15) hat den „Heidenchristen“ (also den zum Christentum bekehrten Heiden) „nur“ geringe Auflagen gemacht: „28 Denn der Heilige Geist und wir haben beschlossen, euch keine weitere Last aufzuerlegen als diese notwendigen Dinge: 29 Götzenopferfleisch, Blut, Ersticktes und Unzucht zu meiden. Wenn ihr euch davor hütet, handelt ihr richtig. Lebt wohl!“ Auch Christus hatte bereits darauf hingewiesen, daß nicht das, was in den Menschen durch den Mund hineinkommt, ihn unrein macht, sondern das, was aus dem Mund des Menschen herauskommt (Mk 7,19). Paulus hatte darauf hingewiesen, daß es völlig törischt sei „wegen Speise und Trank oder wegen eines Festes, ob Neumond oder Sabbat“ (Kol 2,16) großes Aufheben zu machen. Der Sabbat wurde später gänzlich durch den Sonntag verdrängt, ohne daß man sich wegen des Sabbatgebotes in den Zehn Geboten versündigen würde.
Beste Grüße